„sehr schluderig und flüchtig“

Hans Weigel: der „Förderer“ als Schriftsteller. Von Wolfgang Straub

Online seit: 7. September 2024

Dreißig Jahre nach seinem Tod ist der Name Hans Weigel jüngeren Generationen von Leserinnen und Lesern kein Begriff mehr. Der Kritiker, Autor und Übersetzer Weigel führt seit Langem eine Existenz als Fußnote der Bachmann-Forschung, wird in der Literaturgeschichte nur mehr entweder als „Förderer“ einer jungen Schriftstellergeneration nach dem Zweiten Weltkrieg oder gemeinsam mit Friedrich Torberg und Ernst Haeussermann als einer der Initiatoren des sogenannten Brecht-Boykotts geführt, einer informellen Kampagne, die erreichte, dass in Wien 1953 –1963 kein etabliertes Theater ein Stück Brechts aufführte.

Die heutige Unbekanntheit steht in krassem Gegensatz zur immensen Produktivität und Publizität Weigels zu Lebzeiten: Von1946 bis 1962 war er als Theaterkritiker bei insgesamt über einem Dutzend Tages- und Wochenzeitungen sowie Kulturzeitschriften im gesamten deutschen Sprachraum tätig, stets bei mehreren gleichzeitig, daneben trat er regelmäßig in Rundfunksendungen auf; wenn irgendwo eine neue literarische Initiative entstand, war die „Institution“ Weigel wie selbstverständlich dabei: bei der Gründung des „Forum Stadtpark“, bei den ersten Rauriser Literaturtagen 1971, beim ersten Bachmann-Preis 1977; und schließlich veröffentlichte er von 1946 bis zu seinem Tod 1991 im Ein- bis Zweijahresrhythmus Bücher, manchmal mehrere in einem Jahr – 1965 waren es gar vier. Betrachtet man die Titel etwa dieser vier Publikationen, sieht man, wie weit sich Weigel 1965 bereits von einem künstlerischen Anspruch wegbewegt hat: Das tausendjährige Kind (zum österreichischen Patriotismus), Das kleine Walzerbuch, Pünktlichkeit für Anfänger und Apropos Musik – jeweils humoristische Annäherungen an das Thema mit dem Fokus des „geistreichen Bonmots“, ein Genre, das Weigel mit seinem zu Lebzeiten erfolgreichsten Buch, O du mein Österreich, 1956 erstmals bediente.

Hans Weigels Stück „Barabbas“ ist eine gemütliche Spießer-Kritik und zugleich eine moralische Entlastung für alle Zeit und damit auch für die Gegenwart.

Das war 1945 ganz anders: Der aus dem Schweizer Exil Remigrierte hatte wie viele österreichische Intellektuellen den Anspruch, nach dem „Dritten Reich“ das Land moralisch und künstlerisch zu erneuern. Mit zwei im damaligen Zentralorgan dieser angestrebten Erneuerung, der Zeitschrift Plan, 1946 erschienenen Gedichten lieferte Weigel zwei intensiv rezipierte Texte zur Zeit: Das Gedicht „No pasarán!“ erlangte einige Berühmtheit, allerdings nicht aus künstlerischen Gründen, sondern weil es die Toten der vergangenen Jahre als Opfer für eine bessere, antifaschistische Zukunft anrief: „In all den kommenden Jahren, / Und Europa soll künftig so aussehen, / Daß eure Opfer nicht sinnlos waren, / Getreu dem Geist, der den Krieg gewann, / Auf unseren Fahnen steht ,No pasarán!‘“ Und in einem Sonett mit dem Titel „An Karl Kraus als er in Nummer 1 der ,Presse‘ vom Jänner im Feuilleton genannt wurde“ beschwört er den Geist des großen Satirikers und fragt, die Abkehr der ehemaligen Neuen Freien Presse von ihrem Kraus-Boykott als Ausgangspunkt nehmend, im letzten Vers: „Kommt doch ein neuer, erster Tag ins Land?“

Die Geburt der Zweiten Republik aus dem Geiste Kraus’: Weigel konnte als Zeitzeuge, als Kraus-Hörer der nächsten Generation diese Vision mitgeben. Neuere, andersartige Anregungen hatte er aus der Schweiz keine mitgebracht, das war schon aus materiellen und logistischen Gründen gescheitert. Weigels Ästhetik war noch von der Ersten Republik geprägt, sein schriftstellerischer Heroe (und Freund) wurde Heimito von Doderer. Aber er hatte durchaus ein Auge für Gutes (er trat ab seiner Rückkehr aus dem Exil für Aufführungen und Buchausgaben von Nestroy, Horváth oder Schnitzler ein, als dies noch alles andere als selbst- verständlich war) und gutes Neues (er vermittelte Ilse Aichingers Roman Die größere Hoffnung an Fischer).

Interessanterweise war Weigel seinen eigenen literarischen Versuchen gegenüber weniger streng als bei Texten der jüngeren Kollegenschaft, die ihn – auch über ideologische Grenzen hinweg – als Lektor, Gutachter und Vermittler von Manuskripten aufsuchte. Vieles von dem, was er ab 1946 veröffentlichte, hatte er bereits im Rucksack bei der Remigration nach Wien dabei.

1946 war das Jahr, in dem Weigel literarisch reüssierte, als er als einer der ersten Zurückgekehrten sich im „neuen“ Österreich erfolgreich angekommen fühlen durfte. Er veröffentlichte Lyrik in der von Lilly Sauter herausgegebenen Zeitschrift Wort und Tat, etwa das holprige Gedicht „Für Liebende“: „Schließ die Augen, halt den Atem an, / Einen Augenblick und Atemzug denk dran, / Wie dir ist. Halt süßes Schweben fest, / Das Dich nicht zur Ruhe kommen läßt“. 1946 erschien Weigels erste Buchpublikation, Das himmlische Leben, ein Rückblick im Himmel über das vergangene Erdenleben, nicht surreal, sondern konventionell erzählt. Das kleine Büchlein erschien im Ibach-Verlag, dem Kleinstverlag des Codirektors des Theaters in der Josefstadt, Alfred Ibach. Ibach, der schon 1948 starb, verschaffte Weigel damit Legitimation als Schriftsteller. Den Verlag hatte Ibach 1938 von der geflohenen Inhaberin „übernommen“, er war also „arisiert“ worden.

1946 kam auch Der grüne Stern heraus, die Buchausgabe des 1943 in einer Schweizer Zeitung erschienenen Fortsetzungsromans. Der Roman führt in ironischer Erzählhaltung und in einem enthistorisierten Setting den zufälligen Aufstieg der vegetarischen Bewegung zur totalitären Macht vor Augen – der Bezug zum Nationalsozialismus ist evident, schon der titelgebende grüne Stern, den die Fleischesser nach der Machtergreifung der Vegetarier tragen müssen, gemahnt an den „Judenstern“.

Der Roman will offensichtlich keine Analyse für die Entstehung faschistischer Bewegungen liefern, auch wenn ihm das im Detail mitunter gelingt; er will in erster Linie unterhaltsam sein und baut daher natürlich eine Liebesgeschichte ein. Weigels Roman ist ein nicht uninteressantes Dokument eines Versuchs, auf verdammenswerte Zeitphänomene mit Satire zu reagieren. Wie Chaplins The Great Dictator entstand der Roman im Jahr 1940, als im Ausland die Gräuel des Holocaust noch nicht in ihrer ganzen Dimension bekannt waren. Was den Roman aber über manche Passagen schwer lesbar macht, ist seine Geschwätzigkeit. So geraten Weigel vor allem die Parodien zu umständlich, hier hätten Straffungen dem Roman gutgetan. Der Autor schien sich dieser Problematik bewusst zu sein: Zur Wiederauflage 1976 meint er, er habe „der Versuchung zu einer Bearbeitung widerstanden, obwohl mir etliche Partien der Überholung bedürftig scheinen“. Dass Weigels Story im Kern funktioniert, zeigte die Verfilmung durch Heide Pils 1983, die mit geringen finanziellen Mitteln aus der Vorlage einen beachtlichen, experimentierfreudigen Fernsehfilm schuf.

Weigel entschlüsselte in der Neuausgabe der „Unvollendeten Symphonie“ die
Ich-Erzählerin als Ingeborg Bachmann. So wurde der Text in erster Linie als Bachmann-Roman rezipiert.

Es war nicht die Prosa, mit der der Remigrant Weigel reüssierte. 1946 wurde am Theater in der Josefstadt Barabbas oder Der fünfzigste Geburtstag uraufgeführt. Der Wiener Kurier schrieb im April 1946: „Wenn die geistige Erneuerung Wiens vom Theater kommen kann, wenn dies noch immer und trotz allem möglich ist, dann hat dieser Barabbas von Weigel das Zeug dazu.“ Die Bilanz eines vergangenen bürgerlichen Lebens, die nicht von konkreten Zeitläufen berichtet, sondern große Menschheitsthemen wie Schuld und Sühne allgemein abhandelt, war offensichtlich ein knappes Jahr nach dem Ende des Weltkriegs dazu angetan, zum Stück der Stunde zu werden.

Aus der Distanz betrachtet ist, wie Peter Roessler nachgewiesen hat, Barabbas dem „Mittelstück“ der Kabaretts und Kellertheater der 1930er-Jahre verpflichtet und bleibt dabei gemütlich und humorig, sodass „in dieser musikalisch unterspickten Spießer-Kritik zugleich eine moralische Entlastung für alle Zeiten und damit auch für die Gegenwart enthalten ist.“ Barabbas wurde Ende der 1940er-Jahre an mehreren Theatern in Österreich gespielt und sogar am Berliner Theater am Schiffbauerdamm inszeniert. Allerdings konnte Weigel trotz mehrfacher Versuche an diesen Erfolg als Theaterautor nicht anschließen.

Noch zweimal versuchte sich Weigel als Romancier, bevor er als Literat hinter den Kritiker, Sachbuch-Autor, Molière-Übersetzer und Nestroy-Bearbeiter zurücktrat. 1951 erschien der Roman Unvollendete Symphonie, der, wie es in der Vorrede heißt, „Wien und Wiederkehr“ zum Thema hat, also das neue Zusammenleben der „Hiergebliebenen“ mit ihren Verstrickungen in die NS-Diktatur und der zurückgekehrten Exilanten. Um eine tragbare Brücke zwischen diesen beiden Gruppen errichten zu können, das expliziert der Text, dürfen die Vertriebenen und Ermordeten keine große Bedeutung erlangen. Der Roman hat eine weibliche Ich-Erzählerin, Protagonist ist allerdings der jüdische Remigrant Peter Taussig. Kurz vor seinem Tod fühlte sich Weigel bemüßigt, im Nachwort der Neuausgabe der Unvollendeten Symphonie (1992) die Ich-Erzählerin als Ingeborg Bachmann zu entschlüsseln. Und so wurde der Text auch in der Neuauflage 2015 in erster Linie als Bachmann-Roman rezipiert.

Mag man dem Roman in seinen Schilderungen des zerstörten Wien oder der Rolle des Remigranten in der Nachkriegsgesellschaft einiges abgewinnen, so wirken die Sätze, in denen Weigel seine Erzählerin ihren Liebhaber Taussig als ihren „Schöpfer“ anhimmeln lässt, doch degoutant. Da werden im Nachhinein „Lebenskränkungen hörbar: ,Die Bachmann‘ machte ihre Karriere an Weigel wie Österreich vorbei in Deutschland. [Er blieb] zeitlebens ein österreichisches Phänomen und schaffte den Sprung über die deutsche Grenze nicht einmal als Auskunftsperson für Bachmann-Biographen“ (Evelyne Polt-Heinzl).

1953 schrieb Weigel aus einem sommerlichen Rückzugsort in einem Brief an die Literatenrunde im Café Raimund (namentlich u. a. an Jeannie Ebner, Marlen Haushofer und Michael Guttenbrunner), dass er in zwei Wochen einen Roman verfasst habe und er es in Hinkunft nicht unterlassen werde, „auf dieses Beispiel hinzuweisen, wo man Zeitmangel vorschützt, um sich seiner literarischen Pflicht und Schuldigkeit zu entziehen“. Das Manuskript, die Parodie Iphigenie auf Geiselgasteig oder Goethe schreibt ein Drehbuch, reichte Weigel in der Folge bei mehreren Verlagen ein.

Im Nachlass sind Ablehnungsschreiben von sechs Verlagsanstalten erhalten, das Manuskript blieb ungedruckt. Ein Lektor, der den Text anonym begutachtet hat, schreibt: „Es ist nicht besonders gut geschrieben, ja zum Teil sehr schluderig und flüchtig. Auch scheint mir die ganze Geschichte viel zu lang ausgefahren.“ – So war also die „Drohung“, mit der Weigel seine briefliche Mahnung an seine „Schützlinge“ versah, schnell hinfällig: „Und Gnade Euch Gott, wenn er auch noch gut ist!“

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ZU RECHT VERGESSEN
Die Serie „Zu Recht vergessen – die besten schlechten Dichter aller Zeiten“ widmet sich dem Phänomen der Berühmtheit zu Lebzeiten, die durch keinerlei ästhetische oder poetologische Qualität gerechtfertigt ist. Der zu Recht vergessene, einst aber bekannte und gefeierte Autor ist mentalitätsgeschichtlich grundsätzlich interessanter als das zu Lebzeiten verkannte Genie, das „seiner Zeit voraus“ war. Im Unterschied zum „allzeit gültigen“ Werk des Klassikers stellt sich am Beispiel der Produktion des schlechten Autors oder der schlechten Autorin die Frage nach der historischen Kontingenz ästhetischer Werte und Wertungen. Oder, mit Karl Kraus gesagt: „Nicht alles, was totgeschwiegen wird, lebt.“

Wolfgang Straub, geboren 1968, lebt als Autor, Literaturwissenschaftler und Verlagslektor in Wien.

Quelle: VOLLTEXT 4/2021

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