Ein alter Freund, dessen literarischem Urteil ich vertraue, empfahl mir vor einigen Jahren die Lektüre Eduard von Keyserlings. Das, da sei mein Freund sich sicher, müsse ein Werk nach meinem Geschmack sein.
Keyserling? Hatte ich noch nie gelesen, nur aus zweiter Hand etwas raunen gehört vom „baltischen Fontane“ und adeligen Impressionisten, von Dekadenzatmosphäre und Fin-de-Siècle-Stimmung. Und auch während meines Germanistikstudiums in den 1970er-Jahren war Keyserling unerwähnt und unbehandelt geblieben, galt, wenn er überhaupt als oder für etwas galt, als literarischer Snob, eine kuriose Nebenfigur der Münchner Boheme um 1900, ein trivialer Unterhaltungsonkel, der sogenannte Schlossgeschichten für höhere Töchter und adelige Witwen schrieb – soweit mein aus Halbwissen geronnenes Vorurteil.
Ich griff also durchaus skeptisch, gewissermaßen mit spitzen Fingern, zu meiner ersten Keyserling-Lektüre, der Erzählung Schwüle Tage, erschienen bei Manesse. Der Verlag muss erwähnt sein, weil die Ausgaben in der ungewöhnlich schönen, auch editorisch sehr soliden Bibliothek der Moderne der dezenten Eleganz dieser Prosa so angemessen sind: Sie passen zu Keyserlings Stil wie maßgeschneiderte, über modische Albernheiten erhabene Anzüge. Schon die ersten fünf Zeilen nahmen mich für den Autor ein. Die Eisenbahnfahrt, heißt es da, „war ganz so schwermütig, wie ich es erwartet hatte.“ Und dann folgt ein Satz, der diese Schwermut besser ins Bild setzt als jede psychologische Begrifflichkeit es vermöchte: „Es regnete ununterbrochen, ein feiner, schief niedergehender Regen, der den Sommer geradezu auszulöschen schien.“
Die Zukunft gehörte den Industrien und Fabriken, den Stahl- und Kohlebaronen, deren Hochöfen mit baltischen Wäldern befeuert wurden.
Mit jeder weiteren Seite schmolz der Schnee meiner Skepsis unter der Sonne dieser hellen Sprache, und sukzessive las ich mich durch alle erreichbaren Werke Keyserlings. Ich bewundere die stilistische Eleganz, den subtilen Humor, die durchgängig ironische Haltung, deren Spannweite von milde bis ätzend reicht. Dazu kommt ein präzises Verständnis psychologischer Vorgänge, insbesondere in der Evozierung erotischer Stimmungen, Spannungen, auch Verdrängungen. Und geradezu unübertroffen ist Keyserling als Schilderer von Landschaft und Natur. Während er die gesellschaftlichen Konventionen seiner Herkunftswelt und die psychischen Zustände ihrer Menschen fast ausnahmslos ironisch sieht, behandelt er die Landschaft mit einer unzweideutigen, liebevollen Innigkeit. Der Verfall der anachronistischen, verkalkten und verstaubten Welt des baltischen Adels steht im Kontrast zur Natur als einer quasi krisensicheren Wirklichkeit. Mögen die Tage von Keyserlings Leuten gezählt sein, das Land erscheint unwandelbar.
Und doch – selbst dies letzte Refugium der Schönheit schwindet. Zu den traurigsten, resignativsten Momenten in Keyserlings Werk zählt das wiederkehrende Motiv des Verkaufs von Wald durch den verschuldeten Landadel. Denn die Wälder waren das, was die Generationen miteinander verband. Man profitierte von dem, was die Vorfahren angelegt hatten, und man pflanzte und hegte für kommende Generationen. Das Abholzen des Waldes griff jedoch das letzte stabile, krisensichere Kapital an, ging an die Substanz. Die Kahlschläge bewiesen mit unübersehbarer Brutalität, dass Wälder und Landwirtschaft keine Lebensformen mehr boten und die Tage des kurländischen Adels gezählt waren. Die Zukunft gehörte den Industrien und Fabriken, den Stahl- und Kohlebaronen, deren Hochöfen mit baltischen Wäldern befeuert wurden.
Seinem Charme verdankte er freilich auch die Syphilis.
Im russischen Zarenreich bildete die deutschsprachige Oberschicht eine Enklave, die noch Tugenden wie Anständigkeit und Bescheidenheit und einen ästhetischen Gestaltungswillen konservierte, für die in der industriellen Hektik der Gründerjahre und dem säbelrasselnden, kriegslüsternen Lärm des deutschen Kaiserreichs kein Platz mehr war. Etwas Sanftes und Bedächtiges, etwas Träumerisches und Schwärmerisches, auch eine Ironie, die kaum je in Häme und Zynismus umschlug, prägte Charaktere, die mit Preußens Gloria und zackigen Stechschritten nichts gemein hatten.
Der Spottvers ‚Wo sich aufhört die Kultur,
Dieser Beitrag ist nur für Abonnenten zugänglich. Bitte melden Sie sich in Ihrem Konto an, oder wählen Sie eines der drei unten stehenden Abos, um sofort weiterzulesen.
Das erfolgreichste, weil intellektuell beweglichste Literaturblatt unserer Tage*
– für den Preis von einem Espresso im Monat.
Förder-Abo
€ 9,00 / Monat
(Mindestlaufzeit: 12 Monate)
- Zugang zu allen Online-Beiträgen
- Printausgabe (4 Hefte / Jahr)
- E-Paper-Ausgabe (4 Hefte / Jahr)
- 300+ Online-Beiträge / Jahr
- Online-Leseproben und Vorabdrucke
- Zugang zu E-Paper-Ausgaben im Archiv
- Zugang zu ca. 2000 Beiträgen im Archiv
- Tägliche Presseschau
- Newsletter
- Novitäten-Telegramm
- Preis-Telegramm
- Ausschreibungen
- Ausgewählte VOLLTEXT E-Books
- Ausgewählte VOLLTEXT Specials
Digital
€ 2,00 / Monat
(Mindestlaufzeit: 12 Monate)
- Zugang zu allen Online-Beiträgen
- E-Paper-Ausgabe (4 Hefte / Jahr)
- 300+ Online-Beiträge / Jahr
- Online-Leseproben und Vorabdrucke
- Zugang zu E-Paper-Ausgaben im Archiv
- Zugang zu ca. 2000 Beiträgen im Archiv
- Tägliche Presseschau
- Newsletter
- Novitäten-Telegramm
- Preis-Telegramm
- Ausschreibungen
Print & Digital
€ 3,00 / Monat
(Mindestlaufzeit: 12 Monate)
- Zugang zu allen Online-Beiträgen
- Printausgabe (4 Hefte / Jahr)
- E-Paper-Ausgabe (4 Hefte / Jahr)
- 300+ Online-Beiträge / Jahr
- Online-Leseproben und Vorabdrucke
- Zugang zu E-Paper-Ausgaben im Archiv
- Zugang zu ca. 2000 Beiträgen im Archiv
- Tägliche Presseschau
- Newsletter
- Novitäten-Telegramm
- Preis-Telegramm
- Ausschreibungen
* Saarländischer Rundfunk
FAQ
Wie kann ich ein VOLLTEXT-Abonnement verschenken?
Sie können alle VOLLTEXT-Abonnements befristet oder unbefristet verschenken. Die Mindestlaufzeit beträgt ein Jahr. Danach kann das Abonnement auslaufen oder wahlweise durch die Schenkenden oder die Beschenkten verlängert werden.
–> Bestellinformationen
Was sind E-Paper-Ausgaben?
E-Paper-Ausgaben entsprechen 1:1 der gedruckten Zeitschrift. Abonnenten erhalten nicht nur Zugriff auf die jeweils aktuelle Ausgabe, sondern auch auf ältere Hefte im Archiv (gegenwärtig alle Ausgaben seit 2016).
Gibt es Kündigungsfristen?
Nein, Sie können das Abonnement jederzeit formlos per E-Mail oder Post kündigen.
Ich bin bereits Abonnent der Printausgabe und möchte Zugang zu den Online-Beiträgen, wie komme ich dazu?
Wenn Sie bereits über ein Online-Konto auf Volltext.net verfügen, können Sie mit Ihrem bisherigen Passwort auf die Beiträge hinter der Paywall zugreifen.
Ich kann die heruntergeladenen E-Paper-Ausgaben nicht öffnen.
Die E-Paper-Ausgaben sind mit einem Passwort geschützt. Informationen zum Passwortschutz finden Sie nach der Anmeldung auf der Startseite Ihres Online-Kontos.
Wo finde ich mein Online-Konto?
Am oberen, rechten Rand des Bildschirms finden Sie einen Link „Mein Konto“, über den Sie sich einloggen können.