„Vielleicht ist es gar kein Roman“

Michael Braun im Gespräch mit Kenah Cusanit über ihren Roman Babel

Online seit: 24. September 2019
Kenah Cusanit © Peter-Andreas Hassiepen
Kenah Cusanit: Der Roman kartografiert, vermisst und puzzelt an den Zusammenhängen zwischen Zeiten, Räumen und Schichten.
Foto: Peter-Andreas Hassiepen

Was menschliche Hybris anrichten kann, wissen wir aus der Schöpfungsgeschichte der Genesis. Die Menschen, heißt es dort, wollten einen Turm bauen, der bis zum Himmel reichte, und wurden für diese Vermessenheit von Gott bestraft mit einer Art Sprachverwirrung. Dass solche biblischen Mythen rund um die „Stadt der Städte“ Babylon, von König Nebukadnezar oder auch die Sintflut-Erzählung aus viel älteren, nämlich assyrischen Quellen stammen, erfahren wir nun in dem faszinierenden Debütroman Babel der Alt-Orientalistin, Ethnologin und Schriftstellerin Kenah Cusanit.

Nach zwei Gedichtbänden hat die 1979 geborene Schriftstellerin einen Roman vorgelegt, der nicht nur um den Turm von Babel und seine realen Proportionen kreist, sondern auch um die spektakuläre Geschichte der Ausgrabung Babylons Anfang des 20. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt dieses Romans steht ein von der Wissenschaft der Archäologie Besessener, der Architekt und Archäologe Robert Koldewey.

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MICHAEL BRAUN Wie kamen Sie auf die Idee, über diesen besessenen Archäologen Robert Koldewey einen Roman zu schreiben?

KENAH CUSANIT Indem ich selbst besessen wurde. Von der Ausgrabung, von den hin- und hergehenden Briefen der Ausgräber, von der Zeit und den beiden Orten, dem babylonischen Berlin und dem im Berliner Auftrag ausgegrabenen Babylon. Also von den historischen Umständen dieses Unternehmens, die ja im Pergamonmuseum, wo die Funde der Ausgrabung ausgestellt sind, weitestgehend ausgeblendet werden. Ein Besuch im Museum war auch der Auslöser, die Hintergründe einmal spaßeshalber zu recherchieren. Dass ich dann aber derart von dieser Geschichte angezogen wurde, lag wohl daran, dass sich einige Dinge, Konzepte, Theorien, die mich schon immer umgetrieben haben, mit ihr verbündeten und sich daraufhin eine Eigendynamik entwickelte, der ich nur noch ordnend und strukturierend hinterherlaufen konnte.

BRAUN Diese Ausgrabung hat kurz vor der Jahrhundertwende, 1899, begonnen. Sie beschreiben Koldewey so, als gehe es ihm nicht nur um seine Profession, die Archäologie, sondern als gehe das ganze Wissen der Welt durch seinen Kopf. Bereits auf den ersten zwanzig, dreißig Seiten kreisen seine Gedanken um viele Wissensbereiche, um die Grabung in Babylon, um die Fotografie, um medizinische Fragen usw. Wollten Sie einen Universalgelehrten darstellen, der in einer Schwellenzeit der Wissenschaften von allen möglichen Denkansätzen durchströmt wird?

Bis heute kann kein Philologe der Welt sich ernsthaft mit Keilschriftsprachen beschäftigen, ohne vorher Deutsch gelernt zu haben.

CUSANIT Eher so: Die Wissenschaften sind ja angesichts der Datenflut gerade dabei, sich in einzelne Fächer aufzuspalten. Koldewey will sich aber nicht spezialisieren, er will Universalwissenschaftler bleiben. Koldewey will in einer Welt, deren sich globalisierender Teil gerade sehr unübersichtlich geworden ist, den Überblick behalten. Er lebt in einer Zeit, in der wissenschaftliche Autoritäten den Platz von religiösen Vermittlern eingenommen haben und wissenschaftliche Erkenntnisse den Platz religiös vermittelter Wirklichkeiten. Da liegt es nah, sich an Erkenntnissen verschiedenster Art festzuhalten. Aber offenbar rüttelt die Stadt Babylon an seiner Rationalität und zieht ihn in ihre eigenen Fantasien hinein. Vielleicht will er sie aus diesem Grund entgegen jeder Anordnung seiner Berliner Auftraggeber nicht nur partiell, sondern insgesamt freilegen. Die Wirklichkeit sichtbar zu machen dient ja nicht nur als ultimativer Beweis ihrer Existenz, sondern auch ihrer Erfassung, ihrer Kontrolle – in der Archäologie wie in der Anatomie wie in der Fotografie. Nicht nur im Denken des 19./20. Jahrhunderts, auch heute noch, vor allem heute.

BRAUN Robert Koldewey wurde damals die Aufgabe zugewiesen, die Stadt Babylon auszugraben. Wie war die historische Ausgangssituation? Mit welchem Auftrag ist er 1899 aufgebrochen nach Mesopotamien?

CUSANIT Der Orient insgesamt war ja der Platz an der Sonne, den sich Deutschland ausgesucht hat, um sich auszuprobieren als junge Nation, die plötzlich