Fragebogen: Mara Delius

Zum Geschäft der Literaturkritik heute

Online seit: 17. Oktober 2019
Mara Delius © Jakob Hoff / Die Welt
Mara Delius: „Ich beobachte bei einigen Kollegen die Neigung, schnell in das Bedeutungsverlust-Karaoke des Betriebs einzustimmen.“
Foto: Jakob Hoff / Die Welt

Was sehen Sie als die primäre Aufgabe der Literaturkritik heute?
Die Welt der Bücher als eine der Ideen zu öffnen, mit verspielter Ernsthaftigkeit. Und: Sich aber dabei nicht erschrecken zu lassen von der Vielfalt der Formen, die es heute dafür gibt. Der gelehrte Essay kann neben der Video-Rezensions-Kolumne stehen oder der Instagram-Kurzkritik, wenn sie von einem durchdachten, lebendigen Rahmen zusammengehalten werden.

Was sind die größten Herausforderungen und Probleme für die Kritik heute?
Verunsicherung und Selbstzweifel. Ich beobachte bei einigen Kollegen die Neigung, schnell in das Bedeutungsverlust-Karaoke des Betriebs einzustimmen und, als Konsequenz davon, sich selbst entweder etwas zu ernst zu nehmen oder sich selbst nicht mehr ganz ernst zu nehmen. Ich bin Teil der seltsamen Analog-Digital-Hybrid-Generation. Das heißt: Ich erinnere mich noch an Festnetztelefone, den Gong der Tagesschau und daran, wie morgens, wenn ich zur Schule fuhr, drei dicke Zeitungen auf der Türschwelle lagen. Und später an Schirrmacher, den ausdauernden Handschlag von Henning Ritter, die schnarrenden Anrufe von Marcel Reich-Ranicki; das 20. Jahrhundert war noch nicht vorbei. Heute kann ich jeden meiner Texte unmittelbar live auswerten lassen: wie viele Leser er hat, was gelesen wird, was nicht, wer liest, die Ordnung der Gedanken durch den Andruck, die Deadline verschwindet, alles muss immer schon gestern fertig gewesen sein. Die Kritik ist transparent geworden, der Kritiker ist nicht mehr allein. Ist das ein Problem? Nein, aber man muss sein kritisches Gefühl anders justieren als das in der Generation vor meiner. Von all dem abgesehen: Die größte Herausforderung ist, Literatur und Lebenswelt miteinander in ein intellektuelles Gespräch zu bringen, ohne dass es die Homestorysierung der Kritik bedeutet.

Spielen literaturwissenschaftliche Theorien eine Rolle für Ihre Tätigkeit?
Unbedingt. Aber nicht einzelne Theorien, eher das Bewusstsein für eine Form, die es zu beschreiben und von anderen zu unterscheiden gilt.

Welche LiteraturkritikerInnen schätzen Sie am meisten? Für welche Qualitäten?
Willy Haas, der ja eigentlich kein Literaturkritiker war und vielleicht gerade deswegen seine Literarische Welt so spielerisch gestalten konnte; Karl Heinz Bohrer für sein Festhalten daran, dass die Literatur eigenen ästhetischen Gesetzen folgt, die es zu ergründen gilt, auch wenn es mitunter bedeutet, mit dem Rücken zum Leser zu schreiben; Maxim Biller für seine eigenwillige Verbindung von Unerbittlichkeit, Neugierde und Witz. In meiner Generation: Katharina Teutsch, Marie Schmidt, Insa Wilke, Julia Encke.

Wie viele Bücher muss ein Kritiker gelesen haben, um kompetent urteilen zu können? Wie viele haben Sie gelesen?
Wenn Sie schon so fragen, gebe ich Ihnen eine Marilyn-Monroe-Antwort! Ungefähr 189.867. Ich selbst: 189.864 oder 189.865.

Wie viele Neuerscheinungen lesen Sie pro Jahr?
Immer zu wenige und immer zu viele.

Welche AutorInnen haben Ihnen mit 15 gefallen, welche schätzen Sie heute?
Mit 15 oder 16 ertappte mich meine Lehrerin auf einer Klassenfahrt mit Sartres Ekel, besorgt wurde ich befragt, ob ich das Weltbild des Autors teile. Mir gefiel das Buch, seine Stimmung, auch der warme, staubig-holzige Geruch der roten Rowohlt-Taschenbuchausgabe aus dem Regal meiner Eltern. Als Kritikerin schätze ich die Autoren, die man, weil sie ihr Schreiben ernst nehmen und mit ihm existenziell zu ringen scheinen, auch ernst nehmen muss: als Künstler.

Was lesen Sie, das nichts mit dem Beruf zu tun hat?
Ein Ausschnitt aus der letzten Woche: Hilke Raddatz, Helmut das Erdferkel, Kenneth Grahame, Der Wind in den Weiden, Tomi Ungerer, Warwick und die drei Flaschen. Eine alte Times, zwei Postkarten, drei Seiten eines ungelesenen Klassikers, Autoanzeigen, die französische Vogue, einen zerfledderten Band der New Left Review. Aber so gut wie alles in meinem Leben hat auch mit meinem Beruf zu tun, zum Glück.

Haben Sie in Ihrer Laufbahn als Kritikerin je ein Urteil grundlegend revidieren müssen?
Liegt nicht die Schönheit und der Schrecken der Kritik darin, dass sich Urteile, wenn sie einmal in der Welt sind, eben nicht mehr so leicht zurücknehmen lassen? Mit der grundlegenden Revision fange ich an, wenn ich 60 bin.

 

Mara Delius, geboren 1979, schrieb unter anderem für die FAZ und das Standpoint Magazine, ab 2011 arbeitete sie für das Feuilleton der Welt, deren Literaturbeilage „Literarische Welt“ sie seit 2017 leitet. Am 18. Oktober wird sie mit dem Julius-Campe-Preis ausgezeichnet.

Quelle: VOLLTEXT 3/2019

Online seit: 17. Oktober 2019