Die Farbe Schwarz ist für die Schweizer Dichterin, Übersetzerin und literarische Kosmopolitin Ilma Rakusa ein Faszinosum. Zu ihren biografischen und ästhetischen Elementarerfahrungen gehörte die Begegnung mit dem „Schwarzen Quadrat auf weißem Grund“ des russischen Avantgardisten Kasimir Malewitsch. Oder der Blick in das schwarzrußige Gesicht ihrer Urgroßmutter, die Kaminfegerin war. Oder auch die panische Angst vor dem „schwarzen Teufel“, der ihr mit seinen Krallen aus diversen Bilderbüchern entgegenstarrte. In ihrem jetzt publizierten Lebensbuch Mein Alphabet erzählt Rakusa von solchen Erweckungserlebnissen, Schlüsselbegegnungen und kleinen Offenbarungsaugenblicken, die ihren nomadischen Lebensweg durch verschiedene europäische Länder und Wahlheimaten prägten. Als Tochter einer ungarischen Mutter und eines slowenischen Vaters 1946 in der slowakischen Kleinstadt Rimavská Sobota geboren, erfuhr Rakusa „Heimat“ von Beginn an als eine „Mehrfachverankerung“. Von Rimavská Sobota führte ihr Weg nach Budapest, von dort weiter nach Ljubljana und Triest, bis sie als fünfjähriges Mädchen mit ihrer Familie nach Zürich kam und dort erstmal als Staatenlose mit dem Misstrauen der Behörden zu kämpfen hatte. In Zürich hatte sie schon drei Sprachen im Gepäck: Ungarisch, Slowenisch und Italienisch. Deutsch wurde zu ihrer vierten Sprache, der Sprache ihrer Dichtung.
MICHAEL BRAUN Mein Alphabet ist neben Mehr Meer von 2009 das umfangreichste Buch, das du bislang veröffentlicht hast. Man kann es als Autobiografie in alphabetischen Splittern lesen. Aber kann man denn die eigene Lebensgeschichte erzählen, indem man sie in eine alphabetische Ordnung bringt? Eine Biografie verläuft ja nicht linear, von A bis Z, wie uns das Alphabet weismachen will. Das Leben verläuft doch über Umwege. Wieso hast du für deine Lebensbeschreibung dennoch eine alphabetische Ordnung gewählt?
ILMA RAKUSA Ich mag das Alphabet sehr. Es ist eine stringente Ordnung, und als Buchmensch habe ich mich oft durch Werke mit einer alphabetischen Ordnung durchgearbeitet. Auch jedes Wörterbuch folgt diesem Prinzip. Mir gefiel dieser Ansatz, obwohl das Leben eher ein work in progress ist und unabsehbar in seinem Verlauf. Ich hatte ursprünglich nicht die Idee einer Biografie, sondern einfach Lust darauf, über Dinge, die mir wichtig sind, aber auch über alltägliche Begriffe nachzudenken. Und zwar in den kleinen Formen, die ich liebe, sprich: in Gedichten, Kurzprosa und Gesprächen. Und dafür brauchte ich ein Konstruktionsprinzip. Da erschien mir das Alphabet als plausible Anordnung. So ist das Buch auch disparater geworden als Mehr Meer, es hat eher die Form eines Mosaiks.
Es gibt die lakonische Feststellung, dass du ein Drittel deines Lebens in verdunkelten Zimmern zubringen musstest wegen deiner Migräne. Insofern sind das Dunkel und das Schwarz deine Lebensbegleiter gewesen.
BRAUN Wenn du dein Buch Mein Alphabet nennst, hast du ja schon einen Dialog aufgenommen mit dem wichtigsten europäischen Gedichtbuch der letzten dreißig Jahre – nämlich mit dem großen Poem „alfabet“ der dänischen Poetin Inger Christensen. Inger Christensen hat aber eine ganz andere Ordnung gewählt für ihre poetische Schöpfungsgeschichte.
RAKUSA Ja, eine vollkommen andere Ordnung. Ich habe Inger Christensen, eine der größten Dichterinnen des 20. Jahrhunderts, in meinem Buch zwar erwähnt. Aber ich hatte nicht die Idee, bei ihr direkt anzuknüpfen. Das wäre eine Vermessenheit, zudem hat sie etwas ganz anderes gemacht. Sie hat unter Rückgriff auf eine mathematische Besonderheit, die sogenannte Fibonacci-Reihe versucht, etwas wie ein Schöpfungspoem zu schreiben. Da die Fibonacci-Reihe (also 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21 usf. – die jeweils nächste Zahl ist die Summe der vorangegangenen) rasch wächst, ist sie nur bis zum Buchstaben „N“ gekommen. Mein Alphabet ist primär mit meiner Biografie verbunden und hat nicht den Anspruch, sozusagen kosmisch auszugreifen. Ein Schöpfungs-Alphabet zu machen, das hätte ich nie und nimmer gewagt. Schon aus Respekt vor Inger Christensen nicht. Die beiden Alphabete kann man insofern nicht miteinander vergleichen. Ich habe nach einer Struktur gesucht, die das ermöglicht, was ich wollte – nämlich in drei Gattungen über mir wichtige Dinge, Orte und Menschen zu schreiben.
BRAUN Das Buch beginnt mit Eintragungen zu „Anders“ und „Angst“ und endet mit „Zypresse“ und „Zaun“. Und dazwischen gibt es immer wieder Überraschungen. Neben Eintragungen, die man erwartet hat, Reminiszenzen etwa zu Marina Zwetajewa – du hast sie seit vielen Jahren intensiv übersetzt –, gibt es Stichworte, die man nicht erwartet hat. Erkennbar ist deine Vorliebe für das Verfahren der kunstvollen Collage. Dein Alphabet enthält neben Gedichten und kurzen Geschichten auch Erzählungen und Gespräche. Stand dieses Kompositionsprinzip von Beginn an fest? Und wie lange dauerte der Auswahlprozess?
RAKUSA Der Prozess der Auswahl hat sich über zwei Jahre erstreckt. Ich habe Stichworte notiert und diese laufend ergänzt. Im Bewusstsein, dass sich nicht alles unterbringen lässt. Dennoch gibt das Vorhandene einen Einblick in vieles, was mir wichtig ist. Als ich mit Schreiben anfing, ging ich von Buchstabe zu Buchstabe vor. Ich bin nicht jemand, der hinten anfängt oder in der Mitte und dann nachträglich alles zusammensetzt. Wenn man genau liest, sieht man, dass es in der Abfolge der Textstücke immer wieder Anknüpfungen gibt, Links, die von einer Eintragung zur nächsten führen, sodass ganz wilde Sprünge eher selten vorkommen. Ich schrieb also von A bis Z und habe am Schluss nur zwei Texte eingeschoben, über den „Granatapfel“ und die „Leere“. Es war – wie immer bei mir – ein langsamer Prozess. Allmählich setzte sich das Mosaik zusammen, bis es eine innere Schlüssigkeit gewann und als Ganzes im Gleichgewicht war.
BRAUN Kommen wir zu den Schreibverfahren, die dir wichtig sind. In deinem Alphabet spielen Listen und Litaneien eine große Rolle. Nehmen wir nur mal den Anfang des Kapitels „Schwarz“. Ich hatte ihn als Gedicht gelesen, aber du hast mich aufgeklärt, dass es sich erstmal nur um eine Aufzählung handelt.
RAKUSA Ich habe es nicht als Gedicht geschrieben, aber da zeigt sich, dass Leser einen Text anders wahrnehmen können als der Autor:
Schwarze Sonne
Schwarzes Meer
Schwarzes Quadrat
Schwarzerde
Schwarzwurzel
Schwarzer Peter
Schwarzpappel
Schwarzkümmel
Schwarzes Haar
Schwarzbrot
Schwarzes Loch
Schwarze Madonna
BRAUN Und es zeigt sich bei dieser Aufzählung, die man auch als Listengedicht lesen kann, eine Konstante deines Werks. Bereits in deinem ersten Buch murmelt der Protagonist Wörter und Motive mit Schwarz vor sich hin. Ist Schwarz eine Grundfarbe deiner Poetik? In einem Kapitel von Mein Alphabet wird eindrücklich an das „Schwarze Quadrat auf weißem Grund“ von Kasimir Malewitsch erinnert …
RAKUSA Schwarz ist etwas Faszinierendes. Ist es überhaupt eine Farbe? Ich habe schon immer eine starke Affinität dazu gehabt. Und es ist sicher kein Zufall, dass es bereits in Die Insel, meinem ersten Buch von 1982, eine starke Präsenz hat. Da gibt es eine Anekdote von einer Frau, die sich in einem schwarzen Schrank erschießt – und diese Schwärze hat quasi ein Loch. Ich habe mich nicht nur mit Malewitsch und seinem Schwarzen Quadrat auseinandergesetzt, sondern auch mit Ad Reinhardt, der fast nur schwarze Bilder gemalt und sich am Schluss das Leben genommen hat. Doch will ich nicht behaupten, Menschen mit einer starken Beziehung zu Schwarz neigten zur Depression oder zur Melancholie. Was stimmt: Schwarz ist eine sehr strenge Farbe. Menschen, die ständig Schwarz tragen, etwa katholische Geistliche, Nonnen oder in islamischen Gegenden die Frauen mit Tschador, wirken ernst. Ich kleide mich oft schwarz. Schwarz hat etwas Klares, Gefasstes, man muss da nicht lange kombinieren. Es kann, aber muss nicht elegant wirken. Hinzukommen weitere Assoziationen, zum Beispiel das Geheimnisvolle. Das Schwarze Meer heißt ja nicht umsonst Schwarzes Meer. Es ist weniger salzhaltig als das Mittelmeer und viel weniger artenreich, wobei Tiere und Pflanzen nur in den obersten Wasserschichten leben können. Das macht es in einem gewissen Sinne geheimnisvoll, ja unheimlich. Ich habe noch nie im Schwarzen Meer gebadet und möchte das auch nicht, denn es ist mir nicht so ganz geheuer. Nun, das Schwarz bleibt in vielerlei Hinsicht unausdeutbar. Für Malewitsch war das Schwarze Quadrat so etwas wie die Ikone der Ungegenständlichkeit. Wenn es eine Ikone ist, dann steht dahinter ein sakraler Gedanke. Nur verzichtet Malewitsch auf Abbildung und Darstellung. Die Transzendenz, die er suggeriert, ist fassbar nicht durch Figürlichkeit, sondern eben durch das Schwarz. – Es gibt von Malewitsch auch ein Weißes Quadrat. Und Weiß ist die andere Farbe, die sehr viele Interpretationen zulässt und stark aus der Potentialität lebt. Aber das Schwarz ist opaker und in diesem Sinne womöglich näher an einer Vorstellung des Absoluten.
Ad Reinhardt hat fast nur schwarze Bilder gemalt und sich am Schluss das Leben genommen.
BRAUN Ich verbinde das Schwarz auch mit deiner Lebenserfahrung, die du in deinem Alphabet festgehalten hast. Hier verschwindet dein Ich in verdunkelten Zimmern, in dunkelgrauen, fast schwarzen Zimmern. Es gibt die lakonische Feststellung, dass du ein Drittel deines Lebens in verdunkelten Zimmern zubringen musstest wegen deiner Migräne. Insofern sind das Dunkel und das Schwarz deine Lebensbegleiter gewesen?
RAKUSA Das wäre die biografische Interpretation. Nämlich diese Erfahrung der Dunkelheit, wenn der Kopf so wahnsinnig schmerzt, dass man überhaupt nichts mehr verträgt, kein Licht, keine Gerüche, keine Bewegung. Nur das absolut dunkle Zimmer und die Regungslosigkeit bringen etwas Linderung. Im verdunkelten Siesta-Zimmer meiner Kindheit war das noch anders. Kein Schmerz zwang mich ins Bett. Durch die Jalousienritzen kam etwas Licht und bildete tanzende Lichthasen an der Decke. Das Wachsein in diesem Zimmer hat
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