„Ich benutze YouTube höchstens, um Vogelstimmen zu hören“

Esther Kinsky im Gespräch mit Angelika Klammer über das Übersetzen, Schreiben und Unterrichten von Literatur.

Online seit: 29. April 2020
Esther Kinsky © Heike Steinweg / SV
Esther Kinsky: „Nimm dich raus, erwähne dich selbst gar nicht.“
Foto: Heike Steinweg / SV

ANGELIKA KLAMMER Sie kennen sicher Situationen, in denen Menschen auf Sie zukommen und sagen: „Ich habe etwas erlebt, ich habe etwas zu erzählen, ich möchte einen Roman darüber schreiben, wie fange ich das an?“ Was antworten Sie?

ESTHER KINSKY In meiner Erfahrung ist es so, dass die interessantesten Geschichten immer von denen kommen, die nie auf den Gedanken kämen, dass man darüber schreiben könnte. Diese Vorstellung zu sagen, ich habe was zu erzählen, wie fange ich das an, ist ja schon das Ende von allem, eigentlich. Denn wenn man nicht weiß, wie man anfangen soll, dann fängt man auch besser nicht an. Ich kenne natürlich Menschen, bei denen ich merke, dass hinter dem Schreibenwollen ein Bedürfnis steht, eine wirkliche Not. Wenn ein ernster Wunsch da ist, gebe ich immer den Rat oder versuche Menschen dorthin zu steuern, dass sie erstmal ganz von sich absehen, dass sie versuchen, an einem Punkt anzusetzen, an dem sie draußen bleiben, dass sie ihre Sprache erproben, an einem Vorfall meinetwegen, den sie als definierenden Moment empfinden in ihrem Leben, und das versuchen ohne eine Beziehung zu sich selbst herzustellen, nur die äußeren Umstände zu beschreiben. Wenn Leute meinen, sie haben eine tolle Geschichte, in der sie sich selbst darstellen wollen, dann führt das nirgendwohin.

KLAMMER Nun wächst aber das Angebot, das sich an genau diese Menschen richtet, ständig: Literaturinstitute, Seminare, Workshops, Einzelbetreuung, Coaching … Könnten Sie innerhalb dieses Spektrums eine Empfehlung abgeben?

Auch Schreibschulen stehen ja unter dem Druck, sich ökonomisch zu beweisen, in Form der Autoren mit Preisen und hohen Verkaufszahlen.

KINSKY Das würde mir schwerfallen. Ich habe früher immer gedacht, das kann doch gar nichts bewirken, aber ich glaube, es gibt zwei Dinge zu bedenken, das eine ist eine Gefahr, das andere eine Chance: Wenn man mal in einem Kurs ist oder auch Geld bezahlt an einen Privatbetreuer, ist man auf eine andere Art gezwungen, sich zu artikulieren. Selbst wenn Menschen wirklich schreiben wollen, es gibt tausend Ängste, die zu überwinden sind. Aber wenn man eingebunden ist in eine Struktur, zu der man sich entschlossen hat, wird man zu jedem Schritt wieder neu gedrängt. Das ist das Gute. Für mich schwer vorstellbar allerdings ist dabei dieser Stempel, den die Leiter solcher Kurse im creative writing aufdrücken. Ich weiß nicht, wie viel Freiheit es da noch gibt. Jeder kennt die Geschichten von dem ganz spezifischen Ton bestimmter Schreibschulen. Jeder Lehrer hat seine Vorstellung, was kann dann ein gemeinsamer Nenner für einen Kurs sein? Und dazu der Druck in Gestalt von Agenten, Lektoren, Fängern einer Stimme, die sich zum Erfolgston manipulieren lässt. Auch Schreibschulen stehen ja unter dem Druck, sich ökonomisch zu beweisen, in Form der Autoren mit Preisen und hohen Verkaufszahlen. Das kann doch mit der Lehre geduldiger Übung der eigenen Stimme nicht vereinbar sein. Ich glaube, dass man in der Auseinandersetzung mit einer Einzelperson eher was erreichen kann, dass man leise geführt wird, gesagt bekommt: Versuch das mal so. Und daraus kann dann ein Dialog erwachsen. Alles Schöpferische erwächst ja aus einer Form von Dialog, von Zwiesprache. Aber wenn jemand eine ganze Gruppe führt, kann ich mir das nur so vorstellen, dass es ein Austausch, ein Gespräch ist, ein Geben und Nehmen auf allen Seiten.

KLAMMER Sie haben auch Unterrichtserfahrung, allerdings war die nicht institutionell gebunden.

KINSKY Ich habe die Thomas-Kling-Poetikdozentur gehabt, die kann man relativ frei gestalten, und um diesem Schreibschulkontext zu entgehen, habe ich mich ganz auf Sprache und Übersetzen konzentriert. Ich finde nach wie vor, Übersetzen ist ein wunderbarer Weg, um die eigene Sprache zu finden. Es ist eine Auseinandersetzung mit Sprache, bei der man die eigene Person draußen lassen kann. Diese Auseinandersetzung ist für mich sehr wertvoll und ich glaube nach wie vor, dass es ein guter Einstieg ist und ein wunderbares Parallelgleis bleibt für Menschen, die schreiben wollen.

KLAMMER Sie würden es auch als Übung empfehlen?

KINSKY Ja, weil es zu diesem Schritt zurück zwingt, wo man nicht von dem ausgeht, WAS man schreiben will, sondern ganz in die Auseinandersetzung mit dem WIE gezwungen ist, man muss sich ständig fragen: Was bietet die Sprache für Möglichkeiten?

KLAMMER In Ihrem Buch Fremdsprechen, das ja diesem Thema gewidmet ist, bieten Sie für den schlichten Satz „I walked to the river yesterday“ mehr als zehn Übersetzungsvarianten an: „Ich ging gestern zum/an den Fluss. Gestern ging ich zum/an den Fluss. Ich bin gestern zum/an den Fluss gegangen. Gestern bin ich zum/an den Fluss gegangen. Gestern bin ich zu Fuß zum/an den Fluss gegangen. Ich bin gestern zu Fuß zum/an den Fluss gegangen. Gestern bin ich zum Fluss spaziert. Ich bin gestern zum Fluss spaziert. Ich spazierte gestern zum Fluss. Gestern spazierte ich zum Fluss.“ Dann könnte man noch „Fluss“ durch „Strom“ ersetzen. Kaum einer käme auf die Idee, dass so viele Möglichkeiten in dem Satz stecken.

Wenn Leute meinen, sie haben eine tolle Geschichte, in der sie sich selbst darstellen wollen, dann führt das nirgendwohin.

KINSKY Sobald man mit einer anderen Sprache arbeitet, wird man das natürlich wissen. Das ist jetzt ein Extrembeispiel, aber es gibt zahlreiche Beispiele. Man kommt nicht darauf, wenn man liest und übersetzte Literatur konsumiert, man will im Lesen das sprachliche Kunstwerk ja als Ganzes haben und nicht zu viel über die möglichen Varianten nachdenken, aber es sollte einem klar sein, dass man in der Übersetzung immer nur eine Variante liest, eine der möglichen Varianten. Es gibt so viele