Der 50. Geburtstag von Anton Wildgans war ein großes Fest. Mehr als eine Woche lang dauerten die Feierlichkeiten. Ehrenbezeugungen fanden unter anderem im österreichischen PEN-Club und in der österreichischen Nationalbibliothek statt, getragen von honorigen Dichter-Vereinigungen des In- und Auslandes wie dem Wiener Goethe-Verein, der Weimarer Goethe-Gesellschaft oder der österreichischen Grillparzer-Gesellschaft.
Festvorstellungen von Wildgans-Stücken wurden in Wien und in Graz auf großen Bühnen gegeben. In Mödling benannte man einen Weg nach dem Dichter. Friedrich Schreyvogel, der nur drei Jahre später zum illegalen NSDAP-Mitglied wurde, intonierte bei einer dieser Feiern die „Rede über Österreich“ – einen Vortrag, den Wildgans anlässlich des Zehn-Jahres-Jubiläums der Ersten Republik geschrieben hat, um ihn vor dem schwedischen Königshaus zu halten. Einer seiner erfolgreichsten und wirkmächtigsten Texte.
Schon drei Tage vor Wildgans’ Geburtstag (am 17.4.1931) trommelte der Journalisten- und Schriftstellerverein „Concordia“ zu einem wahrhaft staatstragenden Bankett alles zusammen, was im damaligen Österreich in Politik und Kultur Amt und Würde hatte. Concordia-Präsident Leopold Lipschütz eröffnete den Reigen der Gratulanten. Er rühmte an Wildgans den „zärtlichen Lyriker“ gleichwohl wie den „kraftvollen Epiker“. Auch der „zupackende Dramatiker“ kam in seinen Worten nicht zu kurz.
Man könne Literatur nicht geografisch verorten, so Lipschütz. Wenn man aber bei Tirol mit Recht zuerst an Karl Schönherr denke und bei Oberösterreich an Stifter, so sei es nur billig, im Fall von Niederösterreich Anton Wildgans an die Spitze zu stellen. Niemand habe den Zauber eines Frühlingsmorgens im Wienerwald, den schwermütigen Reiz eines Herbstnachmittags in den Donauauen oder die Magie einer Mondnacht in der Liechtensteinklamm so poetisch in Jamben und Trochäen gefasst wie er. Der literarische Aktionsradius von Wildgans reiche aber noch weiter. Bis hin an die Nordsee und an den Rhein. Überall hin, wo deutsche Geisteskultur herrscht.
Der zweite Redner, Vizekanzler Johann Schober, der als Wiener Polizeipräsident für die blutige Niederschlagung der Julirevolte 1927 verantwortlich war, denkt bei Wildgans nicht so sehr an Niederösterreich, sondern an das Flair der Hauptstadt. In seiner Dichtung, so Schober, leuchteten die sonnigen Plätze Wiens auf und die verträumten Ecken der Vorstadt. Ein starkes soziales Fühlen präge diese Dichtung, so wie dies eben stets den „echten Menschen“ charakterisiert. Abschließend wünscht Schober Wildgans noch ein starkes weiteres Jahrzehnt. Nicht allein in seiner Dichtung, sondern auch als Burgtheaterdirektor. Eine Funktion, die Wildgans zu diesem Zeitpunkt nach einer ersten Amtszeit 1921/22 nun bereits zum zweiten Mal innehatte.
Die Wünsche Schobers haben sich nicht erfüllt. In Wahrheit bastelte nämlich, noch während Wildgans gefeiert wurde, der Generalintendant der österreichischen Bundestheater, Franz Schneiderhan, bereits im Hintergrund an seiner Demontage. Das Buch eines wirklichen Wildgans-Aficionados, des Gymnasialdirektors i. R. Franz Hadriga, beschreibt den Vorgang im Detail. Unter Verwendung von Decknamen lud Schneiderhan die Nachfolgekandidaten zu sich. Schon im Oktober 1931 musste Wildgans als Burgtheaterdirektor abtreten. Am 3.5.1932 schließlich verstarb er, zeitlebens krank, in seinem Heimatort Mödling. Drama Burgtheater Direktion nennt Hadriga seine biografische Studie, die das einzige Buch ist, das in den letzten Jahrzehnten überhaupt zu Wildgans erschien. Sein Untertitel setzt einen weiteren Gemeinplatz: „Vom Scheitern des Idealisten Anton Wildgans“.
Der führende Staatsdichter
Karl Kraus meldete gegen eine solch simple Sicht noch zu Lebzeiten des Dichters vehementen Widerspruch an. Niemals, so Kraus in der Fackel, hätte sich jemand wie Wildgans solche Feierlichkeiten bieten lassen dürfen: „Wie kann er, der bei allem Vaterlandsgefühl doch intelligent genug ist, den in Jahrzehnten der Fackel entlarvten Kram zu erkennen, und sauber genug, ihn abzulehnen, diese Exzesse einer Hypertrophie über sich ergehen lassen, die gerade in seinem Falle anschaulich macht, wie ein zweifelhafter Betrieb der geistigen und moralischen Wertung heute in Quantitäten scheffelt. Kann der Österreicher Wildgans wirklich als Fünfzigjähriger den wochenlangen Schall der Salven hinnehmen, von denen das ganze Leben eines Grillparzers unberührt geblieben ist, als dessen Erben er sich fühlt und den er gewiß für keinen Taferlklassiker hält?“
Die Integrität des Dichters ist angegriffen, wie aber schaut es mit seinem Werk aus? Wildgans war, und die Feierlichkeiten zu seinem 50. Geburtstag befestigten diese Rolle gerade noch so lange, bis das ganze Brimborium der Ersten Republik in einem einzigen Begeisterungsschrei für den Nationalsozialismus versank, der führende Staatsdichter jener Zeit. Mit Gedichtbänden wie Sonette an Ead (1913) und Stücken wie Armut (1914) hatte er großen Publikumserfolg. So wie ihn stellte man sich damals nur allzu gerne den wahren Dichter vor. Als einen, der trotz aller zeitgenössischen Unübersichtlichkeit den mehr oder weniger verzweifelten Versuch wagte, mit antiquierten Formen die Probleme der Zeit noch einmal auf einen gemeinsamen literarischen Nenner zu bringen.
Vom Stil her war es ein sehr gemäßigter Expressionismus mit einer kleinen Prise sozialer Wirklichkeit. Dieses seltsame Gemisch ging gut, so lange das wahrgenommene Elend die gute alte literarische Form nicht vollends sprengte. In homöopathischen Dosen schmuggelt Wildgans das soziale Problem in seine Verse. Dem Dienstbot’ und der Hure gilt neben erfreulicheren Dingen wie der Liechtensteinklamm partielle Aufmerksamkeit. Aber die Offenheit, mit der Wildgans darüber spricht, findet ihre Grenzen umgehend in dem Schlüsselloch, durch das er dabei schaut. Das ist typisch für literarisches Spießertum. Auch die Wendung gegen den Spießer gehört ihm wesentlich an.
Später dann, als Wildgans bereits jener Dichter war, als der er heute zu Recht vergessen ist, folgten mehrere weitere Gedichtbände (darunter im Jahr 1915 der patriotisch-kriegerische Band Österreichische Gedichte als Band 12 in Hugo von Hofmannsthals „Österreichischer Bibliothek“) sowie einige weitere Stücke. Später kam noch der Prosaband Musik der Kindheit. Ein Heimatbuch aus Wien (1928) und das epische Gedicht Kirbisch oder der Gendarm, die Schande und das Glück (1927) hinzu. In letzteres hat Wildgans alles hineingelegt, was er literarisch hatte. In mühevoller und jahrelanger Arbeit entstand ein Epos in Hexametern. Eine Form, die große antike Vorbilder hat, die die deutschsprachige Dichtung aber nicht unbedingt gebraucht hätte. Wildgans war ein letzter Mohikaner des sechsfachen Daktylus. Ein Autor, der im Bestreben, sie zu fassen, vollkommen aus der Zeit fiel. Für Kirbisch, so versichern seine Bewunderer, hat er gar seine Gesundheit geopfert.
Im Gegensatz zum breiten Publikum, dem solche Mythen gefallen, hält Karl Kraus von der Dichtung des Anton Wildgans rein gar nichts. Dabei hat Kraus aber nicht nur ihn, sondern auch die anderen „Staackmänner“ auf der Rechnung, also jene Autoren, die so wie Wildgans in dem populären Leipziger Verlag Ludwig Staackmann publizierten. Vor einer solchen Literatur muss es ja „die Sau des Teufels grausen“, schreibt er 1914 in der Fackel. Die lyrischen Ergüsse von Anton Wildgans, die in der Presse als Meistergedichte gefeiert wurden, bezeichnet er schlichtweg als „großen Dreck“.
Auch Robert Musil konnte sich für die Dichtung von Wildgans nicht erwärmen. In der Rolle des Theaterkritikers sitzt Musil am 9.5.1922 in der Erstaufführung des Stückes Kain im Wiener Burgtheater. Dabei ist ihm so langweilig, dass er sich in seiner Kritik Gedanken weniger zum Stück als vielmehr zum Wesen dieses Dichters macht.
Emotionales Kanzleideutsch
Gerade an den Höhepunkten ihrer Emotionen, so Musil, lasse Wildgans seine Figuren in einem gedrechselten Kanzleideutsch sprechen. Ganz so, als ob die ewigen Wahrheiten, die sie von sich geben, ihnen von außen wie ein schlechtsitzender
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