„Schlammbad des schlechten Geschmacks“

Lektürenotizen von Klaus Modick zu Büchern von Walter Benjamin, Astrid Lindgren, Ernst Jünger, Elizabeth von Arnim, Lion Feuchtwanger u.a.

Online seit: 27. April 2022

Walter Benjamin:
Berliner Kindheit um neunzehn­hundert

Walter Benjamin © anonym
Walter Benjamin, 1928.

„Wie eine Mutter, die das Neugeborene an ihre Brust legt, ohne es zu wecken, verfährt das Leben lange Zeit mit der noch zarten Erinnerung an die Kindheit.“ Mit diesen Worten beginnt eins der schönsten Erinnerungsbücher, die je in deutscher Sprache geschrieben wurden. Walter Benjamin, der einer jüdischen Familie wohlhabender Kunsthändler entstammte, versuchte darin „der Bilder habhaft zu werden, in denen die Erfahrung der Großstadt in einem Kinde der Bürgerklasse sich niederschlägt“ – und zwar zu einer bestimmten Epoche, der Wende zum 20. Jahrhundert. Dessen Katastrophen, denen Benjamin zum Opfer fiel, als er sich auf der Flucht vor den Nazis das Leben nahm, liegen wie drohende Schatten über dem Text. Und in der Tat haben Ort und Zeit nirgends präziser und zugleich poetischer zu sich selbst und zueinander gefunden als in diesem Text. Als ich vor langer Zeit mit ihm Bekanntschaft machte, kam es mir vor, als ob nicht nur meine eigene Kindheit, sondern alle Kindheiten darin eingesammelt waren. Die unvergleichliche Synthese aus genauem Denken und schönem Ausdruck versetzte mich in eine Atmosphäre, in der Entzücken und Traurigkeit derart nahtlos ineinander griffen, dass für Sentimentalität kein Spalt mehr übrig blieb. „Nie wieder können wir Vergessenes ganz zurückgewinnen. So kann ich davon träumen, wie ich einmal das Gehen lernte. Doch das hilft mir nichts. Nun kann ich gehen; gehen lernen nicht mehr.“ Weil ich an solchen Sätzen zum ersten Mal begriff, dass es keine wahre Kindheitserinnerung gibt, die nicht zugleich mit der Erfahrung des Verlustes korrespondiert, bin ich als Leser dieses Buchs auch eigentlich erst erwachsen geworden.

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Henri-Pierre Roché:
Jules und Jim

Erfolgreiche Literatur wird gern, wenn auch nur selten gut, verfilmt. Noch seltener kommt es allerdings vor, dass einem kaum beachteten Roman erst über den Umweg seiner Verfilmung die verdiente Wahrnehmung und Würdigung zuteilwird. So ein rezeptionsgeschichtlicher Glücksfall ist Henri-Pierre Rochés Jules und Jim. Denn der französische Regisseur François Truffaut, damals am Beginn seiner Karriere, fischte das Buch im Jahr 1955 aus der Grabbelkiste eines Pariser Buchhändlers, „verliebte sich von den ersten Zeilen an rettungslos in diese Prosa“, verlieh dieser Liebe schließlich in seiner Verfilmung von 1962