Bedingt brauchbar

Ein Streifzug durch neuere germanistische Kompendien. Von Uwe Schütte

Online seit: 16. Januar 2018
Germanistische Kompendien
Literaturwissenschaftliche Kompendien: In Restbeständen zumindest zahlt sich die Arbeit der Germanistik auch für eine allgemeine Leserschaft noch aus.

Anfang dieses Jahres war es wieder einmal soweit: Eine im Spiegel publizierte Generalanklage gegen die Germanistik sorgte für sofortige Empörung in der Disziplin, gefolgt von einer vorübergehenden Diskussion samt Gegenstellungnahmen üblicher Verdächtiger. Natürlich sei die Germanistik unverzichtbar, so gaben Junior- wie Seniorprofessoren zu Protokoll, die Studierenden dürfe man – als Kinder ihrer medienüberfluteten Zeit – nicht für die Unkenntnis zentraler Autoren oder unverzichtbarer Bücher kritisieren, wie auch die Bereitschaft der Literaturwissenschaftler, sich Bereichen jenseits ihrer Kernaufgabe der Textanalyse zu widmen, doch Belobigung verdiene, war da etwa zu lesen.

Vielleicht hätte man lieber per unbezahlter Pflichtlehre ausgebeutete Privatdozenten befragt, die jahrelang mit schwindender Hoffnung auf eine Professur dem Abstieg in den Status eines überqualifizierten und damit schwervermittelbaren Langzeitarbeitslosen entgegensehen. Deren Blick auf ihre Profession wäre ein zweifellos interessanterer gewesen, denn er hätte ein anderes Bild dieses Massenfachs ergeben, das massenhaft in prekäre Verhältnisse entlassene Praktikanten und Kurzzeit-Projektangestellte mit Doktortitel produziert. In Anlehnung an Thomas Bernhards Klage, dass es in Österreich bald schon mehr Ober mit Professorentitel als ohne gäbe, darf man angesichts des Eifers, mit dem in saftig dotierten Sonderforschungsbereichen dutzendfach promovierte Germanisten produziert werden, davon ausgehen, dass es bald mehr Arbeitslose mit Doktortitel gibt als ohne.

Periodischer Selbstzweifel

Zu kritisieren an der Germanistik gibt es also einiges. Wenigstens ist sich die Disziplin dieses Umstands selber bewusst. Schon vor vielen Jahren hatte Karl Heinz Bohrer lakonisch konstatiert: „Die Geisteswissenschaften befällt seit längerem schon periodisch ein Anfall von Selbstzweifel.“ Zur Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz der Germanistik gehört aber nicht nur ihre soziale Verantwortung, sondern ebenso der Aspekt der Brauchbarkeit ihrer Produkte über den engeren Fachkreis hinaus. Was die in den Doktorandenschmieden entstehenden Promotionsschriften betrifft, so ist mindestens seit den letzten zehn Jahren ein stetiger quantitativer Anstieg in Zahl wie Länge zu verzeichnen ohne korrespondierende qualitative Verbesserung. Manche jüngere und jüngste Promotionsschriften – auf Nennung konkreter Beispiele sei hier bewusst verzichtet – sind nachgerade unlesbar. Doch wie steht es um germanistische Publikationen, in denen es gerade um eine breite Verständlichkeit gehen sollte, da die entsprechenden Werke wie Handbücher, Einführungen und Überblicksdarstellungen primär für Studienanfänger geschrieben werden, zugleich aber auf ein Marktsegment jenseits der Proseminare schielen.

Denn passionierte Leser, die einen Bedarf an – wie es so schön heißt – „Sekundärliteratur“ haben, weil sie vom Fachwissen der Experten zu profitieren hoffen, um den Lesegenuss an Büchern ihrer Lieblingsautoren zu verstärken oder auf ihnen noch unbekannte Autoren zu stoßen, mögen heutzutage vielleicht einen Atavismus darstellen, doch gibt es sie durchaus noch. Werden sie von der Germanistik angemessen bedient? Versuchen wir eine Antwort zu finden anhand von vier exemplarischen Werken.

Den Anfang macht eine umfassende Geschichte der deutschen Literatur, die 2016 in vierter, aktualisierter Auflage als Taschenbuch erschienen ist. Interessant ist dieses literarhistorische Unterfangen allein deshalb schon, weil es ein Produkt der Auslandsgermanistik repräsentiert, entstanden in den 1990er-Jahren an der Universität von Odense in Dänemark als Gemeinschaftsprojekt unter der Federführung des (mittlerweile verstorbenen) Bengt Algot Sørensen. (Ein ähnliches literarhistorisches Nachschlagewerk hat übrigens auch die kroatische Germanistik vorgelegt, nämlich die von Viktor Žmegač in drei Bänden publizierte Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, welche erstmals 1984 erschien.)

Der zweite Band von Sørensens deutscher Literaturgeschichte umfasst etwas über 500 Seiten und reicht vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Genauer gesagt, beginnt er um 1815, also im Zeitalter von Biedermeier und Vormärz; eine angesichts der offenkundigen Parallelitäten zur Gegenwart unverändert reizvolle Epoche der deutschen Literaturgeschichte. Zunächst wird die bis 1848 reichende Periode kurz in ihren politischen und sozialen Grundzügen erklärt, um den Zeithorizont zu definieren, vor dem die literarischen Texte entstanden sind. Auf gerade mal elf Seiten muss dies notwendigerweise knapp ausfallen, zugleich aber darf man solche Grundkenntnisse kaum mehr automatisch voraussetzen. In der Skizzierung des historischen Hintergrunds drückt sich die zu befürwortende Sichtweise dieser Literaturgeschichte aus, nämlich Literatur dezidiert vor dem realen Hintergrund ihrer Entstehungsumstände zu begreifen. Bevor das Buch dann konkret auf acht exemplarische Autorinnen und Autoren der Zeit eingeht, widmet es sich einer grundsätzlichen Einschätzung, wie sich die Entwicklung der Gattungen Lyrik, Epik und Drama im Zeitalter politischer Repression und keimenden Aufbegehrens gestaltete.

Wie bei einem außerhalb der „Inlandsgermanistik“ entstandenen Werk nicht erstaunen wird, vermeidet es jene imperiale Sichtweise, welche etwa in einer 1994 von Marcel Reich-Ranicki herausgegebenen Anthologie zum Ausdruck kommt, deren notorischer Titel Deutsche Erzähler des 20. Jahrhunderts: Von Arthur Schnitzler bis Robert Musil lautet. Das Biedermeier-Kapitel berücksichtigt nämlich Grillparzer wie Stifter, und auch in fast allen weiteren Epochen-Abschnitten machen Österreicher und Schweizer bis zu 50 Prozent der besprochenen Autoren aus. Im Kapitel zur Literatur der zwanziger Jahre stehen dem Deutschland allein repräsentierenden Döblin sogar mit Broch und Musil gleich zwei österreichische Schriftsteller gegenüber.

Deutsche Identitätsproblematik

Ganz im Gegensatz dazu ist das letzte Kapitel, das die Gegenwartsliteratur im Zeitraum von 1990 bis 2016 behandelt, ganz der literarischen Reflexion deutscher Identitätsproblematik seit der Wiedervereinigung gewidmet und räumt daher insbesondere Autoren aus Ostdeutschland gebührenden Raum ein. Am Testfall Thomas Bernhard wiederum lässt sich exemplarisch erkennen, wie eine solche Literaturgeschichte an dem Versuch scheitern kann, die Vielzahl relevanter Autoren einer Zeitperiode einzuordnen in eine übergreifende Epochenerzählung: abgesehen von ein paar Namensreihen, in denen er en passant vorkommt, wird lediglich Bernhards Dramatik in einem Absatz summarisch abgehandelt. Das dürfte nicht nur österreichischen „Nutzern“ dieses Werkes unbefriedigend erscheinen.

Nicht ganz befriedigend ist auch der Umstand, dass die Verfasser offensichtlich vor der notwendigen Revision der Bewertung mancher Autoren zurückschrecken; so wird Günter Eich unverändert als unbelasteter Autor einer engagierten „jungen Generation voll kritischem Humanismus“ ins Feld geführt, was sich angesichts von dessen Schweigen über seine Rolle im Nationalsozialismus ja kaum halten lässt. Vor übermäßiger Glorifizierung der Gruppe 47, ein Manko vieler Literaturgeschichten, schreckt der Band hingegen verdienstvollerweise zurück und punktet zudem dadurch, dass der Wiener Gruppe ein ihr gebührender Platz im selben Abschnitt eingeräumt wird. Insgesamt darf so resümiert werden, dass ein Publikum jenseits des Universitätsbetriebs mit dieser Überblicksdarstellung gut bedient wird, weiß man doch, dass solche Unterfangen es ohnehin nie allen recht machen können. Eines aber gelingt den Dänen: eine im Großen und Ganzen verlässliche Handreichung zu einem komplizierten Feld zu liefern.

Bemerkenswert an der neuen Auflage von Sørensens Literaturgeschichte ist im Übrigen das Coverdesign. Vier repräsentative Autorinnen und Autoren sind darauf in bewusster Genderbalance abgebildet: Ingeborg Bachmann und Herta Müller stehen Thomas Mann und W. G. Sebald gegenüber. Letzteres wiederum darf man als Indiz werten für den mittlerweile auch im deutschsprachigen Raum nicht mehr aufzuhaltenden Ruhm dieses Auslandsgermanisten, der aus Frustration über die neoliberalen Reformen des britischen Universitätswesens, aber auch aufgrund seiner Aversion gegen die meisten Hervorbringungen der deutschen Nachkriegsliteratur in den achtziger Jahren selber zu schreiben begann. Was er kaum ahnen konnte, war, dass er gerade mal drei Jahrzehnte später vereinnahmt werden sollte, von just jener Institution, gegen die er angetreten war: obgleich, oder vielleicht gerade weil Sebald zeitlebens ein erbitterter, oft auch ressentimenterfüllter Kritiker seiner Profession war, macht diese ihn nun zu einem ihrer Paradeobjekte.

Schlampig zitiert

Ablesen lässt sich diese Kanonisierung eines Widerspenstigen am jüngst erschienenen W. G. Sebald-Handbuch, mit dem der verlorene Sohn der deutschen Germanistik in eine Reihe gestellt wird mit Größen wie Hölderlin, Büchner, Kafka, Adorno oder Heiner Müller, zu denen bereits autoritative Nachschlagewerke im Metzler Verlag erschienen sind. Die renommierte Reihe hat sich mit dem von Michael Niehaus und Claudia Öhlschläger herausgegebenen Band, der auch einige Beiträge des Verfassers enthält, allerdings keinen sonderlichen Gefallen getan. Sebald-Leser, die an seiner Prosa zumal deren Genauigkeit wertschätzen, werden gleich eingangs ungut über einen Schreibfehler im ersten Satz stolpern. Sie sollten ihn als Omen für das Weitere verstehen: Im Band wird schlampig zitiert, Autorennamen wie Buchtitel durch Fehlschreibung verunstaltet, Textgenesen falsch datiert und so weiter.

Zweifel am Sachverstand

Das sind aber eben nicht nur Indizien oberflächlicher Lektorierung, die in einem solchen, wissenschaftliche Ansprüche erhebenden Werk ohnehin schon mehr als nur unschön sind. Es lässt sich an manchen Stellen auch ernsthaft am Sachverstand der professoralen Herausgeber zweifeln, denn sie scheinen nicht zu erkennen, dass beispielsweise in Beiträgen von Laien sachlich haltlose Behauptungen aufgestellt werden, die man selbst Studierenden im Proseminar so nicht dürfte durchgehen lassen. Beispielsweise behauptet gleich der zweite Eintrag, dass der im Deutschen Literaturarchiv in Marbach in zwei Fassungen lagernde Jugendroman „verschollen“ sei, obwohl der gegenteilige Sachverhalt schon seit vielen Jahren bekannt ist, weshalb darüber auch bereits eine Dissertation und ein Kapitel in einem zuvor erschienenen Sammelband publiziert wurden.

Von ähnlichem Kaliber ist die Falschmeldung am Ende des letzten Beitrags, die ein (noch) gar nicht existierendes Buch – nämlich die englische Übersetzung von Sebalds zwei Essaybänden zur österreichischen Literatur – als im Jahre 2012 erschienen vermeldet. Doch dergleichen mag akademisch unbeleckten Sebald-Lesern zugegebenerweise gar nicht auffallen, noch sie sonderlich stören. Auf jeden Fall zumindest werden sie in diesem Band eine ganze Menge hervorragender Einträge finden, in denen die literarischen Werke dieses Ausnahmeautors nach allen Regeln philologischer Kunst auf dem aktuellen Stand der Forschung analysiert werden. Dass dabei teilweise Fachjargon oder theoretische Ausführungen die Lektüre erschweren, muss als unvermeidlich in Kauf genommen werden; dennoch können die sozusagen gewöhnlichen Sebald-Leser durchaus profitieren von dieser Fachpublikation.
Hinters Licht geführt werden allerdings jene, die Sebalds Werk nur in Ausschnitten kennen, soll heißen: nur seine vielgerühmten Erzählwerke gelesen haben, nicht aber die literaturkritischen Schriften des renitenten Außenseiter-Germanisten. Aus deren Kenntnis ergibt sich ein durchaus anderes Bild des Autors, als es dieses Handbuch zeichnet, das doch beansprucht eine umfassende Darstellung zu sein. Der oftmals ungerechte, hart an der Grenze zur Entgleisung operierende Polemiker Sebald kommt nur nebenbei vor, ebenso sein Faible für geistesverwandte Außenseiterfiguren wie den anarchischen Autodidakten Herbert Achternbusch oder den schizophrenen Lyriker Ernst Herbeck, ganz zu schweigen von den so vitalen wie verdeckten Einflüssen einer Reihe von Anstoßgebern, die unterhalb wissenschaftlicher Satisfaktionsfähigkeit stehen, wie etwa der Biologe Rupert Sheldrake oder der oberbayerische Rutengänger und Hellseher Alois Irlmaier. Sie alle bleiben außen vor, weil dergleichen einer orthodoxen Germanistik vielleicht gar nicht vorstellbar ist. Diese macht sich lieber das geschönte Bild eines Unorthodoxen zurecht, der orthodoxen Sichtweisen genügen muss, weil man selber nicht über den professionellen Tellerrand hinauszublicken wagt. Sebald aber war anders. Kein Wunder, dass er der Germanistik als junger Mann ins Ausland entlaufen war.

Sebald ordnete in seiner über drei Jahrzehnte entstandenen Literaturkritik die von ihm behandelten Schriftsteller stets einem Schwarz-Weiß-Muster folgend als Freund oder Feind ein, weil für ihn – im Gefolge von Benjamin – das Ästhetische nicht zu ablösen war von der politischen Moral. Daher sind seine essayistischen Schriften entweder von empathischer, geistesverwandtschaftlicher Nähe oder von einseitiger, affektgeladener Ablehnung geprägt, sobald er in der Biografie des Autors Indizien für ein ihm politisch problematisches Verhalten erkennt – wie dies insbesondere in der Causa Alfred Andersch der Fall war. Sebalds 1993 erschienene Polemik beschädigte nachhaltig das Ansehen dieser Portalfigur der deutschen Nachkriegsliteratur, die er als Mitläufer und Opportunisten angriff, zumal im Gefolge der teilweise überzogenen Attacke noch weitere Evidenzen ans Licht kamen, die sein pauschales Verdammungsurteil nachträglich untermauerten.

Oder nehmen wir die beißende Polemik, mit welcher der wegen seiner bemerkenswerten literarischen Beschäftigung mit jüdischen Opferschicksalen vielgelobte Sebald den Holocaust-Überlebenden Jurek Becker noch zu dessen Lebzeiten attackierte (weshalb der betreffende Essay ungedruckt blieb und erst knapp zwei Jahrzehnte später aus dem Nachlass publiziert wurde). Diese, und noch einige andere Aspekte des Werks und der Persönlichkeit Sebalds bleiben im Handbuch weitgehend unterbelichtet, was das bestehende einseitige Porträt des eigensinnigen Einzelgängers weiter befestigt, und schlimmer noch, dabei den falschen Anschein wissenschaftlicher Objektivität vermittelt. Laienleser müssen insofern damit rechnen, dass gerade das, was mit einem Anspruch auf akademische Qualität und Verlässlichkeit auftritt, den zumal in diesem Fall hohen Ladenpreis für den Privatgebrauch nur begrenzt lohnt.

Verlässliche Qualität

Einen veritablen Beweis dafür, warum man sich ansonsten durchaus unbesorgt auf die Qualität der Handbuch-Reihe verlassen darf, liefert das unlängst in zweiter, aktualisierter Auflage erschienene Kompendium zur Lyrik. Dessen Herausgeber, Dieter Lamping, gehört übrigens zu den Advokaten von Alfred Andersch und hat versucht, das von Sebald demolierte Image des als Klitterer seiner Biografie entblößten Schriftstellers zu reparieren. Im Lyrik-Handbuch jedoch leistet er als Herausgeber ganze Arbeit: Auf knapp 500 Seiten behandeln ausgewiesene Experten alle nur denkbaren Aspekte dieses weiten Felds, entsprechend der im Untertitel genannten Vorgaben, also Theorie, Analyse und Geschichte. Dies geschieht zudem auf dem letzten Stand der Dinge, da die Neuauflage nun auch die Lyrik der unmittelbaren Gegenwart berücksichtigt.
Natürlich sind auch in diesem primär wissenschaftlich ausgerichteten Band einige Einträge irrelevant für nicht-akademische Lyrikfreunde, vor allem im theoretisch ausgerichteten ersten Teil des Handbuchs, wo eine virtuose Beherrschung theoretischen Jargons erforderlich ist, will man beispielsweise Prozesse der Semantisierung durch historisch-transtextuelle Referenzialisierung in architextueller oder hypertextueller Hinsicht verstehen. Der „Typologie der Lyrik“ überschriebene Teil des Handbuchs hingegen liefert viele spannende und aufschlussreiche Betrachtungsweisen des Phänomens der Lyrik, etwa anhand solcher Stichworte wie Liebeslyrik, politische Lyrik oder Lyrik und Komik. Ebenso sind viele der Einträge, die sich mit der Beziehung von Lyrik zu anderen Kunstformen beschäftigen, mehr als fesselnd – so etwa im Hinblick auf Popsongs, Film, bildende Kunst und nicht zuletzt Dramatik und Epik.

Dem schweren, aber verdienstvollen und nicht zuletzt auch gesellschaftlich notwendigen Geschäft der Vermittlung von Lyrik in Zeiten digitaler Dauerberieselung widmet sich ein eigener Abschnitt: Lyrik in der Schule, Lyrikübersetzungen, Lyrik in der Literaturkritik, aber auch die schwierige Lage der Lyrik im aktuellen Buchmarkt werden gewinnbringend verhandelt. So erfährt man beispielsweise im Abschnitt über Dichterlesungen Interessantes über die Rolle subversiver wie staatlich verordneter Lyriklesungen unter dem Nationalsozialismus wie in der DDR.

Gewissermaßen das Kernstück des Bandes ist der rund 160 Seiten umfassende Überblick zur Entwicklung der Lyrik, von den archaischen Anfängen im alten Griechenland bis zu ihrer Zukunft im digitalen Zeitalter. Ganz im Sinne eines solch umfassenden Ansatzes bleibt stets die internationale Lyrik im Blick der Darstellung, auch wenn der Fokus selbstredend auf der deutschsprachigen Dichtung ruht. Österreichische Lyriker sind ebenso stark präsent; bezeichnenderweise endet das Handbuch sogar mit einem Hinweis auf Franz Josef Czernin und dessen Band Metamorphosen.

Als markante Absenz mag man das Fehlen eines anderen österreichischen Lyrikers erachten, nämlich Ernst Herbeck und dessen in der Isolation der psychiatrischen Heilanstalt in Gugging bei Wien entstandenen lyrischen Texte, die eine ganze Zeit lang auf erhebliche Resonanz in der Leserschaft stießen, die Germanistik aufgrund ihrer Konstitution an einem quasi extraterritorialen Ort aber wohl überforderten, nicht zuletzt weil sie ihren hehren Analyseapparat in Frage stellten. (Wie oben erwähnt, interessierte sich vor allem Sebald für die Texte eines leidenden Mitmenschen und widmete ihnen berührende Essays.) Gesellschaftliche Relevanz der Germanistik involviert, so könnte man in seinem Gefolge argumentieren, auch die ethische Dimension, sich neben trivialen Produkten der Populärkultur oder modischer Digitaltrends, auch der Benachteiligten und Minderen anzunehmen, um mit dem Leitfaden der Ästhetik dem nachzuspüren, was sich in sozial marginalisierten Zonen ereignet. Doch dergleichen war, ist und bleibt ein utopisches Programm, das sich nur für vorübergehende Zeit im Germanistikbetrieb Geltung verschaffen konnte.

Betriebsklimawandel

Zuletzt noch ein Band, der sich im Bereich des Erschwinglichen befindet, und zudem sein Geld mehr als wert ist: Die von Silke Horstkotte und Leonhard Herrmann erarbeitete Gegenwartsliteratur. Eine Einführung richtet sich an Studierende, aber auch ältere Semester jenseits der Hörsäle können ordentlich etwas draus lernen. Der Einführungsband versteht es nämlich, auf etwas über 200 Seiten nicht nur Studenten zu erklären, was gegenwärtig der Stand der Dinge in Sachen Literatur ist.

Dabei werden die (für jedermann nachvollziehbaren) theoretischen Überlegungen durch eine sehr facettenreiche Darstellung des „Betriebsklimawandels“ des Literaturbetriebs ergänzt, den die beiden Wissenschaftler als Entwicklung in Richtung Medialisierung, Eventisierung und Skandalisierung verstehen. Dementsprechend fungiert ein Überblick über die wichtigsten Literaturdebatten in Deutschland seit 1990 als Grundlage. Danach werden in sieben übersichtlichen Abschnitten zentrale Themen der erzählenden Literatur ab der Wiedervereinigung vorgestellt: neben Unvermeidlichem wie Wende, Poproman und Geschichte im Gedächtnis kommen aber auch interessantere Themen wie Posthumanismus, Globalisierung und fantastische Literatur zum Zug.

Ästhetik vor Kommerz

Die Auswahl der Romane zu jedem Thema ist breit gestreut, sodass man als interessierter Leser sicher die eine oder andere Entdeckung machen wird, wobei jeweils ein Text besonders ausführlich vorgestellt wird, weil er nach Ansicht der Verfasser als exemplarisch gelten darf. Diese Ehre widerfährt in vielen Fällen aber nicht unbedingt der offenkundigen Wahl, sondern weist ohne Ansehen kommerziellen Erfolgs auf genuine literarische Leistungen; so wird etwa im Abschnitt zur Fantastik eine ausführliche Würdigung des ungeheuerlichen Romanprojekts Thetis. Anderswelt von Alban Nikolai Herbst unternommen. Auch ist ein eingehender Hinweis auf Patrick Roths Christustrilogie zu finden, deren immense literarische Qualitäten angesichts Vorurteile aller Art gegen diesen Text außerhalb gläubiger Kreise leider weithin unbekannt sind.

Zwar prangt der etwas abschreckende Begriff „Lehrbuch“ auf dem Umschlag dieses broschierten Bandes, aber als ein „Abfallprodukt“ universitärer Schulung ist dieser Band ebenso eine Dienstleistung für alle, die sich für die Literatur unserer Zeit interessieren. In Restbeständen kann sich die Arbeit der Germanistik so noch für eine allgemeine Leserschaft auszahlen in einer Zeit, in der Einführungsreihen und Autorenbücher quer durch die Verlagslandschaft eingestellt worden sind, weil kein Markt mehr für dergleichen Bände besteht, mit denen bis in die 1990er-Jahre noch ein erfolgreicher Brückenschlag zwischen Universität und Gesellschaft unternommen wurde. Allenfalls altgediente Leser werden sich heute noch an sie erinnern: die hellbeigen „Materialien“ von Suhrkamp, die dunkelblauen „Realien zur Literatur“ von Metzler, die ockerfarbenen „Autorenbücher“ von Beck oder die „Köpfe des 20. Jahrhunderts“-Reihe des Morgenbuch Verlags.

Heute lässt sich mit etwas Glück noch ein vergilbtes Exemplar aus einer Ramschkiste ziehen und mag einen an die eigene Lesesozialisation erinnern, als jedes neue Buch von Thomas Bernhard noch ein tatsächliches literarisches Ereignis war oder man sich seinen Weg durch das imposante Werk von Thomas Mann mithilfe solcher Handreichungen bahnte.

Uwe Schütte ist Dozent für German Studies an der Aston University, Birmingham. Zuletzt erschienen u. a. die umfangreiche Studie Interventionen. Literaturkritik als Widerspruch bei W. G. Sebald (Edition text & kritik, München 2014), Über W. G. Sebald. Beiträge zu einem neuen Bild des Autors (Hg., De Gruyter, Berlin 2016) und der Band GODSTAR – Der verquere Weg des Genesis P-Orridge (Der Konterfei).

Quelle: VOLLTEXT 2/2017 (5. Juli 2017)

Online seit: 16. Januar 2018

Bengt Algot Sørensen (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur. Bd. 2: Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. 4. Auflage. C.H. Beck, München 2016. 512 Seiten,
€ 17,95 (D) / € 18,50 (A).

Michael Niehaus / Claudia Öhlschläger (Hg.): W. G. Sebald-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Metzler, Stuttgart 2017. 335 Seiten, € 89,95 (D) / € 92,47 (A).

Dieter Lamping (Hg.): Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. 2. Auflage. Metzler, Stuttgart 2016. 506 Seiten, € 99,95 (D) / € 102,75 (A).

Leonhard Herrmann / Silke Horstkotte: Gegenwartsliteratur. Eine Einführung. Metzler, Stuttgart 2016. 232 Seiten, € 24,95 (D) / € 24,95 (A).