Die Säuberung

Von Franzobel.
Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur – Teil IV

Online seit: 12. März 2021
Franzobel © Bernhard Holub
Franzobel: „Glaubst lebt noch wer? Manchmal träume ich, außer dem Paketzusteller sind alle tot.“ Foto: Bernhard Holub

Wie wir ausschauen? Fünf Kilo, mindestens. Wahrscheinlich acht. Wenn wir so weiterfressen, kriegen wir noch eine Postleitzahl. Bald ist unsere Anziehungskraft so groß, dass Monde um uns kreisen. Dabei war für uns extrem attraktive Menschen die Maskenpflicht anfangs eine enorme Benachteiligung. Und jetzt? Mir passt keine Hose mehr.

Seit der Paketzusteller unsere einzige Verbindung zur Außenwelt ist … Selbst der stellt die Kartons nur vor die Tür und rennt davon. Wie wärs mit Ingwergemüse? Fisch? Paprika? Irgendwas für das Immunsystem. Oder Kaiserschmarren? Was? Auf keinen Fall ein süßes Mittagessen, das geht am Thema komplett vorbei. Sagst du immer. Warum kein Apfelstrudel? Nach der Lehre des Kontrasts macht Aufregung Sinn.

Nein, ich nehm dich ernst, du bist kein Gespenst, auch wenn du in einem Leintuch lebst. Hast dein Morgengesicht? Schlafgrind in den Augen? Traumsand hört sich schöner an. Was hast heute vor? Wie immer? Aus dem Fenster schauen? Den ganzen Tag?

Gut, dass im Home-Office die Pendlerpauschale vergütet wird. Jetzt bekommt man Kilometergeld und darf die Hauspatschen in Rechnung stellen. Aber was, wenn man am Weg vom Bett zum Computer mit einem Blumenstock kollidiert? Es gab einmal eine Zeit, da haben wir uns gefragt, wie es am Arbeitsweg mit Helmpflicht und Handynutzung ist. Früher.
Pst. Ruhig. Hörst du das? Nichts! Absolut nichts. Kein Autolärm. Nur ein paar Vögel zwitschern. Schön. Was? Gestern hast du Wildschweine gesehen? Mitten in der Stadt. Die Luft ist besser geworden. Schade, dass wir nicht rausdürfen. Und alles das verdanken wir Corona. Der Name ist genial. Stell dir vor, das würde wie irgendein Nahrungsergänzungsmittel heißen. Hätte niemals funktioniert. Aber Corona! Das macht was her. Klingt majestätisch. Corona Patrona.

Glaubst, lebt noch wer? Manchmal träume ich, außer dem Paketzusteller sind alle tot. Vielleicht sind die ganzen Pressekonferenzen Aufzeichnungen? Virologen, Statistiker, Politiker … vielleicht leben die alle längst nicht mehr. Nur wir. Der Paketzusteller und noch ein paar, mit denen man ein gigantisches soziologisches Experiment durchführt. Was willst mit dem Gewehr? Geh, gib das weg. Und wisch dir das Schweißbärtchen von der Oberlippe.
Ist heut Montag oder Donnerstag? Egal. Was wir brauchen, ist Struktur. Wir könnten Heimtraining machen? Oder Lesen? Ja, stimmt schon, der Mann ohne Eigenschaften ist auch beim dritten Mal langweilig … und Heimkino? Gut, dass die in Filmen keinen Abstand halten, ist natürlich skandalös. Da kommen sich welche beim Sprechen in kamikazehafter Gleichgültigkeit auf zwanzig Zentimeter nahe. Die geben sich die Hände, umarmen und küssen sich. Lauter Selbstmörder! Gut, dass solche Filme jetzt verboten sind.

Mir ist trotzdem nicht langweilig. Nie. Hast du gewusst, dass in einer Zündholzschachtel zwischen 67 und 81 Hölzchen sind? Jetzt komm vom Fenster weg? Siehst eh niemand. Was? Nein, bitte, keinen Klopapierwitz, da bekomme ich Ohrenkrebs. Ja, wir haben darüber mal gelacht … Hamster, Händewaschen, Klopapier. Wie lange ist das her? Monate? Jahre! Das war eine andere Zeit. Damals haben wir den Zusammenhang zwischen Ausgangssperre und Alkoholkonsum getestet. Weißt noch? Vernichtendes Ergebnis. Und wir haben ernsthaft geglaubt, wir dürften eines Tages wieder raus. Lächerlich. Wenigstens stehen jetzt keine Leute mehr auf Balkonen und singen. Hat sich angehört, als würden sie Perchlorethylen gurgeln.
Weißt du noch? Damals hat es geheißen, wir würden viele Wunden haben, in Quarantäne mehrten sich die Haushaltsunfälle. Die Zahl der amputierten Heimwerker sei gestiegen, mehr Menschen in den Notaufnahmen, weil Körperteile in Gegenständen feststeckten, oder umgekehrt.

Wie wir ausschauen? Schau mich an. Kennst du das Gesicht? Zwölf Kilo, mindestens. Geschätzt. Wahrscheinlich mehr.

Hast du das mit den Volksfeinden gelesen? Stell dir vor, diese subversiven Elemente haben sich in stillgelegten Fabriken getroffen, um sich … jetzt kommts … zu berühren. Widerlich, gell. Es heißt, die haben gemeinsam gekocht und gegessen und abgewaschen, und dasselbe Klo benutzt, ohne Schutzanzug! Einen Tag der Umarmung sollen die gefeiert haben. Wahnsinn. Oder? Wurden alle eliminiert, diese proletoiden Hirnschleimer. Hugs and Bugs? Geht’s noch? Gestern hat man eine mafiöse Vereinigung hochgehen lassen, die darauf spezialisiert war, Vorerkrankungen von E-cards zu löschen. Das sind die Schlimmsten! Verbrecher! Dabei sollte man denken, Leute mit Vorerkrankungen wären längst abgeholt. Sind alle in ein Sanatorium gekommen. Da gings ihnen nicht schlecht. Bis dann die Postkarte mit dem Aufdruck gekommen ist … Todesursache und so weiter. Es klingt vielleicht hart, aber für die Gesellschaft ist es gut, dass diese Alten und Kranken weg sind. Weißt du, nur so wird die Gesellschaft wieder gesund.

Wann hast du wieder eine Videokonferenz? Du, nächstes mal gehe ich im Taucheranzug durchs Bild. Erst trocken, dann nass und mit harpunierter Wärmflasche. Na? Oder ich schleiche als Stehlampe durch den Hintergrund. Die würden schauen. Was? Ah ja, es gibt keine Konferenzen mehr. Hat alles dichtgemacht. Gerade jetzt, wo ich Ideen hätte.
Jetzt sitzt du immer noch am Fenster. Was? Zwei Leute im Schutzanzug? Und Mindestabstand? Passt. Nein, wegen denen steh ich nicht auf. Ja, du hast einmal einen Mann ohne Mundschutz gesehen. Hast ihn auch, wie es deine Staatsbürgerpflicht ist, angezeigt und eine Prämie bekommen. Und den Orden. Pandemiebekämpfer erster Klasse. Aber das ist Monate, Jahre ist das her.

Schau, was ich gefunden hab. 100 Euro. Kann man sich nicht mehr vorstellen, dass wir alle mal mit Geld bezahlt haben. Wer das alles angegriffen hat. Unglaublich. Ekelhaft. Ich bin froh, dass mit diesem EU-Scheiß Schluss ist. Jetzt haben wir wieder Nationalstaaten, und jedes Volk hat das, was es sich gewählt hat. Recht so. Seit alles online läuft, ist es vorbei mit dem Gemauschel.

Im Internet hat jemand gemeint, der Virus sei so lustfeindlich und humorlos wie die ärgsten religiösen Fanatiker. Am nächsten Tag war der Account gelöscht und der Schreiber weg … für immer. Diese Leute, die behaupten, die Weltachse hätte sich verschoben … man hätte Krankheiten erfunden, um Medikamente zu verkaufen. Lauter Verschwörungstheoretiker!
Was ich zugenommen hab? Seit es keine Zigaretten und keinen Alkohol mehr gibt, bleibt als Möglichkeit zur Selbstzerstörung nur das Essen. Ob man uns das auch verbieten wird? Es heißt, man plant eine Volksdiät. Wir sind nicht mehr gesund, um zu leben. Wir leben, um gesund zu sein.

Dafür ist jeder Tag ein Sonntag. Gut, dass es noch Essen gibt. Ingwergemüse, Fisch, Paprika? Zu Mittag muss man schon einmal Apfelstrudel essen, wenn man ein Ich ist. Was kann passieren? Wir können höchstens von der Couch fallen. Schau mich an. 20 Kilo, sicher.
Weißt noch, wie ich das letzte Mal draußen war? Mit dem Plüschhund auf Rädern hab ich der Ausgangssperre eins ausgewischt. Was hätt passieren sollen? Im Schutzanzug mit Einweghandschuhen, Gummistiefel, Schutzbrille und dem Abstand-Halten-Schild. Damals wollte ich den Abstandhalter aus dem Auto ausbauen, aber der hätte nur beim Rückwärtsgehen funktioniert. Schon nach zweihundert Metern kam mir der erste Mensch entgegen, im Gummianzug. Er wechselte vorschriftsmäßig die Seite, ich auch. Wenig später die Katastrophe, jemand stieg unvermittelt aus dem Auto aus, zwei Meter vor mir, ohne Schutzkleidung. Italiener? Iraner? Tiroler? Jedenfalls ein Terrorist! Ich Herzrasen, Schweißausbruch. Grauenhaft. Mitten auf dem Gehweg lag ein Auswurf, eine schleimgrüne Virenbombe. Und dann kam dieses kleine Mädchen an. Eh lieb. Es sagte Hallo. Ich, kurz davor zu explodieren, denke nur, geh weg, du Virenschleuder. Hallo? Wo sind deine Eltern? Die können doch ihre biologische Waffe nicht unbeaufsichtigt herumlaufen lassen. Hallo? Tatsächlich ist mir diese minderjährige Selbstmordattentäterin bis auf einen Meter nahegekommen. Kann die nicht lesen? Abstand halten! … Hallo! … Gut, dass du geschossen hast. Nach dem Vollbad im Desinfektionsmittel gings wieder.

Ein lauter Knall. Er zuckt zusammen.

Was war das? Hast du geschossen? Ich weiß nicht, ob das in Ordnung ist. Nur weil sich einer an den Schutzanzug greift und ihn vielleicht einen Spalt öffnen könnte, um auszuatmen? Alles Konjunktiv. Ja, ich weiß, dass das ein gemeingefährliches Verbrechen ist. Aber gleich erschießen? … Du hast recht, es geht nicht anders. Geh, wisch dir das Schweißbärtchen von der Lippe. Wir sind gesund, und wir müssen uns schützen. Etwas anderes gibt es nicht. Das ist alles, was jetzt zählt.

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Franzobel, geb. 1967 in Vöcklabruck, absolvierte die Höhere Technische Lehranstalt für Maschinenbau in Vöcklabruck und studierte von 1986 bis 1994 in Wien Germanistik und Geschichte. Schloss das Studium er mit einer Diplomarbeit über Visuelle Poesie ab. Seit 1989 freier Schriftsteller. Neben seiner literarischen Tätigkeit (im Eigenverlag, in Kleinverlagen und innerhalb von Mail-Art-Projekten) arbeitete er bis 1992 als Maler (Concept Art). Er hat zahlreiche Theaterstücke, Prosatexte und Lyrik veröffentlicht, die in der Spannung zwischen Strukturen und Experiment stehen. Seine großen Romane sind dagegen eine Mischung aus phantastischem Realismus, Sprachspiel und Wiener Volksstück.

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„Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” ist ein Gemeinschaftsprojekt von Gerhard Ruiss, Thomas Keul und Claus Philipp und den beitragenden Autorinnen und Autoren. Die Texte der Serie erscheinen wöchentlich, jeweils am Freitag, und können auch als Newsletter abonniert werden. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” wurde auf Initiative von Claus Philipp durch Spenden für den Lesemarathon Die Pest von Albert Camus des Wiener Rabenhof Theaters und des ORF-Hörfunksenders FM4 im Frühjahr 2020 ermöglicht. Die Reihe wird von der Stadt Wien aus Mitteln der Literaturförderung unterstützt.