„Jennylein, was war ich für ein Esel!“

Zu Recht vergessen: Hanns Heinz Ewers’ Gedankenexperimente und ihr braunes Ende. Von Clemens Ruther

Online seit: 8. September 2024

Vor Jahren gab es so etwas wie eine Initiative, die man approximativ Ein Buch fürs ganze Leben nennen könnte. Anlass war, dass der damalige niederösterreichische Landeshauptmann Erwin Pröll zugeben musste, erinnerlich (und nachhaltig?) nur ein Buch gelesen zu haben, nämlich Karl Mays Schatz im Silbersee. Eine Wiener Buchhandlung fand den passenden Slogan dazu und gestaltete eine ganze Auslage mit dem Lebensbuch des Landesfürsten.

Bei einem ähnlichen Zugang im Fall Adolf Hitlers (womit selbstredend kein politischer Vergleich insinuiert werden soll) würde man auf einen Roman stoßen, den der spätere „Führer“ nachweislich gelesen hat: Alraune. Die Geschichte eines lebenden Wesens (1911), eine dekadente Spätlese der Jahrhundertwende, verfasst von Hanns Heinz Ewers, dessen Lebensspanne fast vollständig jene beiden fatalen deutschen Versuche abdeckt, ein Reich – und dazwischen eine schwache Republik – zu errichten.

Alraune handelt (in sehr loser Anknüpfung an die alchimistische Legende) von der künstlichen (Er-)Zeugung einer Frau – ein häufiges Phantasma in der deutschsprachigen Kultur des frühen 20. Jahrhunderts, man denke etwa an Metropolis (1927). Während aber Fritz Langs Kino-Meisterwerk ein frühes Zeugnis deutscher Science-Fiction ist, hantiert Ewers noch mit dem Inventar der Schauerliteratur. Sein Mädchen namens Alraune wird von einem Professor aus dem Ejakulat eines hingerichteten Lustmörders im Schoß einer Prostituierten zusammengepanscht. Wenn man nun die häufig von grellem Geschlechterkrieg eingefärbten Diskurse jener Zeit kennt, die beginnt, das Verhältnis von Mann und Frau neu zu bestimmen, so wundert es kaum, dass das Ergebnis dieser wissenschaftlichen Zuchtbemühung ein Monstrum ist, beziehungsweise eine femme fatale, die gleichermaßen anzieht, auszieht und mordet, was ihr an Männern in den Weg tritt. Böse Zungen behaupten nun, dass Hitler von diesem Bestseller (eine halbe Million verkaufte Exemplare zu Lebzeiten des Autors sowie mehrere Verfilmungen) die schaurige Grundidee seines Rassezüchtungsprogramms entlehnt habe – das später unter dem Namen Lebensborn realisiert werden sollte.

Alraune ist Teil einer Trilogie, die nach ihrem gemeinsamen Protagonisten Frank Braun benannt ist. Dieser führt für seinen Autor in den drei Romanen unheilige und wenig humane Gedankenexperimente durch, die ebenso krass sind, wie sie scheitern. Nach der künstlichen Menschenzucht in Alraune sind dies die Massenmanipulation eines ganzen Dorfes in Der Zauberlehrling oder Die Teufelsjäger (1909) – ein Text, der thematisch interessante Überschneidungen mit Hermann Brochs Die Verzauberung (1936–1950) aufweist, – sowie eine epidemisch gewordene Blutgier in seinem Roman Vampir. Ein verwilderter Roman in Fetzen und Farben (1921). Hier sehen wir Frank Braun als Gestrandeten, der zu Beginn des Ersten Weltkriegs in den USA festsitzt, ohne Hoffnung, je nach Hause zurückzukehren. Er schließt sich einer Gruppe von Deutsch-Amerikanern an, die Propaganda und Lobbying für das Kaiserreich betreiben, und lernt dort Lotte Levi kennen. Sofort gibt es wieder femme-fatale-Alarm, denn die schöne rothaarige Jüdin steht zunächst im Verdacht, sein Blut zu trinken, bis sie ihm die geheime Wahrheit offenbart:

„Sie sagte: ‚Der Blutwahn ist es. Irgendwo fings an, in einem Land oder in mehreren zugleich. Sehr ansteckend ist es, reißt mit, was mit ihm in Berührung kommt. Blut wollen die Menschen, Blut! – Wie du! […] Fieberkrank war die Menschheit – und Blut muß sie trinken, um gesund zu werden und jung!‘“

Der Weltkrieg wird hier aber nicht nur als blutige Massenpsychose erklärt, mehr noch: der allergrößte Blutsauger ist 1918 schließlich das besiegte Deutschland selbst.

„‚Zu Boden liegen wir‘, sagte er. ‚Deutschland ist nicht mehr.‘ Da glänzten ihre Augen. ‚Es wird aufstehen vom Nichtsein, das Niedergebrochene!‘ flüsterte sie. ‚Man wacht über seinem Haupte am strahlenden Himmel! Es wird seine Feinde niederschlagen, wird triumphieren über alles, was gegen es steht – wie Horus, der Rächer seines Vaters.‘ […] – Alle Tage nun – heute und morgen und immer: Schwerttag, Kriegstag, Bluttag!“

In den drei Teilen der Frank-Braun-Trilogie bekommt also die boomende Jahrhundertwende-Fantastik in deutscher Sprache, der Ewers genauso wie etwa Gustav Meyrink (mit seinem unvergessenen Golem-Roman) oder Karl Hans Strobl angehörte, einen deutlichen Rechtsdrall und gebiert ein neues Gespenst: den deutschen Revanchismus der 1920er-Jahre. Der Protagonist erweist sich als perfektes Alter Ego (oder Wunschbild?) seines Autors, dessen biografische Erfahrungen er verarbeitet. So war auch Ewers selbst während des Ersten Weltkriegs in den USA und dürfte dort als Spion für das Deutsche Reich gearbeitet haben, was schließlich zu seiner Inhaftierung führte.

Generell ist der Autor ein skrupelloser und immer bedenklicherer Grenzgänger gewesen, ein Experimentator parallel zur Moderne, gewissermaßen Dr. Frankenstein zum Literaten resozialisiert. 1871 in Düsseldorf geboren, gerät der studierte Jurist nach einem kurzen Intermezzo beim Militär und einem längeren bei schlagenden Verbindungen schon bald in den Sog der fantastischen Literatur und des Kabaretts (wie im Übrigen auch Gustav Meyrink): in seinem Fall das Überbrettl in Berlin. Danach begann er sich einen Ruf als Reiseschriftsteller aufzubauen. Indem er sich verpflichtete, den Namen Hapag Lloyd in allen Texten zu erwähnen, durfte er gratis auf den Schiffen der Reederei mitfahren und gelangte so nach Spanien, Lateinamerika, in die Karibik und nach Indien. Daneben machte er sich als Drehbuchautor, Regisseur und Produzent des frühen deutschen Kinos verdient. So gilt sein Student von Prag (1913) als der erste deutsche Kunstfilm überhaupt.

Schon in seinen Schauergeschichten der Jahrhundertwende war Ewers wenig heilig oder extrem; ihn deswegen aber zum „Stephen King des wilhelminischen Deutschlands“ (Deutschlandfunk, 2020) auszurufen, scheint doch etwas überzogen. Schon bald erwarb sich Ewers jedenfalls den Ruf eines Vielschreibers, der alles außer Mord macht, etwa als er eine Fortsetzung zu Schillers Romanfragment Der Geisterseher vorlegte. Die Häme war häufig genauso groß wie die Auflagen hoch. Als Hans Reimann gleich nach Erscheinen des Vampir mit der Parodie Ewers. Ein garantiert verwahrloster Schundroman in Lumpen, Fetzchen, Mätzchen und Unterhosen (1921) konterte, lobte Kurt Tucholsky frenetisch:

„Diese Parodie ist fast schon Leichenschändung. Ewers, eine nette kleine Journalistenbegabung aus der Zeit des Spätnaturalismus, sah bald aus den Abrechnungen seiner Verleger und aus den Briefen jener Verehrerinnen (…), dass eines sich in Deutschland – und vielleicht auf der ganzen Welt – immer lohnt: durch heimliche Andeutungen mit satanischen Lastern zu prunken.“

In seiner Liebe zum reißerisch Außergewöhnlichen und Antibürgerlichen – wobei häufig die literarische Form nicht mit dem Inhalt mithalten konnte – ist der bohémien Ewers freilich auch ein sehr widersprüchlicher Autor. Zeigt er sich einerseits als Stirner lesender Anarchist, als Philosemit, der sich gegen die Diskriminierung der Juden stellt, als Anhänger des wegen Homosexualität inhaftierten Oscar Wilde (mit diversen Kontakten ins schwule Milieu des Kaiserreichs) und als früher Tierschützer, schwärmt er andererseits von seinen Schmissen und vollzieht wie erwähnt mit dem Weltkrieg eine national(istische)e Wende weg vom Kosmopolitismus. Diese neuerliche Selbsterfindung lässt sich freilich auch als Akt eines unfassbaren und doch naiven Opportunismus verstehen.

Ewers wirft sich nämlich den Nazis an den Hals. 1932 veröffentlichte er den Freikorps-Roman Reiter in deutscher Nacht, der ähnlich wie Arnolt Bronnens O.S.(1929) auf den Gefechten zwischen deutschen und polnischen Milizionären nach dem Ersten Weltkrieg aufbaut und ihn in rechtsextremen Kreisen salonfähig machte. Im selben Jahr erschien dann als Gipfel der Anbiederung sein Roman Horst Wessel. Ein deutsches Schicksal, der den 1930 von einem Kommunisten ermordeten SA-Führer verherrlichte und zu dessen Mythisierung in der NS-Propaganda beitragen wollte. Es gibt auch Stimmen, die behaupten, Ewers habe am Text des berüchtigten Horst-Wessel-Lieds als Ghostwriter mitgeschrieben.

Es formierten sich allerdings auch Ewers parteiinterne NS-Kritiker. Ihm wurde vorgeworfen, sein Roman sei nicht antisemitisch genug, der Autor zu dekadent, und auch die Darstellung von Wessels Verlobter Erna, einer ehemaligen Prostituierten, war nicht nach dem Nazi-Geschmack. 1934, nach dem sogenannten Röhm-Putsch, gelang es Ewers’ Parteifeinden schließlich, ihn mit Schreibverbot zu belegen, wobei pikanterweise zuerst seine Nazi-Romane von der NS-Zensur verboten wurden, dann Alraune und schließlich der Rest.

Nach langem Hin und Her schaffte es Ewers, den Publikationsbann wieder aufzuheben. Daneben zeigte er sich entsetzt von den Nürnberger Rassegesetzen 1935 und half offensichtlich auch jüdischen FreundInnen aus der Filmwelt bei deren Emigration, und es ist – neben seinen „entarteten“ Eskapaden – wahrscheinlich sein Ruf als „Judenfreund“ gewesen, an dem sein heftiger Flirt mit dem Dritten Reich letztlich scheiterte. 1943 starb er vereinsamt in seiner Wohnung am Berliner Tiergarten. Seine letzten Worte sollen laut seiner Sekretärin gewesen sein: „Jennylein, was war ich für ein Esel!“

Mit seiner zunehmenden Rechtslastigkeit hat Ewers jedenfalls – im Verbund mit seinem üblen alt-österreichischen Kollegen Karl Hans Strobl, der ein hoher Funktionär der NS-Reichsschrifttumskammer wurde – die deutschsprachige Fantastik der Jahrhundertwende zu Recht in literarischen Verruf gebracht; so sehr, dass der schwedische Autor Lars Gustafsson 1985 monierte, jener in der Horrorliteratur kultivierte Schrecken, bei dem der Mensch übernatürlichen Kräften ausgeliefert ist, die er nicht (mehr) kontrollieren kann, sei ein Zeichen reaktionären Denkens. Dagegen haben etliche AutorInnen und LiteraturwissenschaftlerInnen zu Recht protestiert. Und ebenfalls zu Recht, könnte man hinzufügen, ist Ewers, abgesehen von diversen dubiosen Reprints bei Amazon, vergessen. Ein spannendes Thema für die Literaturwissenschaft sind sein Leben und Werk aber allemal.

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ZU RECHT VERGESSEN
Die Serie Zu Recht vergessen – die besten schlechten Dichter aller Zeiten widmet sich dem Phänomen der Berühmtheit zu Lebzeiten, die durch keinerlei ästhetische oder poetologische Qualität gerechtfertigt ist. Der zu Recht vergessene, einst aber bekannte und gefeierte Autor ist mentalitätsgeschichtlich grundsätzlich interessanter als das zu Lebzeiten verkannte Genie, das „seiner Zeit voraus“ war. Im Unterschied zum „allzeit gültigen“ Werk des Klassikers stellt sich am Beispiel der Produktion des schlechten Autors oder der schlechten Autorin die Frage nach der historischen Kontingenz ästhetischer Werte und Wertungen.

Clemens Ruthner, geboren 1964 in Wien, ist Literatur- und Kulturwissenschaftler am Trinity College Dublin.

Quelle: VOLLTEXT 3/2021

Online seit: 8. September 2024