Neben seiner Lyrik und Übersetzungsarbeiten legt Alexandru Bulucz nun erstmals gesammelt in einem Band rund einhundert Texte vor, die seine enorme Kompetenz und Weite als Literaturkritiker zeigen. Es finden sich darunter Rezensionen, Interviews, Porträts, aber interessanterweise auch Notate und Kurzkommentare zu einzelnen Gedichten.
Diese Mischanthologie aus Kurzprosa bildet für jeden Leser, der die zeithistorischen Umwälzungen der Gegenwart in ihren literarischen Konkretionen zu begreifen versucht, ein Werk von außerordentlichem Interesse. Denn hier verbürgt ist die Stimme eines Autors, der nach dreißig Jahren Wende erst mit seinem Denken ansetzt: Alexandru Bulucz ist daran interessiert, die Literatur im Jetzt neu auszuloten.
Geboren 1987 in Alba Iulia, Rumänien, emigriert Alexandru Bulucz mit dreizehn Jahren nach Bayern. In seinem dritten Gedichtband Stundenholz (2024) erfahren wir vom Trauma des Abschieds aus Rumänien, davon, wie ihn seine Mutter – den Vater mit den beiden Schwestern verlassend – zunächst im Hof der Großmutter in Rumänien zurücklässt. Dieses „Urtrauma“ durchzieht später seine literarische Arbeit: Der Knabe reist um die Jahrtausendwende allein in einem Reisebus aus der Bukowina an den Weißwurstäquator, dessen Sprache er erst mühsam, dann aber konsequent bis in die raffinierteste poetische Virtuosität hinein meistern wird. Sicher, auch in Bayern gehen die Uhren anders, doch die Wunde des Abschieds und die Mühe, sich in einer fremden Sprache neu zu beheimaten, prägen eine Sichtweise, die seine Texte zum Kompass und zur Katasterkarte zugleich werden lässt.
Aus dieser biografischen Erfahrung wächst seine literaturkritische Perspektive: sensibel für Vulnerabilität, Emigration, prekäre Ästhetiken und Assimilationsdynamiken. Doch sie bleibt nicht stehen, sondern entwirft eine fundamental neue Sichtweise. Diese dynamisiert die europäischen und transatlantischen Einsichten aus porös gewordenen Literaturtraditionen zu einer starken Suchbewegung nach einer zeitgemäßen Neuverortung dessen, was Literatur bewirkt, erzählt und ist.
Er entwickelt dabei faszinierende Zugänge etwa zur israelischen Autorin Agi Mishol oder der deutsch-kurdischen Autorin Ronya Othmann. In der Auseinandersetzung mit Autoren und Autorinnen wie Dilek Mayatürk, Sam Zamrik, aber auch Lars Gustafsson stellt er die Frage nach der Verortung von Stimme und Sprache auf prägnante Weise neu. Sein gesamteuropäischer und transatlantischer Ansatz ist nicht schon mit E.E. Cummings, Eugène Ionesco oder Paul Celan erschöpft, sondern exerziert diesen globalen Blick auch mit Autor:innen wie Jayne-Ann Igel oder Marcus Roloff.
Natürlich geschieht diese Auseinandersetzung nicht im Vakuum. Uljana Wolf etwa arbeitete in ihrem Essayband Etymologischer Gossip (2021) mit einem eher sprachbezogenen Interesse an dem, was sie einst in ihren Prosagedichten als ihre „schönste Lengevitch“ bezeichnet hatte. Auch essayistische Neubestimmungen der Literatur im Lichte einer multipolaren Welt sowie die daraus neugelagerte Entscheidungsmächtigkeit loteten etwa Essays von Ilja Trojanow oder Robert Menasse aus. Scharf und polemisch – auf eine schnappatmende digitale Vernunft hin – entwarf Eva Menasse (Alles und nichts sagen. Vom Zustand der Debatte in der Digitalmoderne, 2023) eine neue Essayistik.
Diese Ansätze unterscheiden sich dramatisch von den staatstragenden Inszenierungen, wie sie etwa bei den Reden zum Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung stattfinden, zuletzt bei Alhierd Bacharevič. So wichtig diese Art von Veranstaltungen sein mögen: hier geht es oft weniger um Literaturkritik als um das kulturpolitische Rampenlicht. Das ist sicherlich wichtig, aber nicht sicht- und stilprägend.
Bulucz kennt diese Kontexte aus nächster Nähe. Als Mitglied im Board von PEN Berlin – und schon bei der Gründung der Organisation – hat er vehemente Debatten geführt. Er weiß, wie zermürbend es ist, diskursive Räume offenzuhalten, die zugleich auch maximale Kontroverse ermöglichen, ohne bei tiefen, emotional verankerten Überzeugungen aus dem Ruder zu laufen. Und er hat erfahren, welche Konsequenzen ein fehlgeleiteter Pazifismus im deutschen Literaturbetrieb entfalten kann: etwa als er sich destruktiv gegen Deniz Yücel richtete, der mit enormem persönlichem Einsatz klare Positionen gegen Putins Imperialismus einforderte.
Es geht also um ein ausdauerndes Bemühen um einen neuen Stil – einen Stil, der nicht deduktiv aus dominanten Ideologien hergeleitet oder von Institutionen zum Selbsterhalt kurzfristig privilegiert wird. Es geht Bulucz um eine Haltung, die Literatur nicht bloß aus informierter Beflissenheit, müder Kontextualisierung oder opportuner Nobilitierung der eigenen Moral betrachtet, sondern sie in ihrer weltentwerfenden, weltverwurzelten, wehrhaften wie auch künstlerisch labilen Dimension erkennt – um dann ein gültiges Urteil über sie zu fällen. Denn ein gutes kritisches Urteil verhält sich zur Literatur wie der Schleifstein zum Schwert. Und dazu braucht es sicheren Umgang nicht nur mit dem Neuen und Neuartigen, sondern auch eine kritische Einwohnerschaft in der Tradition.
Leben und Literatur
Alexandru Bulucz steht nicht zwischen Traditionen, sondern in ihnen – mit dem Wissen, dass etwas geschehen muss, damit Kritik Gültigkeit hat. Vielleicht ist es eine Lust und Heiterkeit, im Malstrom dieser Traditionen mit beiden Füßen zu stampfen. Dabei schöpft Bulucz aus jener Energie, die man einen postperegrinatischen Phantomschmerz nennen könnte – eine eigenartige Sehnsucht nach der Sehnsucht.
So finden sich in den rund 100 Texten eine Wanderschaft, die wagt, getrieben ist und viel riskiert. Darunter Interviews, die mehr Gespräch und Dialog als Fragerunde sind. Schon mit den drei Bänden von „Einsichten im Dialog“ legte der Autor buchlange Interviews mit Dieter Henrich, Peter Strasser oder Hans-Jörg Rheinberger als die Gesprächs- und Dialogform vor. Diese pointierte und fragende Neugier beflügelt auch seine Essayistik.
Wer sich in diesen Essays und Interviews bewegt, übt zugleich eine neue Gangart. Man wird neu wurzeln, trotz vergifteter Böden. Exemplarisch zeigt sich das im Nachruf auf Werner Hamacher, der im Lichte der Frankfurter Schule gelesen wird, oder in einem sympathischen Gespräch mit Robert Spaemann. Bulucz bewegt sich genüsslich auf den Bruchlinien und Verwerfungen europäischer Traditionen.
Denn seien wir ehrlich: Viel zu lange war die deutschsprachige Literaturkritik eine kleindimensionierte Kartoffelernte auf dem inzwischen sauerbödig gewordenen Feld der Nachkriegsliteratur. Dreißig Jahre war sie damit beschäftigt, sich an der deutsch-deutschen „Einheit“ abzuarbeiten, ausreichend viele Perspektiven aus Mecklenburg und Sachsen zu berücksichtigen oder in Österreich die anti-heimatliterarischen Nachklänge der Aufarbeitungsliteratur zu verfolgen. Hier und da eine Stimme hervorzuheben, um das „auch“ deutschsprachig „sichtbar zu machen“. Alles löblich. Aber es fehlte – bei aller pejorativen Debatte um den bei Germanisten verpönten international style – die globale Perspektive.
In dieser deutschen Melange aus Selbstbezüglichkeit und Gönnerhaftigkeit reüssierten Stimmen, die sich durch eine „kluge“, aber routinierte Ödnis auszeichneten. Doch wie die drei epochalen Ereignisse – Covid-19, die Invasion der Ukraine und der 7. Oktober – zeigten: Die deutschsprachige Literatur war hoffnungslos insular, in einer rasant gewandelten Welt hilflos, weil sie noch zu sehr mit Retrospektiven und Jubiläen beschäftigt war. Achtzig Jahre Aufarbeitungsliteratur kippten zwischen Verständnis für Putin oder Hamas, stolperten in orientierungslose Moralismen und eierten in einer Welt, die nicht länger als ein Puppenhaus exotischer Andersheit zu „bespielen“ war. Schuld daran ist auch die Literaturkritik. Sie verzichtete auf jene Wanderschaft, die mit Kritikern wie Alexandru Bulucz stattfindet – ohne Sicherheitsgurt und Fangnetz.
Aber diese Zeit ist für Alexandru Bulucz auch eine Zeit, in der er von Frankfurt am Main nach Berlin umzieht, dort zweifacher Vater wird, zahlreiche Literaturpreise – wie etwa den Wolfgang-Weyrauch-Förderpreis (2019), den Deutschlandfunkpreis beim Bachmannwettbewerb (2022) oder den Hölty-Preis für Lyrik (2024) – erhält. Auch diese Ereignisse schärfen die Urteilskraft.
Was die Sicherheit dieses Urteils angeht, kann man z.B. in seinen Autorenporträts beobachten – etwa zu Dinçer Güçyeter, Orsolya Kalász, Mila Haugová oder Mircea Cărtărescu. Dort erkennt Bulucz nicht nur nationale Umetikettierungen dessen, was europäische Literaten seien, sondern er nimmt die literarischen Signaturen einer globalen Gegenwart wahr, in die er diese einschreibt.
Dabei idealisiert er nicht, sondern nimmt so mancher Gewohnheit die Scheuklappen ab. Wenn er über Alexander Sinowjew (1922–2006) schreibt, dann hebt er nicht dessen romantische Dissidentenrolle hervor, wie es in Deutschland brave Sozialdemokraten tun, sondern zeigt auch, wie dieser später zum verschwörungstheoretischen Schwurbler wurde. Gerade in solchen Beiträgen demonstriert Bulucz, dass er sich von einer Kritik verabschiedet hat, die nur die geläuterten Koordinaten eines Heinrich Böll liebt. Sein kritisches Auge hat einen Blick für die Produktivkräfte des Zwielichtigen, Ambivalenten, Gebrochenen. Dazu gehören etwa Texte zu Werner Söllner oder Sascha Anderson.
Denn im Wesentlichen ist sowohl der Interviewer wie auch der Essayist ein Suchender. Bulucz’ Texte zeigen, dass die Monumente des postsowjetischen Ostens im Exodus erfüllt bleiben von einer Sehnsucht nach Beheimatung in neuer Expressivität – ein postperegrinatischer Phantomschmerz. Was hier die essayistische Vernunft entwickelt, ist eine Neuverwurzelung der literarischen Stimmen in einer höchst dynamischen Tradition, in den Patterns und Muster der Gegenwart.
Alexandru Bulucz macht deutlich, dass Literaturkritik keine kommentierende Marginalie oder Fußnote zur Literatur innerhalb eines Betriebs ist, sondern eine existentielle Praxis: Sie verbindet biografische Brüche mit poetischen Neuanfängen und öffnet das Denken für globale Verflechtungen. Seine Texte zeigen, dass Kritik nicht auf die Pose der Urteilskraft reduziert werden darf, sondern als Suchbewegung gelebt wird – tastend, verletzlich, entschieden. Wer ihm folgt, begegnet einer Literatur, die sich nicht abschließt, sondern immer neu zur Welt hin aufbricht.
