Fischfabrik

Von Lucy Fricke.
Ich versuche mich zu erinnern an das siebzehnjährige Mädchen, das in der Fischfabrik stand. An eine Jugend, die nichts anderes war als ein Absturz.

Online seit: 14. April 2021
Lucy Fricke © Susanne Schleyer / autorenarchiv.de
Lucy Fricke: Die Angst vor dem Absturz ist eine andere, wenn man von dort unten kommt. Foto: Susanne Schleyer / autorenarchiv.de

Es soll keinen Verrat geben, kein Selbstmitleid, keinen falschen Stolz. Ein kluger Schriftsteller sagte mir einmal, die besten Texte schreibe man, nachdem die Eltern tot sind, und wahrscheinlich stimmt das. Ich habe den Fehler gemacht, zu denken, über die eigene Herkunft ließe sich leicht schreiben. Vielleicht wäre das so, wenn ich rücksichtslos sein könnte und wenn ich mich nicht so weit von meiner früheren Welt, meinem früheren Ich entfernt hätte. Aber dann wäre niemand auf die Idee gekommen, mich um einen solchen Text zu bitten, dann würde ich überhaupt nicht schreiben, sondern immer noch in einer Fischfabrik in einem Hamburger Randbezirk stehen. Erst jetzt, da ich glaube, dem entkommen zu sein, den sogenannten Aufstieg geschafft zu haben, wage ich es. Jetzt, da ich eingeladen werde zu Empfängen, Preisverleihungen, Dinnerpartys, bei denen das Gefühl des Fremdseins trotzdem nicht verschwindet. Ich traue ihm nicht, dem Platz, auf dem ich sitze, unbedingt sitzen wollte.

Jeden Morgen stand das Mädchen um sechs Uhr in der Fabrik, panisch vor Angst, so zu sein wie all jene, mit denen es verwandt war.

Ich versuche mich zu erinnern an das siebzehnjährige Mädchen, das in der Fischfabrik stand. An eine Jugend, die nichts anderes war als ein Absturz, von dem ich nur in Fetzen berichten kann. Mir ist die Chronologie abhandengekommen, als wären jene Jahre ein Strudel, aus dem nur ab und zu mein Kopf auftaucht. Nur von diesen Momenten kann ich erzählen. Es gibt keine Fotos dieser Jugend. Als hätte sie im Verborgenen stattgefunden, auf dieses Mädchen hat niemand eine Kamera gerichtet. Es gibt auch keine Freunde aus der Zeit, ich habe irgendwann entschieden, alles und alle hinter mir zu lassen. Ich habe das vollzogen, was man einen Schnitt nennt. Mein Leben zerfällt in zwei Teile.

* * *

In Gummistiefeln und mit schwerer Plastikschürze starrte das Mädchen in diesen riesenhaften Kübel voller Frutti di Mare. Es stach eine kleine Schaufel hinein und begann die vorbeifahrenden 100-Gramm-Schalen zu füllen. Neben ihm das Fließband, vor ihm 200 Kilo Meeresgetier. Das Schlimmste war nicht der Ekel, das Schlimmste war die Angst, dass alles so bleiben würde, wie es in diesem Moment war. Das Mädchen machte diese Arbeit nicht, um sein Taschengeld aufzubessern, um im Sommer nach Spanien in den Urlaub zu fahren. Sondern weil es nichts anderes konnte – weil es mitten im Leben stand, ohne Ausbildung und Schulabschluss. Weil es keine Richtung mehr sah, in die es hätte gehen können. Das Mädchen fühlte sich genauso erloschen wie all die Menschen, die es bisher verachtet hatte. Es verstand, dass stumpfe Arbeit die Kraft besaß, einen komplett auszuschalten, so mürbe zu machen, dass man sogar den Gedanken daran verlor, etwas zu ändern. Jeden Morgen stand es um sechs Uhr in der Fabrik, panisch vor Angst, so zu sein wie all jene, mit denen es verwandt war. Angst, dass sich nie etwas ändern würde, dass es ein Entkommen nicht gab.

Eine Variante jener Angst treibt mich heute noch um, als könnte ich jederzeit wieder dort stehen. Als könnte sich das jetzige Leben als Missverständnis oder Illusion herausstellen, als könnte ich alles Erreichte jederzeit wieder verlieren, als würde es mir am Ende gar nicht gehören. Ein einziger falscher Schritt, eine falsche Entscheidung, und ich binde mir wieder die Plastikschürze um. Die Angst vor dem Absturz ist eine andere, wenn man von dort unten kommt.

* * *

Wenn ich mich an jenes Mädchen erinnere, denke ich das Wort ausgeträumt. Es hat sich ausgeträumt, kleine Dame. Ich weiß nicht, ob jemand diesen Satz zu mir gesagt hat, ob ich ihn mir selbst gesagt habe, jedenfalls fühlte ich mich damals so. Willkommen in der Realität, willkommen an dem Platz, der dir zusteht. Diese Angst, dass das stimmte, dass mehr einfach nicht drin war. Angst kann einen lähmen, sie kann aber auch der Beginn eines Aufbegehrens sein. Ein Anlass zur Flucht.

Damals habe ich meine Kraft überschätzt, vielleicht auch nur die Widrigkeiten unterschätzt, die zahllos sein können bei dem Versuch zu entkommen. Hätte ich gewusst, wie schwer es sein würde, wäre ich vielleicht geblieben, und das wäre mein größter Fehler gewesen.

Es war ein Nachmittag im Winter, als das Mädchen davonlief, weg von der Gewalt, dem Schnaps und dem Unsagbaren, wie es schon oft davongelaufen war, in einem Park die Nächte verbracht hatte, bis die Polizei es aufgriff und in den Wagen bugsierte. Die Mutter es abholte vom Revier, wütend, verzweifelt und irgendwann nur noch stumm. Doch jetzt war das Mädchen sechzehn Jahre alt geworden, und es rannte los, wusste nicht, wohin, schlief auf irgendeinem Sofa, in seinem Schlafsack auf dem Boden eines fremden Zimmers, in Wohnungen von Familien, die ihre Ferien im Süden verbrachten, manchmal blieb nur der Park oder der Tresen einer Bar, die niemals schloss.

Das Mädchen verstand langsam, dass ein Absturz auch nur die logische Folge von Abläufen war, jeder Absturz war ein Prozess, doch was es nicht verstand, war die fehlende Kontrolle, der Verlust der Disziplin, die es immer gehabt hatte, die Erste in der Familie, die aufs Gymnasium ging, eine Streberin, allein in ihrem Zimmer, die sich immer mehr entfernte von den Menschen in den anderen Zimmern, die fest daran glaubte, dass sie mit besten Noten abschließen und an die Uni gehen würde.

Das Mädchen, das sich für etwas Besseres gehalten hatte, sah sich jetzt beim Fallen zu.

Jeden Tag war es mit seinem großen Rucksack in die Schule gegangen, immer öfter viel zu spät, dann tagelang gar nicht, zu müde war es von den Jobs, abends die Küche eines Restaurants auf St. Pauli, nachts eine McDonald’s-Filiale am ZOB.

Von den Eltern gab es kein Geld, die Mutter konnte nicht, der Vater wollte nicht, und so schnell wurden keine Eltern verklagt. Das Jugendamt hatte mit den Schultern gezuckt und gesagt: Bis wir das alles durchhaben, sind Sie volljährig. Das Mädchen war nie wieder hingegangen.

Ich erinnere mich an Monate der Wut, eine unkontrollierbare Wut, die sich auf den Straßen, in Kämpfen gegen das System und gegen die Staatsgewalt entlud, es wurden Steine geworfen und Autos angezündet. Es war ein Hass auf Institutionen, zu denen auch die Familie zählte. Ein Hass, der aus Hilflosigkeit erwuchs, aus dem Gefühl, längst nicht mehr dazuzugehören, nie dazugehört zu haben. Wenn man einmal aus der Kurve fliegt, lassen sie einen nicht so einfach mehr rein. Niemand fragt nach den Gründen, wenn du dich nicht anständig benimmst.

***

Noch heute erkenne ich mich in jedem, der auf seinem Schlafsack am Straßenrand oder in U-Bahnhöfen hockt und nach Geld fragt, die jungen und die alten Frauen, und immer denke ich: Das bin ich gewesen. Das könnte ich sein. Warum bin ich es nicht?

Ich werde die Verwunderung nicht los, die Distanz zu dem, was ich bin, und dem, was ich war, und vielleicht auch zu der Welt im Ganzen, als hätte ich keine Basis, keine Wurzeln, keinen Halt. Ich stehe immer ein wenig staunend und irritiert am Rand mit einer sanften Ungläubigkeit, und seltsamerweise verdiene ich genau damit mein Geld.

* * *

An den Raum, in den man mich einlud, kann ich mich nicht erinnern, nur dass die Tische da drinnen zu einem Quadrat angeordnet waren und das Mädchen an einer Seite Platz zu nehmen hatte, die Lehrer auf der anderen Seite kamen ihm wie Figuren aus einem fernen Leben vor. Es wird der Direktor gewesen sein, der dem Mädchen mitteilte, dass es wegen Fehlstunden der Schule verwiesen wurde, es waren 185 Stunden in einem halben Jahr, und es hatte Warnungen gegeben, immer wieder, die hatte es gehört, gelesen und verstanden – es hatte nur nichts ändern können. Ihm war die Kraft ausgegangen. Nicht mal mehr ein Jahr bis zum Abitur, und jetzt verließ es die Schule ohne Abschluss. Man wünschte ihm alles Gute.

Eine unkontrollierbare Wut, die sich auf den Straßen, in Kämpfen gegen das System und gegen die Staatsgewalt entlud, es wurden Steine geworfen
und Autos angezündet.

Woran ich mich heute noch erinnern kann, ist ein überwältigendes Gefühl von Trotz. Eine wütende, bockige Energie. Ein einziges: Das wird euch noch leidtun!

* * *

Ich erinnere mich an dieses Gefühl so genau, weil es mich seitdem nie verlassen hat. Noch immer reagiere ich auf Ablehnung, Scheitern,