Krieg und Frieden

Eine Wiedervorlage. Von Hans Christoph Buch

Online seit: 10. August 2021
Leo Tolstoj © Bibliothèque de Genève
Leo Tolstoj Mitte der 1860er-Jahre, als er Krieg und Frieden schrieb.
Foto: Bibliothèque de Genève

Brechts Diktum, in finsteren Zeiten werde gesungen von den finsteren Zeiten, lässt sich nicht übertragen auf die Corona-Pandemie, da jedes weitere Wort über Covid-19 das randvolle Fass zum Überlaufen bringt. Stattdessen ist gut beraten, wer vor den Zumutungen des Zeitgeists bei Klassikern Zuflucht sucht wie etwa im Decamerone, aus dessen im Zeichen der Pest erzählten Geschichten das hervorging, was wir heute Roman nennen. Aber ich lasse die Renaissance in der Schublade und gehe gleich in medias res, zu Krieg und Frieden von Tolstoj, einem Hauptwerk russischer Literatur, das ich mehrfach angelesen, frustriert zugeklappt und zur Wiedervorlage beiseitegelegt hatte. Dabei erging es mir ähnlich wie Turgenjew, einem Zeitgenossen und Bewunderer Tolstojs, der 1867, nach der Lektüre des Romananfangs, seine Eindrücke so formuliert:

„Zu meiner tiefen Enttäuschung muss ich gestehen, dass dieser Roman mir schlecht, langweilig und misslungen vorkommt. […] Tausend kleine Tricks, clever notierte, prätentiöse psychologische Beobachtungen, die Tolstoj unter dem Vorwand der Wahrheitssuche aus den Achselhöhlen und anderen dunklen Stellen seiner Helden hervorzieht – wie dürftig ist das vor dem historischen Hintergrund des Romans!“

Turgenjews hartes Urteil ist leicht nachvollziehbar für Leserinnen und Leser, die mit wachsendem Befremden die ersten hundert von über tausend Seiten durchackern: Eine bühnenreife Exposition, mehr Theater als Roman, Wallensteins Lager à la russe, wenn man so will: Kein repräsentativer Querschnitt durch die zaristische Gesellschaft, wie von einem historischen Roman zu erwarten, sondern eine endlose Folge von Bällen, Empfängen und Dîners, auf denen die Crème de la Crème, der Hochadel mit seinen Intrigen und Eifersüchteleien, Ticks und Marotten sich selbst feiert. Oder, mit den Worten des Kritikers Dmitrij Pisarew aus einer 1868 publizierten Rezension des ersten Drittels von Tolstojs Roman: „Was wird aus dem menschlichen Geist in einer Gesellschaftsschicht, die ohne Wissen, ohne Ideen, ohne Energie und ohne Arbeit dahinlebt?“ Gemeint ist der nicht nur von Oblomow verkörperte „überflüssige Mensch“ in der russischen Literatur.

Aus den sich überschneidenden Kreisen des Hoch- und Hofadels schälen sich nur langsam drei junge Männer heraus, die mehr passiv als aktiv zu Protagonisten der Handlung werden: Der „dicke“ Pierre, in dem Tolstoj sich selbst porträtiert (russisch „tolstoj“ heißt dick), ein unehelicher Sohn, dem sein adliger Erzeuger ein Millionenerbe hinterlässt, und die Freunde Nikolaj und André – alle drei an Parzival erinnernd in ihrer idealistisch übersteigerten Naivität. Hinzu kommt, mit Proust gesprochen, ein Strauß junger Mädchenblüten, allen voran Natascha, die wie ihre Cousine Sonja nah am Wasser gebaut ist und ständig grundlos weint oder lacht – über die Liebe, den Frühling oder den Mondschein: „Lauter albern affektierte, dämliche Wesen“, merkt, bekümmert über Tolstojs literarischen Absturz, Turgenjew dazu an.

Redundant und repetitiv

Doch das war nicht sein letztes Wort; nach Tisch las man es anders, und Turgenjew zollte Krieg und Frieden seinen Respekt. Festzuhalten bleibt, dass der fast nur aus Dialogen bestehende Einstieg in den Roman selbst für wohlmeinende Leser eine Zumutung ist – nicht umsonst hat Tolstoj in einer späteren Version pseudophilosophische Erörterungen und auf Französisch geschriebene Passagen entfernt und in den Anhang relegiert. Nicht nur die ersten hundert Seiten, der gesamte Romantext ist redundant und repetitiv: Von Nikolaj Rostow, der auf dem Schlachtfeld liegend in den blauen Himmel blickt, bis zu seinem Freund André, dem in Austerlitz dasselbe widerfährt – ein häufig wiederkehrendes, geradezu aufdringliches Symbol für religiöse Transzendenz: „Wie herrlich sah der Himmel aus! Wie blau, wie ruhig, wie tief! […] Die Angst vor den Tragbahren und vor dem Tod, die Liebe zur Sonne und zum Leben – das alles schmolz in ihm zu einer einzigen […] Empfindung zusammen. Herrgott […] rette mich!“

„André sah jetzt zum erstenmal wieder jenen hohen und ewigen Himmel, den er gesehen hatte, als er auf dem Schlachtfeld von Austerlitz lag“, usw. usf.

Zu aus der Trivialliteratur bekannten Tricks, mit denen Tolstoj die Handlung motiviert und Episoden miteinander verknüpft, gehört, dass Schwerverletzte wider Erwarten genesen, während leicht Verwundete sterben, Liebende nicht zueinanderfinden und Ehen zerbrechen wie im zu Recht berühmten ersten Satz seines Romans Anna Karenina: „Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.“

„Was wird aus dem menschlichen Geist in einer Gesellschaftsschicht, die ohne Wissen, ohne Ideen, ohne Energie und ohne Arbeit dahinlebt?“

Das ist das Gegenteil sentimentaler Klischees von Ehe- und Liebesglück, doch solch bestürzende Einsichten haben Tolstoj nicht gefeit vor schiefen Vergleichen und