Keine Schreibmaschine, keine Signierstunde

Gisela Trahms im Gespräch mit dem Julien Gracq-Übersetzer Dieter Hornig.

Online seit: 4. September 2020
Julien Gracq, Dieter Hornig (c) Jose Corti
Julien Gracq (links) und sein Übersetzer Dieter Hornig. In den letzten zwanzig Jahren seines Lebens wurde Gracq zu einer Kultfigur, zum größten lebenden Mythos der französischen Literatur, zum letzten Klassiker, „den man noch telefonisch erreichen konnte“. Fotos: Jose Corti (Gracq), privat

GISELA TRAHMS Wann sind Sie Julien Gracq zum ersten Mal begegnet?

DIETER HORNIG Ich habe Gracq zum ersten Mal 1989 – auf seinen Wunsch hin – in seiner Pariser Wohnung in der Rue de Grenelle 71 besucht, nachdem ich die Übersetzung von Die Form einer Stadt abgeschlossen hatte. Das Treffen kam durch die Vermittlung seines Verlegers zustande. José Corti, der in seiner Buchhandlung in der Rue de Médicis auch seinen Kleinverlag führte, war vier Jahre zuvor gestorben. Er hatte während der Okkupation klandestine Texte der Résistance gedruckt, sein Sohn war in den Lagern der Nazis umgekommen. Sein Nachfolger, Bertrand Fillaudeau, saß nun in dem wunderbaren Laden mit den hohen Regalen, in dem es nach Holz, Leim und Druckerschwärze roch. Die Bücher des Verlags werden auch heute unverändert hergestellt: Der Leser muss die Seiten selber mit dem Papiermesser aufschneiden. In einem der zwei Schaufenster lagen seit Jahren ausnahmslos die Werke von Gracq, der seinem Verleger bis zum Ende treu geblieben war. Am 20. Mai traf ich also mit leichter Verspätung und etwas verschwitzt – ich hatte mich, eine typische Freudsche Fehlleistung, in der Adresse geirrt – in Gracqs kleiner Wohnung im fünften Stock ein. Ein Balkon erlaubte den Blick über die Dächer und Schornsteine der umliegenden Wohnhäuser: eine Szenerie, die in den Witterungen wunderbar beschrieben ist. Die Wände waren kahl, Gracq wohnte bereits in Saint-Florent und kam nur mehr selten nach Paris. Wir saßen auf Korbmöbeln, die er anscheinend gleichzeitig mit der Wohnung erstanden hatte. „Je ne suis pas très meublant“, hat er mit seinem Sinn für die originelle Formulierung einmal geschrieben. Gracq war unprätentiös, bescheiden, brillant, luzide. Druckreif kommentierte er Aktuelles und erhellte es mit Abschweifungen in die Antike oder ins neunzehnte Jahrhundert. Er monologisierte niemals, ging auf den Besucher ein, stellte Fragen und hörte aufmerksam zu. Ein richtiges Gespräch kam dennoch nicht zustande. Wir waren beide schüchtern, die Verlegenheit auf beiden Seiten war spürbar. Gracq war damals 79, vor ihm saß ein junger Mann von 35 mit schulterlangen Haaren und in abgewetzten Jeans. Vielleicht war er ein wenig gerührt, dass sich jemand aus einer ganz anderen Generation so intensiv mit seinen Büchern beschäftigte.

TRAHMS In Frankreich ist Gracq ein Klassiker, wie kam es zu seiner Kanonisierung?

HORNIG Gracq wurde in den letzten zwanzig Jahren seines Lebens – ohne es anzustreben – zu einer Kultfigur, zum größten lebenden Mythos der französischen Literatur, zum letzten Klassiker, „den man noch telefonisch erreichen konnte“, wie ein Kritiker formulierte. Natürlich hat die Aufnahme seiner Werke in die Bibliothèque de la Pléiade, dem französischen Literaturpantheon im Verlag Gallimard, eine Rolle gespielt. Nur ganz wenige Autoren erreichen das zu Lebzeiten. Eine Würdigung folgte auf die andere, auch die Literaturwissenschaft tat das Ihre, aber bemerkenswerterweise wurde die Kanonisierung auch von jüngeren Schriftstellern mitgetragen. Dabei ist sie paradox: Gracq hatte seit 1970, seit der Halbinsel, keine Romane oder Erzählungen mehr publiziert, sondern nur noch Städteporträts (Nantes, Rom) und vermischte Aufzeichnungen, zum Großteil über Literatur (Lesend schreibenWitterungen). Er hat aber praktisch bis zu seinem Tod weitergeschrieben, bis die Arthrose in den Fingern ihn endgültig am Schreiben hinderte. Er tat es, wie er selbst sagte, aus hygienischen Gründen, um den Verlust des Wortgedächtnisses möglichst lange hinauszuzögern. Im Jahr 2000 hat er seinen Status in der Zeitung Le Monde selbst ironisch kommentiert. Er war sich bewusst, der letzte Vertreter einer bestimmten Konzeption von Literatur zu sein: radikal außerhalb des Betriebs, ohne Schreibmaschine oder Computer, ohne Signierstunden auf Buchmessen, ohne mediale Präsenz. „In der Literatur habe ich keine Kollegen mehr“, schrieb er und sah sich selber als ein folkloristisches Überbleibsel, auf das man die Touristen hinweist wie auf den vom Bauern selbst geräucherten Schinken. Natürlich gab es auch ein paar spöttische Töne in diesem Lobeskonzert: das Adjektiv sei sein Laster, seine Prosa sei überladen und stellenweise wie eine „fette Gans“, aber selbst der Spott blieb liebevoll und zärtlich. Gracq war ein humorvoller Mensch, der Rugby, Fußball und Jules Verne liebte, leidenschaftlich gern seinen Bumerang über die Wiesen an der Loire schleuderte und seinen Gästen Wein aus eigenen Weingärten servierte.

„In der Literatur habe ich keine Kollegen mehr“, schrieb Gracq und sah sich selber als ein folkloristisches Überbleibsel, auf das man die Touristen hinweist wie auf den vom Bauern selbst geräucherten Schinken.

TRAHMS Wie würden Sie Gracqs Verhältnis zur Sprache charakterisieren?

HORNIG Gracq schrieb keine engagierte Literatur und passte auch ideologisch