Der kurzen Rede langer Sinn

Ein Versuch, den Aphorismus wieder auf den Punkt zu bringen. Von Felix Philipp Ingold

Online seit: 12. Januar 2023
Georg Christoph Lichtenberg © J. C. Krueger
Minimales Wortaufgebot, maximale Wirkung: Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799).
Illustration: J. C. Krueger

„Sprachkürze gibt Denkweite.“ – Jean Paul

Unsre Zeit ist die Kürze.“ – „In der Kürze liegt die Würze.“ – „Kürze ist die Schwester des Talents.“ – Solche und ähnliche, zumeist althergebrachte Weisheiten gewinnen neue Dringlichkeit, seitdem Rasanz und Intensität zu einem bestimmenden lebensweltlichen Faktor geworden sind. Beschleunigung, Geschwindigkeit gelten heute als ganz normale, deshalb unverzichtbare Qualitäten im Konsumations- und Kommunikationsverhalten. Damit verbunden ist naturgemäß das Gebot (d. h. die Notwendigkeit, aber ebenso die Möglichkeit) der Kürze beziehungsweise der Verkürzung zahlreicher alltäglicher Prozeduren – vom quick lunch zum quickie, vom Sprachdesign der Werbung und der Kürzelsprache jugendlicher Konversation bis zu diversen digitalen Formaten der Kurznachrichtenübermittlung.

Demgegenüber ist die Belletristik bisher bemerkenswert resistent geblieben. Zwar haben sich mit der neu aufkommenden „Netzliteratur“ und „Twitteratur“ unter dem Zwang der eingeschränkten Zeichenzahl auch neue minimalistische Textformationen herausgebildet, aber insgesamt dominieren im aktuellen Literaturbetrieb nach wie vor Erzählwerke von beträchtlichem Umfang. Dass selbst der tausendseitige Wälzer, dessen Lektüre heute wegen der allgemeinen „Zeitnot“ kaum noch jemandem zugemutet werden kann, bei Kritikerinnen und Juroren weiterhin respektvolle Beachtung findet, ist belegt – beispielsweise – durch die Makroprosa eines Péter Nádas, eines Alexander Kluge oder David Foster Wallace, neuerdings auch durch Die Jakobsbücher der Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk sowie das erfolgreiche Comeback älterer, fast schon vergessener Schmökerliteratur wie Margaret Mitchells Vom Winde verweht.

Aphorismen können nach Georg Christoph Lichtenberg „eine ganze Milchstraße von Einfällen“ mit sich führen und fruchtbar werden lassen.

Man mag, man muss sich fragen, weshalb diese Art von Literatur, die größtenteils – auch wenn sie Bestseller­status erreicht – ungelesen bleibt und unter den gegenwärtigen Rezeptionsbedingungen wohl auch als „unlesbar“ zu gelten hat, noch immer klar privilegiert wird vor den sogenannten „kleinen Formen“, etwa der Fabel, der Parabel, der Anekdote oder der Spruchdichtung, die man schon in der Antike gern verwendet hat und die heute, entsprechend aufgearbeitet, als Lektürestoff dem Wälzer und Schmöker deutlich überlegen beziehungsweise dem aktuellen Zeitdruck weit besser angepasst wären.

Natürlich sind auch in der Gegenwartsliteratur da und dort Autoren am Werk, die auf jene „kleinen Formen“ zurückgreifen und sie zu erneuern versuchen, doch im Feuilleton wie beim Publikum findet ihre Arbeit kaum Beachtung. Das gilt im Besondern auch für den Aphorismus, das sicherlich populärste Genre unter den traditionellen Formen „kleiner“ Literatur. Wohl wird die klassische Aphoristik durch zahlreiche Anthologien sowohl in Buchform wie im Internet weithin präsent gehalten, doch im zeitgenössischen Literaturgespräch findet sie keinerlei Widerhall – aphoristische Texte werden bestenfalls