Christine Lavant Preis 2023 – Laudatio auf Yevgeniy Breyger

Von Klemens Renoldner.

Online seit: 5. November 2023

Sehr geehrte Damen und Herren,

im Februar 2022 hatte der Schriftsteller einen Band mit Gedichten vollendet. Vorausgegangen waren Monate konzentrierter Arbeit. Ein Titel war gefunden: Zwischen Vogel, zwischen Stein.

Wo ist der Ort der Dichtung? Da, wo sich die Koordinaten von Organischem und Anorganischem treffen? Der Dichter – zwischen Tier und Fels gespannt?

Es war der dritte Lyrikband, den Yevgeniy Breyger zusammengestellt hatte. Auf dem Schreibtisch lagen die 64 umbrochenen Seiten, das Layout war gemacht – sorgfältig gewählt, mit gutem Grund, eine klassische Antiqua-Schrift, auch der Entwurf für das Cover existierte, darauf zu sehen: Fels und Baum und Blatt.

Innen: Ein Prolog, drei Seiten Prosa, ein stolzes Programm. In lyrisch-philosophischen Reflexionen umkreist Breyger darin Grundsatzfragen dichterischer Wahrnehmung. Was geschieht, wenn wir in den Spiegel sehen, welches Bild kommt zu uns zurück? Was prägt unseren Blick? Wie überhaupt entstehen Bilder – eines Käfers, einer Hand, eines Baumes? Was vermag Sprache? Welche Kraft, welche Kompetenz hat Literatur … heute … in Zeiten von Krieg und autoritärem Fanatismus?

2018 hatte Breyger in einem Essay geschrieben:

Das Gedicht biedert sich nicht mit tagespolitischen Inhalten und Gesellschaftskritik an, stellt sich auf keine Bühne, schreit nicht … es ist unchronologisch, multiperspektivisch … es wird vom Chaos zusammengehalten.1

Der Autor entwickelt seine Konfession mit spielerischer, wortgewandter Raffinesse – er besitzt aber auch Selbstironie und fragt sich z.B.: Trottelchen Tunichtgut Gehnichtweit, warum sind die Geister so umtriebig?

Manches darf rätselhaft bleiben, das wussten schon Heinrich Heine, Rainer Maria Rilke oder Christine Lavant.

Im Buch folgen nun zwölf Gesänge, kunstfertige Gedichte – meisterhaft in Dynamik und Rhythmus, Wortschatz und Bildhaftigkeit – sechs Strophen, sechs Zeilen – eine freie Version von Sestinen, zwar nicht streng dem jambischen Duktus folgend, mal sieben, mal neun, mal weniger Hebungen, viele Binnenreime … verblüffende motivische Verschränkungen … man könnte an Rilkes Duineser Elegien denken, an Ezra Pounds Cantos … an Giuseppe Ungaretti … und natürlich an die italienische Renaissance … an Dante, an Petrarcas Kanzonen … den Tonfall seiner Sonette …

Ein Beispiel: [Mit dem Du ist hier wohl nicht nur ein Gegenüber, sondern auch die Poesie, das Gedicht selbst gemeint]:

Als blaue Nadelspitze, kristallin, als Geisterfroschgesang
in einem unbewohnten Teich, streifst du umher und suchst
mein Spiegelbild, dich von ihm abzulösen. In Schichten
trockner Schlangenhaut gräbst Du nach Einsamkeit.
Wenn meine Schuppenhand dich greift, verstummst du
keine Regung mehr, erstarrst im abgebrochnen Laut.

Weil Du mich tragen wolltest, bin ich frei. Ich gehe langsam
auf die Knie und lege mich zu den Valenzen. Dein Körper
Speichert Dioxin, du bist ein Höllenartefakt […]

[…] Ich schenke Dir ein Schleifchen, häng es um.2

Zwölf prächtige Poeme, dazu kommen in dem Band noch Splitter lyrischer Nachtnotizen und anderes mehr.

Ja, es war schon verabredet, wann die Druckmaschinen laufen sollten, aber dann – stürzte der Plan, stürzte alles zusammen.

Denn am 23. Februar 2022 marschierten russische Soldaten über die ukrainische Grenze. Das Land sollte annektiert, ausgeplündert, die Städte zerstört, Menschen erniedrigt, getötet werden.

Russlands Krieg, der im März 2014 mit der Okkupation der Halbinsel Krim und dem Einmarsch russischer Truppen in der Ostukraine begonnen hatte, zielt seit dem 23. Februar 2023 darauf ab, das in früheren Jahren umarmte „Brudervolk“ zu vernichten.

Yevgeniy Breyger hielt sich in Frankfurt auf. In der Hand einen druckfertigen Gedichtband – als er die Nachricht erhielt, dass die Stadt seiner Kindheit, Charkiw, von russischen Raketen beschossen wurde. Er fragte sich, so lesen wir es später von ihm: Kann ich so ein Buch überhaupt publizieren? Barocke Sprache, fern vom Alltag, handwerklich Meisterklasse, mehr ist mir nicht möglich – aber dennoch kein Wort zum Krieg!3

Was vermag Dichtung? Gegen Dummheit, gegen Gewalt? Gegen die finsteren Zeiten? Was kann Literatur im Widerstand? Schriftsteller haben sich diese Frage immer wieder gestellt. Z.B. jene im Exil eines früheren Krieges. Sie kennen das Zitat:

Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist. Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt.

Und weiter heißt es:

Ich wäre gerne auch weise.
In den alten Büchern steht, was weise ist:
Sich aus dem Streit der Welt halten und die kurze Zeit
Ohne Furcht verbringen
Auch ohne Gewalt auskommen
Böses mit Gutem vergelten
Seine Wünsche nicht erfüllen, sondern vergessen
Gilt für weise.
Alles das kann ich nicht:
Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!4

Bertolt Brecht schrieb das, in seinem Gedicht An die Nachgeborenen.

Auch die ukrainische Autorin Tanja Maljartschuk spricht in ihrer Klagenfurter Rede (Juni 2023) von diesem Misstrauen … dass sie der Krieg stumm mache, dass sie das Vertrauen in die Literatur, ja auch in die Sprache verloren habe.

Und sie treffen sich: die Literatur und die Realität. Und die Realität gewinnt jedes Mal, und die Literatur verliert, denn sie bietet die Rettung für einzelne, aber nie für alle zusammen. Sie ist schön, aber hilflos wie ein Wald blühender Bäume.5

Breyger hat seinen Gedichtband Zwischen Vogel, zwischen Stein zurückbehalten, nicht veröffentlicht.

Ein Jahr darauf, im Frühjahr 2023, erschien dann ein ganz anderer Band von ihm: Frieden ohne Krieg. Das Buch beginnt mit einem rasanten Bericht über die Familiengeschichte, gehetzte, verkürzte Sätze, ein Staccato, im Jargon eines Jugendlichen. Über die Invasion und die Verbrechen deutscher Soldaten in der Ukraine, im 2. Weltkrieg, die Shoah, die Flucht, eine Tirade über Morde und Grausamkeiten von damals und heute, die demütigenden Umstände ukrainischer Flüchtlinge in Europa, und er gipfelt in der Wut über die Putinversteher und trägt eine leidenschaftliche Polemik vor gegen all diese Talkshows über den Krieg, in denen den Ukrainern gute Ratschläge gegeben werden.

Die Kritikerin Sonja Zekri schrieb in der Süddeutschen Zeitung über dieses Buch: „Das alles ist schroff tagespolitisch, nonfictional, in einer Art politischem Langgedicht mit ausgestellter Mündlichkeit erzählt und dabei doch hochartifiziell.“ Der Band sei deswegen so faszinierend, weil er, wie sie schreibt, „so viel an Schrecklichem und Schönen, an Witz und Bosheit und sinnlicher Körperlichkeit“ nebeneinander enthalte, und er „satt sei an formaler Fülle und sprachlichem Reichtum.“

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Yevgeniy Breyger wurde 1989 in Charkiw geboren. 1999 übersiedelte er mit seiner Familie nach Magdeburg, wo er Schule und Gymnasium besuchte. Er ist deutscher Staatsbürger. Seit August dieses Jahres lebt er – nach mehreren Jahren, die er in Frankfurt am Main verbracht hat – in Wien.

Nach der Matura gab es schon einmal einen Plan mit Wien, Breyger hatte einen Studienplatz an der Wiener Universität, für ein Studium der Physik – aber dann zog er die Literatur vor – zwei Jahre am Literaturinstitut in Hildesheim („Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus“), dann drei Jahre am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Er war dann noch ein Jahr an der Städelschule in Frankfurt – Hochschule für bildende Künste.

Drei selbständige Publikationen mit Lyrik: Flüchtige Monde, 2016, Gestohlene Luft 2020 , Frieden ohne Krieg 2023. Es gibt auch noch ein kleines Lyrikbändchen Kryptomagie (2022).

Der Autor hat mehrere Auszeichnungen erhalten, so etwa den Leonce & Lena-Preis in Darmstadt, den Lyrikpreis München, in Österreich den Lyrik-Preis des Mondseelandes und den Manuskripte-Preis des Landes Steiermark. Er arbeitet zur Zeit an einem Roman, der 2025 im Suhrkamp-Verlag erscheinen soll.

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Ich habe zu Beginn über einen nicht veröffentlichten Gedichtband deswegen so ausführlich gesprochen, weil diese Geschichte ein Beispiel dafür ist, dass Literatur nicht aus einem ahistorischen Nirwana entspringt – und auch, weil Sie ihn nicht lesen können – ich aber schon.

Und hier sind – wie sich das für eine Laudatio ziemt – noch ein paar zweckdienliche Hinweise zu jenen beiden früheren Büchern, die für Sie erhältlich sind:

Breygers erster Gedichtband Flüchtige Monde, 2016, enthält – genaugenommen die ganze Welt – multiperspektivisch aufgenommen, vom Chaos zusammengehalten … also das Universum, Sterne wie Meteore, ein Haus, ein Zimmer, den Blick aus dem Fenster, das Licht am Abend und am Morgen, Baum und Blatt und Tier.

1000 flinke Bruchstücke, aufblitzende Lichter, alles, alles steht zu Gebote. Es heißt da: „in den Bergen gibt es Drachen, groß wie Dinos, sie retten mich.“, fünf Käfer „erheben sich aus wässrigen Untiefen“, „die letzte Sonnenblume wurde krank, sah zu Boden vor Demut“, ein Kamel, an das man sich kuschelt, sagt „Muh!“, Mephisto, General Franco, Odysseus und die Nymphen kreuzen den Weg des Beobachters, ein griechisches Rätsel mit Apollo, Hera, Artemis und all den anderen Verdächtigen wird nicht gelöst, sogar ein kleines Dramolett findet sich in dem Band.

In diesem überschäumenden, flirrenden und bisweilen auch verwirrenden Kosmos erkennen wir den stolzen Dichter, der wie der gestiefelte Kater durch die eben neu angeeigneten Ländereien schreitet. Sie bestaunt. Er erkundet das lyrische Weltgebäude. Er sagt: „Ich bin nicht farbenblind, nur stur, wenn ich vors Haus geh. Im Stursein liegt die Entscheidung zwischen ja und ja, aber wie!“

2020 erschien der zweite Band, Gestohlene Luft – gänzlich anders konzipiert. Er enthält sechs Gedicht-Zyklen, mit unterschiedlichen Bauweisen – Breyger liebt (und beherrscht) das Spiel mit unterschiedlichen Gedichtmodellen.

Erinnerungen an eine alte, ländliche Welt werden hier verarbeitet, Szenen der Kindheit, Naturbilder – Biber, Kätzchen, Kröte, Esel, Frosch und Fisch treten auf, Blumennamen werden aufgezählt, von Arnika bis Wermutkraut, natürlich gibt es auch ein Gespräch über Bäume. Oder über den Mond. Christine Lavant hätte das gefreut.

Das kann in freien Rhythmen, im Balladenton notiert sein, als Gebet, als Seligpreisung oder in volksliedhaftem Ton daherkommen, als kindlicher Auszählvers. Eine wichtige Protagonistin dieser Texte ist die Mutter. Und auch hier immer die Frage: Wo ist der Ort der Dichtung? Im Krieg ohne Frieden? In der gestohlenen Luft? Hinter dem flüchtigen Mond? – oder – Zwischen Vogel, zwischen Stein?

Lieber Yevgeniy Breyger,
wir freuen uns sehr, dass Sie heute für Ihr Werk, für ihren Eigensinn und Ihre Meisterschaft, mit dem Christine-Lavant-Preis des Jahres 2023 ausgezeichnet werden. Die Internationale Christine-Lavant Gesellschaft und ihre Jury gratulieren! Herzlichen Glückwunsch!

 

Klemens Renoldner, geboren 1953 in Schärding am Inn, ist Literaturwissenschaftler und Autor, im Frühjahr 2023 erschien sein Buch Geschichte zweier Angeklagter im Sonderzahl-Verlag Wien.