„Das Vergessen ist eine Illusion“

Nino Haratischwili im Gespräch mit Insa Wilke über ihren Jahrhundert-Roman Das achte Leben (Für Brilka).

Online seit: 24. August 2020

Ein Café im Hamburger Schanzenviertel. Nino Haratischwili zündet sich eine Zigarette an und lacht laut, als sie erzählt, dass sie neulich ihre Geburtsurkunde brauchte: UdSSR steht da noch drauf, und Lenin wacht über ihren Namen. Das war 1983. Jetzt, einunddreißig Jahre später, lässt sie unter anderem auch diese Zeit in ihrem Roman wieder auferstehen.

INSA WILKE Sie beginnen Ihren Roman mit einem Porträt Georgiens aus der Perspektive der Erzählerin Niza, die 1973 in Tbilissi geboren wurde und in Berlin lebt. Wie erinnern Sie sich an das Georgien Ihrer eigenen Kindheit?

NINO HARATISCHWILI Mein Verhältnis zu diesem Land hat immer mit Extremen zu tun. Die Kindheit in der Sowjetunion war von Ordnung und klaren Strukturen bestimmt und als Kindheit per se schön. Im Buch zähle ich an einer Stelle auf, welche Dinge das Georgien meiner Kindheit für mich verkörpern: von der blauweißen, dreieckigen Kefirpackung bis zu den ekligen Fischkonserven. Der Bruch geschah dann 1989. Mit Beginn der Perestroika verbinde ich mit Georgien nur noch das Scheitern von Utopien, Chaos, Inflation, Machtkämpfe. Und eine zutiefst gespaltene Gesellschaft, die sich bis heute, obwohl das Land sich gewandelt hat, nicht einig werden kann, wie sie leben will.

WILKE Sie haben als Teenager mit Ihrer Mutter zwei Jahre in Deutschland gelebt, bevor Sie mit zwanzig für Ihr Studium nach Hamburg gezogen sind. Diese Abwesenheit wog weniger schwer als die historische Zäsur?

HARATISCHWILI Ich habe das natürlich erst sehr spät realisiert. 1989 war ich sechs Jahre alt und erinnere mich, wie ich am Silvesterabend das Feuerwerk sehen will, aber nicht ans Fenster darf, weil draußen geschossen wird. Ich erinnere mich an die Brot-Schlangen, an Essensrationen und die Dunkelheit, die Stromausfälle. Trotzdem hatte ich kein Bewusstsein für den politischen Kontext und habe mich in der Familie behütet gefühlt. Das änderte sich in der Pubertät, als ich darüber nachdachte, wo ich eigentlich lebe.

Die Kindheit in der Sowjetunion war von Ordnung und klaren Strukturen bestimmt und als Kindheit per se schön.

WILKE Sie beschreiben die Wende-Zeit vollkommen anders, als man es vom Westen aus tun würde, nämlich nicht als Befreiung. Wann sind Sie damit konfrontiert worden, dass zwei völlig unterschiedliche Geschichtsbilder existieren?

HARATISCHWILI Eigentlich erst in Hamburg. Da habe ich realisiert, dass ich die Geschichte fast nur aus der westlichen Perspektive kenne. Ich wusste über den Nationalsozialismus und die DDR viel mehr als über Stalinismus, Großen Terror, Revolution und Perestroika. Ich merkte: da stimmt was nicht. Mein Wissen war auf Wikipedia-Niveau. Die unterschiedlichen Perspektiven erschienen mir natürlich, aber meine eigenen Defizite haben mich schockiert, und dass ich damit nicht allein war: Nicht nur im Westen, auch im Osten ist die Geschichte der Sowjetunion in der Bevölkerung überhaupt nicht aufgearbeitet. Viele Vorgänge, die jetzt in Georgien und Russland stattfinden, habe ich nicht verstanden. Darum habe ich angefangen, mich mit der Geschichte zu befassen, ich wollte den Ursprung finden.

WILKE „Ich will verstehen“ ist ein roter Faden Ihres Romans. Was haben Sie denn verstanden durch die Arbeit am Roman?

HARATISCHWILI Ich bin nachsichtiger geworden. Die Dinge brauchen Zeit. Und gleichzeitig bin ich noch ungeduldiger und denke: Das kann man alles wissen. Der Wille zum Wissen ist nicht da, und den muss die Gesellschaft entwickeln. Den kann weder ein Politiker noch ein Historiker vorgeben. Deswegen war mir wichtig, das Buch mit einer leeren Seite zu beenden. Ich weiß ja auch nicht, wie sich Geschichte und Leben fortschreiben. Aber mein Bedürfnis zu verstehen, habe ich gestillt.

WILKE In Deutschland gibt es den Topos vom Schweigen in den Familien. Wurde in Ihrer Familie erzählt?

HARATISCHWILI Das ist ein sehr georgisches Phänomen: Bei uns wird sehr viel erzählt. Es gehört zur Kultur. Wenn man an langen Tafeln zusammen isst, gibt es einen Tischanführer, der die Toasts ausspricht und, wenn er gut ist, alle vierzig Menschen am Tisch ins Gespräch miteinander bringt. Ich habe in solchen Situationen schon sehr berührende und auch schockierende Geschichten gehört. Man verschweigt also nichts, aber es wird sehr viel interpretiert. Jeder erzählt aus seiner eigenen Betroffenheit, dadurch hatte ich oft das Gefühl, dass ich die Fakten schon gefärbt vorgesetzt bekomme. Heute gibt es in Tbilissi zum Beispiel ein Museum der Okkupation. Das stimmt historisch nicht, es ist nur ein Teil der Wahrheit. An der Eingliederung in die Sowjetunion waren georgische Bolschewisten maßgeblich beteiligt.

WILKE Mit welcher Frage hat Ihre Arbeit am Roman angefangen?

HARATISCHWILI Zuerst habe ich mir ein Buch über die Perestroika besorgt. An diese Zeit kann ich mich noch selbst erinnern. Aber je weiter ich las, desto weniger verstand ich. Und so bin ich immer etwas weiter in die Zeit zurückgegangen, bis ich bei der Oktoberrevolution landete. Da fragte ich mich: Tu ich’s mir an? Ich hab’s mir angetan. Das Fatale an der westlichen Interpretation der Geschichte ist, anzunehmen, dass es eine Zäsur gab 1989. Das stimmt nicht, die Gegenwart ist die Fortsetzung der Geschichte seit der Oktoberrevolution.

Nicht nur in der Politik und der Geschichte wiederholen sich die Dinge, sondern auch im Privaten, in den Familien.

WILKE Der Familienroman eignet sich besonders gut, diese Kontinuität zu erzählen.

HARATISCHWILI Wenn ich entlang des Jahrhunderts erzähle, brauche ich eine Kontinuität, die gleichzeitig Wiederholungen sichtbar macht. Auch wenn es enervierend und anstrengend ist.

WILKE Die Wiederholungen finden vor allem auf der Figurenebene statt: Kitty und Andro wiederholen sich in Elene und Miqa, Stasia und Christine in Niza und Daria. Ist das nicht etwas schematisch?

HARATISCHWILI Ich weiß, dass das nervt. Das ist