„Jetzt ist es mir todernst“

Helena Adler im Gespräch mit Anton Thuswaldner über ihr Schreiben und den Roman Fretten.

Online seit: 2. Februar 2023
Helena Adler © Eva trifft
Helena Adler: Zu Hause gab es Gewalt, Gewehre, Jähzorn, Trotz.

Helena Adler sorgte vor zwei Jahren mit ihrem wilden und sprachmächtigen Roman Die Infantin trägt den Scheitel links für Aufsehen. Nun hat sie mit Fretten (süddeutsch/österreichisch: sich abmühen, sich plagen, mühsam über die Runden kommen, sich aufreiben) einen weiteren Roman vorgelegt, der auf der Shortlist zum Österreichischen Buchpreis stand. Der Literaturkritiker und Herausgeber Anton Thuswaldner führte mit der Salzburger Autorin per E-Mail ein Interview.

ANTON THUSWALDNER Liest man Ihre Bücher, bekommt man den Eindruck, dass die österreichische Provinz eine Menge an Sprengstoff birgt.

HELENA ADLER Richtig. Und ich lass es gern krachen. Da muss man lediglich die Augen und Ohren offen und den Schreibblock gezückt halten, sich vielleicht noch in den Zug von Graz nach Salzburg setzen, schon wird man Zeuge der perfidesten menschlichen Abgründe. So musste ich vor ein paar Tagen mitanhören, wie sich eine ältere Dame, fein herausgeputzt, über einen Bettler entrüstete, weil dieser vor dem Eingang von Swarovski lag. Sie meuterte darüber, dass nicht einmal die Stadt Graz imstande wäre, solche Unannehmlichkeiten zu beseitigen, da es sich um einen öffentlichen Platz handle. Dann fragte sie ungeniert: „Wie komme ich dazu, dass ich ein schlechtes Gewissen bekomme, nur weil ich zum Swarovski gehe und dieses Geschöpf mitansehen muss? Wie komme ich dazu?“ Das wird ein neuer Text, sag ich Ihnen, solche Dinge gehören gehört. Und es ist mir ein Fest, unter die schweren Barockkittel unserer Provinzstadt zu spechteln und die Dynamitschnüre zu zünden, die da aus allen engen Winkeln hervorlugen und aus Nobelnischen und Rosettenfenstern heraushängen. Noch eine Anekdote: Erst neulich habe ich mit meinem Sohn den Rupertikirtag besucht und musste mich, einer Abkürzung wegen, durch ein prall gefülltes Zelt zwängen, in dem gerade Bruegels Bauernhochzeit stattfand. Ich habe meinem Sohn schnell die Augen zugehalten, um ihm dieses Hochlebenlassen der irdischen Hölle mit den aufgeschnürten Busen in den Dirndln, den Stelzen und Pomaden, den Bratwürsten und den schmalzverschmierten Krachledernen, den darin eingezwickten Burschen, den Anblick vom Rosenkranz, den man dort im Bierzelt rechts gerade begrüßt hat, während im Dom links daneben für seine Vergehen gebetet wurde, zu ersparen. Er ist noch viel zu jung dafür. Wir konnten dann aber am Ende des Tunnels erleichtert die Geisterbahn betreten. Ich bezeichne mich gern als Genremalerin. Es sind Milieustudien, die ich anfertige. Und es ist mein Milieu, das ich darstelle, manchmal auch vom Rand aus. Ich mache nichts weiter, als meinen Alltag zu dokumentieren. Ich gebe meine Wahrnehmung wieder, die ja wiederum auch nicht die Wahrheit ist, aber ein großes Stück weit halt meine Wahrheit. Und ich sehe mich auch als Sprachbewahrerin. Ich möchte schier ausgestorbene Begriffe wieder animieren. Die deutsche Sprache beinhaltet viel unsympathische Begrifflichkeiten. Und doch ist da auch viel Messerscharfes und Humorvolles dabei. Kreuchen und Fleuchen zum Beispiel, vielleicht wird das der nächste Titel. Ein knuspriger Ausdruck für etwas, vor dem es jeden graust.

Es sind Milieustudien, die ich anfertige. Und es ist mein Milieu, das ich darstelle, manchmal auch vom Rand aus.

THUSWALDNER Die Gesellschaft auf dem Land, schlimm genug, dann kommt auch noch die Familie dazu. Frieden schaut anders aus.

ADLER Ja, ich weiß gar nicht mehr genau, wie Frieden ausschaut. Aber ich hätte gerne mehr davon. Ich wünsche ihn mir vor allem für unsere Kinder. Aber manchmal kann man den Frieden eben leider nicht praktizieren, oft muss man sich vorher wundreiben und kämpfen.

THUSWALDNER Sehen Sie sich in der Tra­dition der österreichischen Anti-Heimat­literatur?

ADLER Das kann ich nicht beurteilen. Ich liebe jedenfalls den Grund und Boden, auf dem ich aufgewachsen bin. Der Blick vom Hügel auf dieses saftige Bergpanorama: Staufen, Watzmann, Untersberg, die Nachtlichter der Stadt. Noch heute träume ich von unserem Sommerfeld hinterm Stall, Hanglage. Manchmal gleicht es einem Schlachtfeld, da sehe ich abgestürzte Flugzeuge, die brennen. Dann wiederum träume ich vom alten Haus, das ja in mir drinnen immer noch nicht abgerissen ist. Mit den Menschen in meiner Heimat hadere ich häufig. Ihre Borniertheit widert mich an, mich ekelt’s, wenn jemand über Bettler lästert, da gelüstet es mich, tätlich zu werden, und wenn ich schon keine Gnackwatschen austeilen darf, dann mache ich das halt zumindest auf dem Papier. Auf die hinlangen, die glauben, dass niemand zu ihnen hinreicht.

THUSWALDNER Mit dem Roman Die Infantin trägt den Scheitel links haben Sie jede Menge Aufmerksamkeit und viel Zuspruch erhalten. Erleichtert das die Arbeit am nächsten Buch oder ist so eine Vorgabe ein Hemmnis?

ADLER Weder noch. Es ist immer ein Gfrett. Mit dem Leben und mit dem Schreiben. Freilich möchte ich Resonanz, und wenn die positiv ausfällt, freut es mich umso mehr. Aber ob der Zuspruch tatsächlich mein Weiterschreiben erleichtert?

Vermutlich kann man sich auf dem Land nicht darauf herausreden, dass alles nur Literatur sei?

THUSWALDNER Ihr Debüt Hertz 52 erschien in einem kleinen Verlag abseits der Öffentlichkeit. Das geht so weit, dass die Infantin als Ihr Debüt bezeichnet wird, das eigentliche aber gar nicht vorkommt. Wie stehen Sie heute zu diesem Roman?

ADLER Ich stehe dazu, mehr nicht, aber weniger auch nicht. Peinlich sind mir immer nur