„Die Kunst kann Bilder erschaffen, die der Religion unerreichbar bleiben …“

Hartmut Lange – einst entschiedener Marxist, heute suchender Melancholiker – im Gespräch mit dem Theologen Jan-Heiner Tück über die Unsterblichkeit und den Trost der Literatur.

Online seit: 11.12.2017

JAN-HEINER TÜCK Sie haben früh zu schreiben begonnen. Gibt es einen Ur-Impuls?

HARTMUT LANGE Die Kunst kann keinen Ur-Impuls für ihre Entstehung in Rechnung stellen. Sie ist eine Begabung, die sich bis zur Triebtäterschaft zur Geltung bringen kann. Aber es gibt eben auch Leute, die, obwohl begabt, nie zur Feder gegriffen haben. Insofern bleibt die Entscheidung des Künstlers zur Kunst immer auch ein Geheimnis.

TÜCK Als junger Schriftsteller waren Sie bekennender Marxist. Als die Verbrechen Stalins bekannt wurden, hat das Ihre Systemgläubigkeit erschüttert. Sie sind vom ungläubigen Atheisten zum suchenden Agnostiker mutiert – eine Art Konversionserfahrung?

LANGE Der Marxismus versteht sich grundsätzlich als soziales Versprechen. Es ist ein Versprechen, das sich auf das konkrete Leben bezieht und die Fragen der Metaphysik spielen keine Rolle. Bei Marx wird der Gottesgedanke in die politische Ökonomie überführt unter dem Motto: „Der Mensch braucht Gott nicht, er muss genug zu essen und zu trinken haben“, und es ist klar, dass solch eine Lebensauffassung nur durch ein Höchstmaß an Verstandesseligkeit Plausibilität erlangt. Diese Verstandesseligkeit ist aber auf brutale Weise einseitig. Im Klassenkampf, für Marx das einzige Mittel, die soziale Gerechtigkeit durchzusetzen, kann jeder Gegner getötet werden, da man das Sterben als unerheblich ausgeklammert hat. Daraus folgt: Solange man auch als sogenannter Gut-Mensch dem rigorosen Begehren nach sozialer Ethik zustimmt, spielt der Massenmord keine Rolle mehr. Dem hat auch Brecht zugestimmt, und es ist klar, dass hier die Ideale des Humanen ohne jede Metaphysik durchgepeitscht werden. Aber wem dies bewusst wird, der kann der Rigorosität der sozialen Vernunft von Marx und Engels nicht mehr zustimmen. Insofern war meine Konversionserfahrung zunächst kein metaphysisches Erschrecken, sondern das blanke Entsetzen darüber, dass ich mich aus Gründen der sozialen Ethik in die Gefolgschaft von Verbrechern begeben hatte.

TÜCK Ist es nicht darüber hinaus ein Hohn, wenn das Leid vergangener Generationen mit dem kommenden Glück der Enkel gerechtfertigt wird?

LANGE Der historische Materialismus verachtet das Historische nicht, vielmehr sortiert er alles, was war, ist oder sein wird, nach den Maßgaben der sozialen Ethik. Verhängnisvoll ist, dass er eben diese Ethik seinem Willen zur Macht und damit seinen Verbrechen unterordnet.

TÜCK Aber verhängnisvoll ist doch auch, dass der Historische Materialismus die Toten ausklammert. Sie sind bestenfalls Dünger für eine bessere Welt …

LANGE Der historische Materialismus hat wenig Sinn für die Vergänglichkeit. Er bleibt auf das Leben ausgerichtet und kennt die existenzielle Not des Einzelnen nicht, also auch nicht die Verzweiflung über die Vergänglichkeit. Ihm ist jedes Transzendenzbegehren Schall und Rauch, da er das Bewusstsein lediglich einer sublimen Form der Materie zurechnet.

TÜCK Sie sind früh als Dramatiker im Gefolge von Brecht und Peter Hacks bekannt geworden. Ab den 1980er-Jahren sind Sie dann als Autor von Novellen hervorgetreten. Was hat diesen Wechsel der literarischen Gattung veranlasst?

LANGE Nur in einer freien Gesellschaft, die das konkrete Leben auch in seiner metaphysischen Bezüglichkeit akzeptiert, kann man die gottlose Existenz als „Krankheit zum Tode“ definieren. Hätte Kierkegaard damit rechnen müssen, jeden Augenblick vom Geheimdienst verhaftet zu werden, hätte er sich über die Gottesbezüglichkeit seiner Existenz keinerlei Gedanken gemacht. Nun gibt es für den Schriftsteller immer auch eine subjektive Verfasstheit, die ihm nicht von den gesellschaftlichen Verhältnissen aufgezwungen wird. Es gibt enzyklopädische Epiker wie Thomas Mann, der sich vor allem ausführlich äußern wollte, und es gibt die Veranlagung zur Lakonie wie bei Kafka, und ich hatte, da die Theaterverhältnisse für mich immer schwieriger wurden, irgendwann beschlossen Prosa zu schreiben. Und es scheint nicht unerheblich zu sein, ob man vorher Dramen oder Gedichte geschrieben hat. Beim Dramatiker wird die Prosa knapper, stringenter. Das kann man bei Kleist und Tschechow studieren, und nicht umsonst hat Theodor Storm die Novelle als Schwester des Dramas bezeichnet. Hier setzt sich der Formwille des Dramatikers durch, und dies geschieht unbewusst.

TÜCK Eine dichte Szene haben Sie in Ihrer Novelle Die Heiterkeit des Todes eingefangen. Eine ermordete Jüdin trifft ihren Peiniger und – liebt ihn! Der Zeuge dieser Annäherung ist empört, aber seine Empörung läuft ins Leere. Was hat Sie angeregt, dieses heikle Thema aufzuwerfen?

LANGE Die Gewissheit des Todes ist das negative Abstraktum, das wir zu fürchten haben, und es ist nur selbstverständlich, dass wir den Zustand des Todes relativieren. Das kann allerdings nur in der Vorstellungswelt geschehen, das heißt in der Sphäre der Kunst oder des Glaubens. Religionen sind meiner Überzeugung nach vor allem darauf aus, das ewige Leben zu sichern, und es war mir ein Bedürfnis, eine Kunstwelt zu schaffen, in der das ewige Leben keinen Platz hat. „Wo uns das Leben unglücklich macht, geschehen im Tod die Zeichen und Wunder“, dieser Ausspruch einer Ermordeten in meiner Erzählung weist darauf hin, dass der Zustand des Todes dem Zustand des Lebens ethisch überlegen ist. Die Kunst hat ihren eigenen Wahrheitsgrund. Sie kann transzendente Bilder erschaffen, die der Religion unerreichbar bleiben, weil diese darauf aus ist, der transzendenten Welt Wirklichkeit zu verleihen. Dies geschieht durch den Glauben, der konfessionell abgesichert ist, während die Kunst, auch im Bereich des Unmöglichen, immer auf ihren Scheincharakter verweisen kann. Insofern war es für mich eine Genugtuung, der tatsächlichen Welt die Überlegenheit einer erfundenen Welt in Rechnung zu stellen.

TÜCK Warum aber waren Sie darauf aus, das ewige Leben auszuklammern?

LANGE Weil das ewige Leben für mich nicht erstrebenswert ist. Ich finde es tragisch, dass man sterben muss, und doch macht mir die Vorstellung einer ewigen Fortdauer Angst. Kleist hatte ähnliche Probleme. Die Ewigkeit ist der Vergänglichkeit feindlich gesinnt, aber die Vergänglichkeit ist ein wesentlicher Bestandteil des Lebens. Das Leben wäre weniger wert, wenn ihm keine, wie auch immer geartete Grenze gesetzt wäre. Um diesen Sachverhalt zu kompensieren, brauche ich die Kunst. Sie bleibt dem Realen verpflichtet, während die Vorstellung vom ewigen Leben Gottes Geheimnis bleiben muss. Oder gibt es in der Bibel einen Hinweis darauf, was das ewige Leben bedeuten könnte?

TÜCK Für die Bibel ist die Hoffnung auf ewiges Leben nicht mit Langeweile, sondern mit Fülle verbunden, sie verheißt dem sterblichen Menschen Anteil an der Unsterblichkeit. Es geht um rettende Einbergung und Vollendung der Geschichte – durch das Gericht hindurch …

LANGE Das ewige Leben wäre also der gesicherte Fortlauf der Seinsstruktur, der wir angehören, und dadurch wäre auch das eigene, vergängliche Sein, das wesentlich zum Tode ist, mitaufgehoben. Die Sache ist nur die, dass die Seinsstruktur, auch wenn sie ewig dauert, kein Gedächtnis hat. Es gibt keine Ewigkeit des Augenblicks. Also müssen wir jemanden, nämlich Gott, erfinden, der alles vergängliche Sein, weil er es geschaffen hat, bei sich behalten kann. Gott selbst wäre hier die Ewigkeit. Daran gilt es zu glauben, und eine andere Möglichkeit kann die Vorstellungswelt, auch wenn sie in einer heiligen Schrift überliefert wird, nicht herbeizaubern. Was wir erfahren, ist Leben und Tod, was wir nicht erfahren, ist, ob dies jemanden in dem gesicherten Fortlauf der Seinsstruktur überhaupt interessiert.

TÜCK In Ihren Novellen versuchen Sie dem Problem der Vergänglichkeit auf eigene Weise beizukommen. Wie aber kann die Dichtung die Unausweichlichkeit des Sterbenmüssens kompensieren, wenn die Vernunft dies zugleich als schönen Schein entlarvt?

LANGE Die Dichtung kann die Unausweichlichkeit des Sterbens nicht kompensieren. Sie kann aber, indem sie eine eigene Vorstellungswelt schafft, trösten. Die Vernunft, die dies als schönen Schein entlarvt, ist grausam und beweist lediglich, dass sie von der existenziellen Not des Menschen nichts, aber auch gar nichts verstanden hat.

TÜCK Eine Antwort auf das Todesproblem wäre der Versuch, den Abschied von sich selbst schon einmal einzuüben. Hat diese Art Kosmos-Spiritualität in Ihrem Werk Spuren hinterlassen?

LANGE Eine religiöse Spiralnebelschwärmerei findet in meinen Novellen nicht statt. Dafür ist der Kosmos im Seinsverständnis mit aufgehoben, und selbst das Nichts wird als Zeugenschaft für die Sehnsucht nach einer glücklichen Welt aufgerufen, sodass man sagen kann: Hier herrscht kein kosmischer Pantheismus, hier erfindet sich die Poesie ihre eigene, bis in den Himmel reichende Anschaulichkeit.

TÜCK Ohne auf theologische Annahmen zurückzugreifen, haben Sie den Tod selbst als einen metaphysischen Begegnungsraum imaginiert, in dem „Zeichen und Wunder“ geschehen.

LANGE In der Novelle Die Heiterkeit des Todes geschehen tatsächlich Zeichen und Wunder, hier wird der Raum, der im Leben Verbrechen hervorgebracht hat, ethisch rekonstruiert. „Ich verstehe, dass Sie meine Liebe zu der Frau, die ich ermordet habe, missbilligen. Aber ich habe gebüßt. Und wann, wenn nicht im Tod, soll die Schuld, die wir am Leben haben, endlich einmal beglichen sein?“, sagt der Mörder zum Dritten, dem Zeugen. Dieser aber fragt sich am Ende, ob das Ganze nicht bloß eine „Erscheinung“ gewesen sei. „Wäre, was ich gesehen und gehört habe, wahr, dann gäbe es die Heiterkeit des Todes, und ich wünschte, keine Minute länger zu leben.“

TÜCK Der Irrealis zeigt eine signifikante Brechung an, eine Art Schwebe.

LANGE Sie haben vollkommen recht. Das Ganze bleibt in einer Art Schwebezustand, aber es ist dem Realismus der Lebenden geschuldet, dass sie Verbrechen begehen und dann darüber diskutieren, ob man dergleichen verzeihen kann. Und der Irrealis des Geschehens weist tatsächlich darauf hin, dass man solchen Problemen nur mit den Mitteln der Theologie beikommen kann. Wobei man sagen muss, dass auch die Theologie, will sie realistisch bleiben, den eigenen Schwebezustand nicht außer Acht lassen kann.

TÜCK Ihr Werk scheint bestimmt durch ein Zwiegespräch zwischen dem Philosophen, der das Todesproblem illusionslos analysiert, und dem Schriftsteller, der das Verhängnis des Sterbenmüssens durch Gegenbilder auflöst, die dem menschlichen Trostbedürfnis entsprechen.

LANGE Dem würde ich zustimmen. Es umschreibt exakt meine Situation. Aber dies trifft für viele Poeten zu. Auch Kleist, Rilke, Kafka oder Tschechow waren darauf aus, einen intellektuell begriffenen Sachverhalt, der ihnen unannehmbar schien, in einer frei erfundenen Anschaulichkeit, nämlich der Kunst, wieder aufzulösen.

 

Hartmut Lange, 1937 in Berlin geboren, arbeitete am Ostberliner Deutschen Theater und danach für verschiedene Berliner Bühnen. Für seine Dramen, Essays, Prosa und Übersetzungen erhielt er unter anderem den Gerhart-Hauptmann-Preis (1968), den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung (1998), den Italo-Svevo-Preis (2003) und den Rom-Preis der Deutschen Akademie Rom Villa Massimo (2016).

Jan-Heiner Tück, geboren 1967 in Emmerich am Rhein, ist Professor für Dogmatik und Dogmengeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Zuletzt erschienen der gemeinsam mit Tobias Mayer herausgegebene Band Nah – und schwer zu fassen. Im Zwischenraum von Literatur und Religion (Herder, 2017) sowie Auch der Unglaube ist nur ein Glaube. Arnold Stadler im Schnittfeld von Theologie und Literaturwissenschaft (Herder, 2017).

Quelle: VOLLTEXT 4/2017

Online seit: 19. April 2018

Hartmut Lange: Die Waldsteinsonate.
Fünf Novellen. Diogenes, Zürich 2017.
144 Seiten, € 20 (D) / € 20,60 (A).

Hartmut Lange: Über das Poetische.
Matthes & Seitz, Berlin 2017. 171 Seiten,
€ 14 (D) / € 14,40 (A).