Nachdem mich schon in Ihrem letzten Brief Ihr Wappen beschäftigte, erschlägt mich heute geradezu Ihr rätselhaftes Maiglöckchenparfum“, schreibt Gottfried Benn am 2. Oktober 1936 an Herrn Oelze. Seine Spürnase bleibt ihm auf den Fersen; er schließt: „Ihr Parfum ist ja Jasmin, nicht muguet! Herzlich Ihr Benn.“
Der Dichter verlässt sich, wie auch sonst, auf seine fünf Sinne, er fühlt, ertastet, schmeckt und riecht das Gegenüber, das ihm, ganz anders, höchste Verehrung, tiefgründige Deutung von dessen Essays und Gedichten, vielfache Bemühungen und historische Reminiszenzen entgegenbringt. „Das Höchste, was meinem Leben zu erreichen vergönnt war, ist Ihre Freundschaft. In Ihrem Namen liegt für mich höchstes Sein und tiefste Verpflichtung gleichermaßen beschlossen“, verkündet Oelze an Silvester 1935.
Der Empfänger hat es gern, wie man in Berlin sagt, ’ne Nummer kleener. Beide Charaktere könnten unterschiedlicher nicht sein, am ehesten gehören sie noch dem Alter nach zusammen, Benn wurde 1886, Oelze 1891 geboren. Aber gerade in ihrer Gegensätzlichkeit verbinden sich beide umso mehr. Fast ein Vierteljahrhundert tauschen Benn und Oelze Briefe, manchmal täglich, mit einigen Unterbrechungen, fast wie ein Tagebuch, 2.334 Seiten liegen erschlossen, mustergültig ediert in vier kompakten Bänden vor uns. Von den 1.349 Briefen waren etwas mehr als die Hälfte, Benns Briefe, 1978 bis 1980, erschienen. Nun kommen die Gegenbriefe von Oelze hinzu. Beim Wiederlesen des einen, beim Entdecken des anderen Teils wird man gewahr, wie viel beide einander verdanken an Anregungen, Fragen wie Antworten, Zweifeln, halben, zuweilen ganzen Gewissheiten.
Die Korrespondenz beider reicht von der Weimarer Republik, deren Schlusslichter noch zu erspähen sind, dem nationalsozialistischen Staat, dem Benn am Beginn seine Reverenz erweist und mit dem er später heftig in Konflikt gerät, der Ideologie von Krieg und Völkermord, dem Zweiten Weltkrieg mit allen seinen Schrecken, die unmittelbare Nachkriegszeit im geteilten Berlin und im eine halbe Weltreise entfernten britisch besetzten Bremen und schließlich in die frühe Bonner Bundesrepublik in ihrem Aufbruch und ihrer Restauration. Wohl keine andere Korrespondenz des reich verbrieften 20. Jahrhunderts gibt ein so anschauliches Bild ihrer Zeit politisch, gesellschaftlich, literarisch, biografisch, vor allem in ihrem Alltag. Schon in der Choreografie des Auftritts der beiden Protagonisten, erst recht aber in dem, wovon sie beiläufig oder stilisiert gezielt berichten, müsste dieser Briefwechsel eine Fundgrube für Theaterautoren, für ein filmisches Doppelporträt von, sagen wir, Heinrich Breloer sein.
Oelze hatte seine Briefe an Benn von der auch postumen Veröffentlichung ausgeschlossen; ihnen komme „nicht mehr zu als die Bedeutung von Anregungen, Stichworten, Fragestellungen; alles Wesentliche enthalten die Antworten des Dichters“. Oelzes Bescheidenheit ist in der Konstellation dieses Briefwechsels begründet, wie in der Konstitution von Herrn Oe. – die neue Edition weist ihn als einen glänzenden, vielseitigen, eigensinnigen Briefschreiber aus. Erst auf dem Sterbebett hatte Oelze 1978 seine testamentarische Verfügung gegenüber seinem literarischen Nachlassverwalter und späteren Herausgeber Harald Steinhagen in diesem Punkt gelockert. Die bald darauf so berühmt gewordenen Briefe an Oelze nehmen jetzt, fast vierzig Jahre später, neue und endgültige Gestalt in ihrem ursprünglichen Aggregatzustand der Korrespondenz an. In deren Hin und Her tritt in 569 Briefen (einige darüber hinaus müssen als verloren gelten) die zweite Hauptperson aus dem selbstgewählten Schatten: Herr Oelze aus Bremen. Über 24 Jahre blieben beide Herren bei dem verlässlich distanzierten wie nahen Sie.
Extravagant elegant
„Hören Sie“, schreibt Benn am 16. Juni 1936 an Oelze, „was ich an eine Berliner Bekannte anlässlich unseres letzten Zusammenseins schrieb: ‚seine äußere Person hat die Sicherheit der Raumgliederung wie ein grosser Schauspieler, manchmal wirkt er überhaupt wie aus einer Revue, etwa Hoffmanns Erzählungen, am Rande zwischen Realität u. Halluzination. Sein grösster Moment wäre, wenn er aus der Kulisse tritt: hyperbolisch, bannend, extravagant. Nehmen Sie nun noch seinen Geist u. seine notorische Tiefe dazu, so werden Sie verstehn, dass ich ihn eine einzigartige deutsche Erscheinung nannte.‘“
Tatsächlich schrieb Benn fünf Tage zuvor an Tilly Wedekind: „Mit Oelze war es nett. Trafen uns bei Kasten, gingen aber in mein Weinhaus Wolf, wo man sich besser unterhalten kann. (…) Oe. sah extravagant elegant aus. Wirklich ein merkwürdig ungewöhnlicher Typ, gänzlich undeutsch. Sieht älter aus, als er ist (45 J.), Haar fast weiß, sehr schlank, schmales spitzes Gesicht, Gesichtsfarbe rötlich wie bei Lungenkranken, unwahrscheinlich gut angezogen. Er sieht eigentlich aus wie aus einer Revue, Hoffmanns Erzählungen, am Rand von Wirklichkeit u. Halluzination. Wir saßen bis 12 ½. Er fuhr nachts weiter. Ich habe ihm aufgegeben, das nächstemal Bilder von seinem Haus, Frau, Sohn mitzubringen, damit ich endlich wüßte, mit wem ich es zu tun habe! Ob er im Unterbewußtsein doch homo.. ist? Ohnedem ist er eigentlich unerklärlich.“
Kalte erotische Perversität
Auch hier ließ Benn seine Spürnase nicht im Stich. Vieles deutet darauf hin, dass der Bremer Kaufmann, britisch kolonial geprägt, großbürgerlich elegant, mit vielen Verbindungen ins europäische Ausland und Übersee, tipptopp gekleidet, kultiviert empfindsam, gebildet, magenkrank, verheiratet, der einzige Sohn fällt im Krieg, homosexuell war.
Dr. Benn diagnostiziert knapp: „Was Sie haben, ist mir klar. Eine mittelschwere Neurose, eine Sexualneurose, an dieser Diagnose zweifle ich nicht.“ Bei aller Camouflage und Selbstmystifikation berichtet der daraufhin offen von seiner „kalten erotischen Perversität“ Frauen gegenüber, „bis ins Strafrechtlich Verbotene“. Unwillkürlich denkt man an den § 175 des deutschen Strafgesetzbuches, der in der von den Nationalsozialisten verschärften Form weit in die Nachkriegszeit Tausende von Männern ins Zuchthaus brachte. Da war gute Regie besser als Gesetzestreue.
Der vermeintlich kühle Benn, der in einem Brief Passion auf Illusion reimt, zeigt sich nach dem Tod seiner zweiten Frau ganz anders. Herta Benn hatte sich im Sommer 1945 angesichts der gerade anstehenden Ablösung der amerikanisch-englischen durch die russische Besatzung von Neuhaus an der Elbe, wohin sie aus dem zerbombten Berlin evakuiert war, das Leben genommen – „Das Nähere ist zu traurig, um es zu erzählen.“ Wochen später schreibt Benn dem Freund: „Ich war im September an dem Grab. Dies Grab u. dieser Tag dort! Mit jedem neuen Tag wird jetzt mein Kummer unerträglicher, es trifft wohl garnicht zu, dass die Zeit einen Verlust lindert.“
Oelze verwahrt Benns Schriften, auch vor dem drohenden Zugriff der Gestapo, er liest Korrektur, rät bei allen Veröffentlichungen, hilft mit Rat und Tat, wo immer er es vermag, er schickt zu den Feiertagen Nelken, Stollen und immer wieder Rum in die Bozener Straße, er übersetzt für Benn aus dem Englischen, tauscht mit ihm Lektüreeindrücke von Wilde, Céline, Miller, Auden, Eliot, Thomas Mann, den Oelze nicht ausstehen kann und mit dem er doch kurz vor dessen Tod 1955 seinen Frieden findet. Überhaupt ist das Ressentiment bei ihm viel ausgeprägter als bei Benn, auch der nachgetragene Hass auf „jüdisch Versippte“, Johannes R. Becher nennt er 1948 „einen Ostjuden“, der Kommentar weist treuherzig darauf hin, dass der aus einem assimilierten Münchener Elternhaus stammte. „Oelzes herabsetzend gemeinte Bemerkung kann sich also nur auf Bechers Funktion als Präsident des Kulturbundes in der sowj. Besatzungszone beziehen.“ Nein, man darf davon ausgehen, dass Oelze um die ganze historische Reichweite von „Ostjuden“ wusste. Diese Korrespondenz liest sich wie ein Lehrstück des Antisemitismus der gebildeten Stände in Deutschland nach 1945 und ihrer durchgängigen Konversion, die Opfer zu Tätern, Täter zu Opfern macht.
Wahlempfehlung für Adenauer
Davon blieb der robustere, sinnenfreudige Benn, dem die junge Bundesrepublik bald Anerkennung zollte, frei. Den selbstmitleidigen Kaufmann erinnert er daran, dass der dem Wirtschaftssystem „alle Vorzüge und Schönheiten“ seines Lebens verdanke: „Dass dahinter Raub und Mord steht, war Ihnen ja zur Genüge bekannt.“ Und er gibt für die nahe Bundestagswahl 1953 eine Empfehlung: „(Also gehen Sie doch wählen! Adenauer ist ja doch der beste Mann, der einzige mit etwas Haltung und Erfolgen und beides ist doch das Einzige, was man von einem Politiker verlangen kann).“ Von Politikern erwartete Benn nach allem nur noch des Kanzlers spätere Losung: „Keine Experimente“.
Was immer unsere beiden Briefschreiber trennte, sie verband wechselseitige Achtung, Aufmerksamkeit füreinander, Sorge um den anderen, ideologisch überhöht bei dem einen, skeptisch-lakonisch beim anderen. Als Oelze einmal resigniert nachsinnt, nicht einmal als Mäzen tauge er etwas, widerspricht ihm Benn: „Sie sind ein luxuriöser Mäzen für mich gewesen, Ströme von Gaben haben Sie an mich gerichtet, ohne die ich vermutlich mich aufgegeben hätte …“ In dieser Korrespondenz waltet eine ganz eigene, wunderbare Dialektik von Herr und Herr.
Am 7. Juli 1956 starb Gottfried Benn in Berlin. Friedrich Wilhelm Oelze sollte ihn fast so lange überleben, wie ihre Korrespondenz dauerte, er starb 22 Jahre später, 1978. Jahrzehnte später hält die erstaunte Nachwelt einen großartigen Fund in Händen, der phantastisch tiefe Einblicke in die Geschichte gewährt, die mitunter wie unsere Gegenwart anmutet. Diese Korrespondenz sollte nach sechzig Jahren ein Nachspiel haben. Ein knappes Jahr vor seinem Tod schickt Benn die mit vielen Gedankenstrichen versehene Strophe eines Gedichts nach Bremen: „ – Keiner weiss, wo sich die Keime nähren, / Keiner, ob die Krone einmal blüht. / – Halten, Harren, Sich gewähren / Dunkeln, Altern – Aprèslude –.“