„Die drei Zyklen im neuen Gedichtbuch von Maria Stepanova dürfen wir als absolute Höhepunkte im aktuellen Stimmenkonzert der Weltpoesie bewundern“, schrieb der kürzlich verstorbene Lyrikkenner Michael Braun über den Gedichtband Mädchen ohne Kleider. Und Natascha Freundel äußerte auf rbbKultur: „Stepanova lauscht den Wörtern sehr genau. Zeigt ihr propagandistisches, gewalttätiges Potential, bleibt dabei im intensiven Dialog mit der russischen und der westlichen Weltliteratur, vermittelt ein antiimperiales, unheroisches Russisch, eine Sprache ohne Machtanspruch.“
Der diesjährige Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung geht an eine Dichterin, eine russisch-jüdische Dichterin, die seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine in Berlin lebt, weil sie diesen Krieg zutiefst verurteilt und in Russland keinen Platz mehr für sich sieht. Eine Dichterin, die zahlreiche Lyrikbände, Essays und das Erinnerungsbuch Nach dem Gedächtnis veröffentlicht hat und bis Kriegsausbruch Chefredakteurin des unabhängigen Kulturportals colta.ru war.
Maria Stepanovas Name ist international bekannt: In den USA hat sie doziert und Gastvorträge gehalten, für ihre Bücher wurde sie mit namhaften Preisen ausgezeichnet. Und tatsächlich passt der Begriff „Weltpoesie“ zu kaum einer zeitgenössischen Lyrikerin so gut wie zu ihr, die wie selbstverständlich mit Homer, Dante und Shakespeare, Goethe, Rilke und Celan, Walt Whitman, Emily Dickinson und T. S. Eliot, Ossip Mandelstam, Marina Zwetajewa und Joseph Brodsky in Dialog tritt. Zitate sind Zikaden, meinte der Weltpoet Mandelstam. Bei Maria Stepanova durchtönen sie lautstark oder leise, ernst oder ironisch ihre langen, vielschichtigen Gedichte. Auch kommt es vor, dass die Lyrikerin nicht zitiert, sondern umschreibt. So klingt Goethes „Erlkönig“ bei ihr so:
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