Antifaschist, grosso modo

Nach zwanzig Jahren Arbeit liegt die historisch-kritische Ausgabe der Werke Ödön von Horváths seit Kurzem geschlossen vor. Ändert sie unser Bild des Autors? Herausgeber Klaus Kastberger im Gespräch mit Thomas Keul.

Online seit: 19. August 2024

VOLLTEXT  Neunzehn großformatige Bände, dreißig  Personenjahre Arbeitszeit, 1,3 Millionen Euro Forschungsgelder – die bei deGruyter erschiene­ne historisch-kritische Wiener Ausgabe sämtlicher Werke Ödön von Horváths ist ein editionsphilologisches Mammutprojekt. Wie kam es zu diesem Unternehmen, der Nachlass von Ödön von Horváth lag ja zuerst in Berlin?

KLAUS KASTBERGER Der Nachlass wurde Anfang der 1960er-Jahre, als niemand mehr erwartet hat, dass mit dem Werk von Horváth noch viel zu machen ist, dem Archiv der Akademie der Künste in Berlin übergeben und Lajos von Horváth, Ödöns Bruder, hat seine Nachlasspflege damals auch eingestellt. Wenig später, Ende der 1960er-Jahre, ist Horváth allerdings fulminant wiederentdeckt worden, seine Stücke wurden rauf und runter gespielt und Jugend ohne Gott zu einem Klassiker der Schullektüre. Ende der 1980er-Jahre wollten die Erben daher den Bestand zurück, mit der Begründung, es habe sich nur um eine Leihgabe gehandelt und der Bestand sei nicht sorgsam behandelt worden – womit sie Recht hatten. Man hatte den Bestand in Berlin völlig willkürlich umgeordnet und zum Teil sogar in die Dokumente hineingeschrieben. Die Erben haben schließlich vor Gericht Recht bekommen und der Nachlass sollte bei Sotheby’s in London versteigert werden. Er wurde dann aber vorher von der damaligen Wienbibliothek und dem im Entstehen begriffenen Literaturarchiv in der Österreichischen Nationalbibliothek um sieben Millionen Schilling erworben – ein relativ günstiger Preis angesichts der Reichhaltigkeit dieses Bestandes.

„Akten edieren gehört zum Schwierigsten, was es gibt.“

VOLLTEXT Von welchem Umfang sprechen wir?

KASTBERGER Es waren um die 5.000 Seiten. Wobei das Wesentliche daran war, dass man die Entstehung der Texte sehen konnte. Gerade bei den besten Texten, den  Neuen Volksstücken, gibt es ein  unglaublich umfangreiches werkgenetisches Material – erste Notizen, Zwischenfassungen, Korrekturprozesse, handschriftliche Seiten, Typoskripte, die vielfach geklebt und geschnitten waren. Man hatte die Entstehung der Werke also förmlich vor Augen. Das ist unter anderem deshalb interessant, weil in der Forschung bis dahin eher der Eindruck geherrscht hat, Horváth schaue quasi den kleinen Leuten aufs Maul, er wäre auf dem Oktoberfest unterwegs, beobachte da genau und spiegle in seinen Texten  wider, wie die Leute wirklich reden. Im Nachlass  sieht man aber, dass gerade jene Stellen, wo man das Gefühl hat, da redet eine reale Figur aus Fleisch und Blut, die konstruiertesten Teile sind, dass es da lange Anläufe gab und dass die Pointenhaftigkeit dieser Texte in einem sehr aufwendigen und präzisen Prozess gewonnen werden musste. Es gibt himmelhohe Unterschiede zwischen den frühen Fassungen und dem, was als fertiges Stück oder fertige Prosa  bei Horváth übrigbleibt.

Ödön von Horváth © Wiener Ausgabe (Bd. 18, S. 290)
Ödön von Horváth versuchte auch nach 1933 noch im deutschen Kulturbetrieb Fuß zu fassen. Foto: Wiener Ausgabe (Bd. 18, S. 290)

VOLLTEXT Wie kommt es, dass ausgerechnet der Nachlass eines so jung verstorbenen Autors so reichhaltig ist?

KASTBERGER Es war vermutlich ein großes Glück, dass sich Ende der Zwanzigerjahre der Leiter der Monacensia in München mit der Frage an Horváth gewandt hat, ob er nicht über Materialien verfüge, die seine Produktion dokumentieren. Dieser Brief war vermutlich mit ein Grund dafür, dass Horváth ab diesem Zeitpunkt begonnen hat, diese Materialien überhaupt aufzuheben. Horváth hat diese Sachen bei seinen Eltern in München gelassen, die sie während des Krieges in einem Bankschließfach deponiert haben. So kam es, dass dieser Bestand überhaupt entstanden ist und dass er die Zeit des Nationalsozialismus sicher überdauert hat.

VOLLTEXT Wie hat man sich den Beginn der Arbeit daran vorzustellen? Diese 5.000 Seiten sind jetzt in Schachteln angeliefert und …
Kastberger Es war sehr, sehr schwierig den Bestand zu verstehen. Die Berliner hatten ihn völlig umgelegt, weil sie schon so etwas wie eine genetische Reihe etablieren wollten. Sie hatten ein kompliziertes Ablagesystem in Mappen geschaffen, um die Entstehungsprozesse der Texte nachvollziehbar zu machen. Diese Prozesse konnten in Wahrheit allerdings nur nachvollzogen werden, wenn man die Beschriftung dieser Mappen gekannt hat. Nachdem die Berliner aber angefressen waren auf die Wiener, haben sie nur den Bestand selbst geliefert und nicht diese Mappenbeschriftungen. Gott sei Dank hatte eine Praktikantin den Prozess aber anhand eines Beispiels publiziert, sodass wir verstanden haben, wie die Berliner prinzipiell vorgegangen sind.

VOLLTEXT Ändert die historisch-kritische Ausgabe etwas am Bild des Autors Ödön von Horváth?

KASTBERGER Was die Produktion betrifft, zeigt die Ausgabe Horváth als  einen sehr präzisen Autor, der mit „Cut & Paste“-Techniken gearbeitet hat. Sie zeigt ihn als  einen Vertreter der literarischen Moderne, bei dem es Brüche gibt, auch Materialbrüche, und bei dem die Hinwendung zur Sprache eine ganz wesentliche Rolle spielt. Was man aus diesen Werkprozessen auch lernen kann, ist, dass Horváth von einem sehr akzentuierten politischen Denken bestimmt war. Die Rückbindung an konkrete Tagespolitik wird im Produktionsprozess aber eliminiert. In den großen Volksstücken kommt am Anfang noch die KPD vor, da gibt es den Funktionär, da gibt es das ganze politische Inventar der 1920er-Jahre. In den Endfassungen ist das nur noch rudimentär enthalten. In den Geschichten aus dem Wienerwald etwa gibt es diesen protofaschistischen Cousin aus Kassel, der immer schießen will. Horváth würde ihn niemals „Faschist“ nennen, er zeigt ihn als solchen. Ich habe seine Volksstücke einmal als  „Zeitstücke ohne Zeit“ bezeichnet. Das Zeitkolorit ist so verarbeitet, dass die Stücke nach hundert Jahren noch auf die jetzige Situation beziehbar sind.   Ein anderer Punkt bei Horváth, den man schon öfter versucht hat, richtig zu stellen, ist die Verstrickung in die Zeit des Nationalsozialismus. Horváth war eben nicht von Beginn an ein dezidierter Gegner der Nazis. Man muss sich vorstellen, er hatte 1932 erstmals wirklich große Erfolge mit den Volksstücken in der Weimarer Republik, war zum ersten Mal auch unabhängig vom Vater, und dann kommen die Nazis! In dieser Situation hat Horváth versucht in der deutschen Filmindustrie Fuß zu fassen, obwohl er vorher dezidiert Kommunist gewesen ist. Erst mit der Arbeit an Jugend ohne Gott hat er im Arbeitsprozess eine dezidiert antifaschistische Position errungen, die nur mehr eine Konsequenz zuließ, nämlich Emigration. Im Prozess des Schreibens ist ihm zunehmend klar geworden, dass er den Roman in einem Exilverlag veröffentlichen muss und dass es für ihn  selbst in Mitteleuropa keine Zukunft mehr gibt. Biografische Hintergründe spielen hier eine große Rolle. Es gibt daher in unserer Ausgabe einen spezifischen Band, der die Lebensdokumente enthält, die Briefe und vor allem auch alle Akten, in denen Horváth vorkommt. Das ist hochinnovativ, denn Akten zu edieren gehört zum Schwierigsten, was es gibt. Für die Arbeit an diesem Band waren wir auf einen Aktenexperten angewiesen, weil es nicht allein um das geht, was in einem Akt drin steht, sondern auch um die ganzen Paraphen auf der Seite – wer hat wann wo den Akt an wen weitergegeben, wer hat was genehmigt et cetera. Die Kenntnis dieser Akten ist von immenser Bedeutung für ein differenziertes Verständnis der biografischen Fragen.

Csokors „Rekonstruktion“ von Horváths Brief hatte mit dem später zufällig aufgetauchten Original nichts gemein.

VOLLTEXT In der Ausgabe findet sich auch der nachstehend als Faksimile abgedruckte Brief an das Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda. War dieser Brief auch Teil des angekauften Nachlasses, oder ist der anderswo entdeckt worden?

KASTBERGER Der Brief war nicht im Nachlass, wir haben ihn aus dem deutschen Bundesarchiv ausheben lassen. Die Quellenlage ist hier höchst interessant: Der Brief ist genau genommen  ein Schreiben des Deutschen Bühnenverlags an den „Reichsdramaturgen“ Rainer Schlösser. In diesem Schreiben des Verlags findet sich die Abschrift eines Briefes, den Horváth seinerseits an den Verlag geschickt haben soll. Diese Abschrift ist das einzige Zeugnis von dem angeblichen Brief, das Original von Horváth selbst ist nirgends auffindbar gewesen.

 

Horvath Entwurfsblatt Geschichten Wiener Wald
Entwurfsblatt zu „Geschichten aus dem Wiener Wald“. Foto: Wiener Ausgabe (Bd. 3, S. 310)

VOLLTEXT Apropos „nicht auffindbar“ – das bringt uns zum Briefwechsel zwischen Horváth und Franz Theodor Csokor, der in der Ausgabe ebenfalls dokumentiert ist. Was hat es damit auf sich?

KASTBERGER Csokor hat nach 1945 einen Briefband herausgegeben und darin in extremer Weise das Gefühl erzeugt, dass er schon sehr früh erkannt hat, welche Unbill und welche Verbrechen die Nazis mit sich bringen. Viele dieser Briefe sind aber nicht authentisch. Gerade was Horváth betrifft, hat Csokor eine Reihe von Briefen aus dem Gedächtnis heraus rekonstruiert, also zwanzig Jahre nachdem sie geschrieben wurden. Csokor selbst hat argumentiert, dass es zu gefährlich gewesen wäre, wenn sich die Briefe zur Zeit des Nationalsozialismus in seinem Besitz befunden hätten. Genau dieser Briefwechsel hat aber dazu gedient, auch Horváth ein sehr frühes antifaschistisches Bewusstsein zu attestieren. Wir haben in unserer Edition sauber unterschieden zwischen den  Briefen, die tatsächlich vorliegen, und denen, die rekonstruiert sind. Es gibt einen von Csokor aus dem Gedächtnis rekonstruierten Brief Horváths, von dem später in einem ganz anderen Bestand zufällig das Original  aufgetaucht ist, und man sieht – die beiden Texte haben gar nichts miteinander zu tun! Abgesehen davon entsteht in diesem Briefwechsel mit Csokor auch der Eindruck, dass Horváth fast die ganze Zeit zwischen 1933 und 1936 in Henndorf in Salzburg verbracht hätte und nicht im deutschen Reich. Auch das ist falsch. Horváth war sehr wohl in Deutschland und ist auch immer wieder nach Berlin gefahren, um zu sehen, ob ein Leben dort für ihn doch noch möglich wäre. Obwohl in der Horváth-Forschung seit dreißig Jahren bekannt ist, dass die Briefe an Franz Theodor Csokor nicht echt sind, und das auch immer wieder gesagt wurde, gibt es viele Horváth-Anhänger, die das nicht zur Kenntnis nehmen. Für sie bleibt Horváth trotzdem ein moralisch einwandfreier Autor, der gegen den Nationalsozialismus aufgetreten ist. Das mag grosso modo auch stimmen, aber man muss auch die Abgründe und die Brüche sehen. Horváth waren die Wirkungsweisen von Texten und von persönlichen Auftritten deutlich bewusst. Er passt perfekt in die 1920er- und 1930er-Jahre, weil er nicht von der Auffassung eines ein für alle Mal festgestellten Menschen ausgeht, sondern weiß, dass man sich in der Gesellschaft ständig in unterschiedliche Rollen begibt, dass es unterschiedliche Masken sind, die man aufsetzt, und dass gesellschaftliches Leben anders gar nicht funktioniert. Diese Maskenhaftigkeit hat er in seinen Stücken gestaltet, diese Maskenhaftigkeit konnte er aber auch selber leben.

Horvath_Bundesarchiv_001
Brief des Neuen Bühnenverlags an Rainer Schlösser vom 26.6.1934

Horvath_Bundesarchiv_002

 

Klaus Kastberger, geboren 1963 in Gmunden, ist Professor für neuere deutschsprachige Literatur am Franz-Nabl-Institut der Universität Graz und Leiter des Literaturhauses Graz. Seit 2015 ist er Juror beim Ingeborg-Bachmann-Preis, 2023 wurde er mit dem Österreichischen Staatspreis für Literaturkritik ausgezeichnet. Zuletzt er­schien Alle Neune. Zehn Aufsätze zur österreichischen Literatur (Sonderzahl, 2023).

Ödön von Horváth: Wiener Ausgabe sämt­licher Werke. Historisch-kritische Edition. Herausgegeben von Klaus Kastberger. 19 Bände herausgegeben von Erwin Gartner, Kerstin Reimann, Nicole Streitler-Kastberger und Martin Vejvar. Walter de Gruyter, Berlin/Boston 2009-2024. 

Digitale Edition: https://gams.uni-graz.at/context:ohad