Begegnungen in der Autofiktion VI

Für Tove Ditlevsen – blood is thicker than time. Von Jan Wilm

Online seit: 1. Februar 2022
Tove Ditlevsen © Picture Alliance / Jarner Palle / Ritzau
Schreiben als Heilmittel: Tove Ditlevsen.
Foto: Picture Alliance / Jarner Palle / Ritzau

Drei Dinge waren von Bedeutung, als ich zum ersten Mal in Kopenhagen war. Ich hatte gerade in einem Zug die drei Teile von Tove Ditlevsens Kopenhagen-Trilogie gelesen, als ich ins Staatliche Kunstmuseum ging, wo ich einem Gespenst begegnete. Es war ein Morgen am Ende eines Sommers. Die Nationalgalerie Dänemarks war menschenleer, und durch die großen Scheiben des modernen Erweiterungsbaus, der auf einen kleinen See blickte, sah ich den Wind lautlos in den Bäumen spielen, als ich den Raum aufgesucht hatte, wo sich das Porträt von Tove Ditlevsen befand.

Es war das einzige Porträt, das während des kurzen Lebens der dänischen Schriftstellerin (1917–1976) gemalt wurde. Hier war ich mit Tove Ditlevsen allein, über den spiegelnden Böden in der halbdunklen Stimmung der Galerie. Aus einem anderen Raum hörte ich leise Schritte schallen, die jedoch gleich wieder verstummten. Kaum mehr als monalisagroß hing das Gemälde in seinem goldenen Rahmen im tränenförmigen Lichtschein eines kleinen Strahlers.

Das Gemälde zeigt Ditlevsen, wie sie auf ihren letzten Fotos vor dem Selbstmord durch Schlaftabletten 1976 aussah. Ein von Traurigkeit geprägtes Gesicht, die Augen schmal, etwas verquollen, als hätte sie gerade geweint, gerahmt von dem schulterlangen Haar und dem etwas biederen Pony. Mit einer winzigen Zigarette zwischen den Fingern sitzt sie in einem kargen Raum in der Ecke des Zimmers, neben ihr ein ovaler Spiegel, der dabei jedoch nicht Ditlevsens Spiegelbild wiedergibt, als wäre sie eine Vampira oder schon nicht mehr anwesend. Stattdessen schwebt in der Mitte des mandorlaförmigen Spiegels eine Art unausgebildeter Fötus, eingekringelt wie im Mutterleib, umgeben von einer gräulich lichternden Aura.

Die Kindheit ist die schönste und die schrecklichste Zeit des Menschen. Weil sie nicht zu vergehen scheint, und weil sie währenddessen gnadenlos vergeht.

Die Malerin des Bildes ist die stark vom Surrealismus Max Ernsts und Leonora Carringtons beeinflusste Malene Genfærd (1932–2003). Genfærd war eine Studentin der bedeutenden dänischen Modernisten Jens Søndergaard und Vilhelm Lundstrøm an der Königlich Dänischen Kunstakademie hier in Kopenhagen. Zur Entstehungszeit des Gemäldes im Jahr 1976 verband sie mit Ditlevsen eine kurze, aber intensive Freundschaft, nachdem Genfærd der damals berühmten Schriftstellerin Briefe an ihre Kummerkastenkolumne in einem Magazin schrieb und Ditlevsen Kontakt aufnahm.

Der Objektbeschriftung zufolge malte Genfærd beinahe immer Fotografien ab, die sie mit Versatzstücken aus dem Leben oder Schaffen ihrer porträtierten Personen surreal verschmolz. Ich war gebannt von dem Gemälde. Während ich es anstarrte, ergriff mich die unheimliche Traurigkeit im Gesicht Ditlevsens und die