Himmeln und Würmeln

Wie sich Thomas Mann zum Goethe des 20. Jahrhunderts stilisierte. Von Leopold Federmair

Online seit: 30. Juli 2025

Ironie ist das Körnchen Salz, durch welches das Aufgetischte überhaupt erst genießbar wird.“ Mit dem Goethe-Sigel versehen, flattert dieser Satz in tausendfacher Wiederholung als geflügeltes Wort durch das Internet. Es handelt sich aber nur um eine der vielen, scheinbar unausrottbaren Enten im Netz, denn der Satz stammt von Thomas Mann. Der Nachfolger hat ihn in seinem Roman Lotte in Weimar dem großen Vorläufer untergeschoben. Wer ein wenig mit Manns Werk vertraut ist, wird hier seine Handschrift erkennen. Erzählironie hatte er zum Katalysator seines gesamten Schaffens erklärt. Mann ist Goethe, wollte schon in jungen Jahren der neue Goethe werden. Doch er ist auch zahllose andere seiner Figuren, ob sie nun halb historisch oder frei erfunden sind. Überall hat er etwas von sich hineingetan, und der Leser, sofern er Manns Biographie kennt, wird überall etwas von ihm erkennen, selbst in gegensätzlichen Figuren. Der Begriff „Autofiktion“ wurde lange nach Manns Tod erfunden, doch er passt wie angegossen auf ihn. Ein Konfektionsbegriff, zugegeben: trifft auf die meisten Werke der meisten Autoren zu.

„Durchlebte“ Widersprüche

Vereinfacht gesagt heißt Ironie im Thomas Mann’schen Verständnis, dass in der Erzählwelt unterschiedliche Positionen gleichberechtigt sind und einander die Waage halten. Keine Figur ist vollkommen im Recht, jede hat etwas Bedenkenswertes zu sagen, auch in Dummheiten steckt oft noch ein Körnchen Wahrheit. Exemplarisch hat Mann dies im Zauberberg vorgeführt, doch es gilt von den Buddenbrooks bis zum Felix Krull für alle seine Romane und größeren Erzählungen. Manchmal, etwa in Der Tod in Venedig, sind die Gegensätze, um die es ihm zu tun ist, in eine einzige Figur verlagert. Und auch die umgekehrte Bewegung findet statt: Was der vielseitige Thomas Mann in sich trägt, oft schmerzliche, zweifellos „durchlebte“ Widersprüche, wird im Roman nach außen verlagert und auf zwei oder mehr Figuren verteilt. Gibt es etwas wie einen Grundwiderspruch? Im Frühwerk heißt das Gegensatzpaar „Geist (oder Kunst) und Leben“, erzählexemplarisch und mit melancholischem Basso continuo abgehandelt in Tonio Kröger, doch später gesellen sich andere Widersprüche hinzu oder ersetzen den ersten, der übrigens an das von Sigmund Freud kreierte Paar „Ich und Es“ erinnert – von daher Manns lebenslanges Interesse an Freud, dessen Theorie auf den ersten Blick gar nicht zu ihm zu passen scheint. In den von Schopenhauer beeinflussten Buddenbrooks geht es um Wille und Vorstellung, im Zauberberg um Aufklärung versus Mystizismus, im Doktor Faustus um menschenfreundliche Liebe versus Streben nach dem Absoluten oder auch, denn in den Romanen stehen die Widersprüche oft schräg zueinander, um künstlerische Radikalität versus bürgerliche.

Biographisch betrachtet ist der Grundwiderspruch aber ein anderer. Es besteht kein Zweifel, dass