Gott, Vaterland und Führerkult

Von Ebner-Eschenbach und Thomas Mann hoch geschätzt, von der Nachwelt verschmäht – der literarische Kurssturz Enrica von Handel-Mazzettis. Von Elisabeth Grabenweger

Online seit: 23. Mai 2022
Enrica von Handel-Mazzetti
„Das größte Talent unter allen, die heute in deutscher Sprache schreiben“: Marie von Ebner-Eschenbach über Enrica von Handel-Mazzetti.

Enrica von Handel-Mazzetti war im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts eine der meistgelesenen österreichischen SchriftstellerInnen. Zwischen 1900 und 1930 waren ihre Romane und Erzählungen fester Bestandteil der Gegenwartsliteratur und des schulischen Kanons in der österreichisch-ungarischen Monarchie und der Ersten Republik. Handel-Mazzetti war sowohl Bestsellerautorin als auch Volksbildnerin und populäre Garantin für das Selbstverständnis eines katholisch-vaterländischen Österreich. Den Höhepunkt ihrer Karriere bildete die pompöse Begehung eines Doppeljubiläums, wie es sonst nur Schauspielern und Priestern zuteilwurde: Im Jänner 1931 wurde mit großem Aufwand Handel-Mazzettis sechzigster Geburtstag und das dreißigjährige Jubiläum des Romandebüts „unseres größten Dichters“ gefeiert.

Begonnen hatte Handel-Mazzettis Siegeszug durch das literarische Österreich nämlich 1901 mit einem Buch, das sie sogleich auf die Bühne der großen deutschsprachigen Literatur katapultierte: Meinrad Helmpergers denkwürdiges Jahr. Der im Stuttgarter Verlag Roth erschienene Roman spielt zu Beginn des 18. Jahrhunderts im oberösterreichischen Kloster Kremsmünster und ist in die Kategorie der zeitgenössisch äußerst beliebten Internats- und Adoleszenzromane einzuordnen. Bei Handel-Mazzetti wird das Leiden eines zunächst unreifen und unschuldigen Zöglings aber mit einem Grundthema verbunden, das auch alle ihre späteren Texte beherrschen wird: mit dem Gegensatz von Protestantismus und Katholizismus und deren Versöhnung durch die katholische Bekehrung einer emotional und moralisch verirrten Figur. Handel-Mazzetti lässt diese Versöhnung im ‚rein Menschlichen‘ stattfinden: Nicht die intellektuelle oder rationale Erkenntnis, und auch nicht das päpstliche Dogma der Amtskirche führt zu einem Ausweg, sondern das einfältige, aber verständnisvolle Gemüt des Pater Meinrad.

Zwiespältiger Katholizismus

Dass der katholische Held in Handel-­Mazzettis Erstling als schlicht und dümmlich dargestellt wird, hat der katholischen Literaturszene, die Handel-Mazzetti als neuen Star feiern wollte und auch feierte, einiges Kopfzerbrechen bereitet. Die genaue Schilderung von Spannungen und Erziehungskonflikten, die Darstellung des autoritären Verhaltens der Glaubensbrüder und der hierarchischen Strukturen innerhalb des Klosters wurden von katholischen Kreisen ebenfalls zwiespältig aufgenommen. Gleichzeitig hat die differenzierte und anschauliche Zeichnung des Klosterlebens – und wohl auch Handel-Mazzettis Vorliebe für Gerichts- und Folterszenen – dazu geführt, dass sie als katholische Autorin nicht nur innerhalb ihres Milieus wahrgenommen wurde, sondern eine große Breitenwirkung entfalten konnte. Handel-Mazzettis Romane wurden bis Ende der 1920er-Jahre vielfach rezipiert, sie erschienen in zahlreichen Auflagen von zum Teil über 150.000 Exemplaren und waren in den Listen der Leihbüchereien ganz oben zu finden.

Doch nicht nur auf dem deutschsprachigen Buchmarkt avancierte die katholische Autorin zu einer viel beachteten Größe. Handel-Mazzettis Romane wurden wegen ihrer literarischen Qualität auch von so unterschiedlichen Kollegen und Kolleginnen wie Marie von Ebner-Eschenbach, Wilhelm Raabe, Thomas Mann und Peter Rosegger geschätzt. Ebner-Eschenbach hegte besondere Sympathien für die vierzig Jahre jüngere Autorin und hielt sie, wie sie in ihrem Tagebuch vermerkte, „für das größte Talent unter allen, die heute in deutscher Sprache schreiben“, sie lobte die „Größe der Konzeption“, die „Kraft“ und „Leidenschaft der Empfindung“. Peter Rosegger bewunderte an ihren ersten beiden Romanen Meinrad Helmpergers denkwürdiges Jahr und Jesse und Maria Handel-Mazzettis zupackende Art: „[N]ie ist ein Roman mit einer männlicheren Kraft geschrieben worden, als diese zwei stahlharten, glutsprühenden Bücher. Der Dichter – fürwahr, diese Frau muss man als Mann vorführen, als ganzen! – hat eine Erzählform gewählt, wie man sie wirksamer nicht denken kann.“ Thomas Mann bezeichnete Jesse und Maria als „eigentümliche, starke und ursprüngliche Leistung“, und Wilhelm Raabe nannte den Roman „ein tapferes, schönes Werk, das seinen Platz in der Literatur der Gegenwart mit vollstem Rechte beansprucht“.