Im November 2014 lud mich die Literaturkritikerin Daniela Strigl zu einem Abend bei der „Österreichischen Gesellschaft für Literatur“ ein, „idealerweise mit einer kurzen Lesung“. Ich habe gute Erfahrungen damit gemacht, den Einladungen von Frau Strigl Folge zu leisten, und sagte daher sofort zu. Weil ich – wie immer – nichts vorzulesen hatte, machte ich diverse Gegenvorschläge und beendete meine Mail mit: „Oder was vielleicht auch ginge, keine Ahnung, darüber habe ich noch nie geredet: Die Poesie, der Zufall und das Plagiat, anhand der Zufallsshirtmaschine. Man kann mit ihr nicht nur T-Shirts erzeugen, sondern auch so was Ähnliches wie Gedichte. Dann könnte ich Lyrik vorlesen, hihi.“ Ich hatte das mit den Gedichten zwar noch nie ausprobiert, aber der Termin lag noch weit in der Zukunft, da verspricht man Veranstaltern schon mal leichtfertig, bis dahin die Scheune voll Stroh zu Gold zu spinnen.
Die Zufallsshirtmaschine ist ein automatischer T-Shirt-Generator (zufallsshirt.de), den ich in den Jahren 2011 bis 2013 geschrieben und immer weiter ausgebaut habe. Sie erzeugt T-Shirts mit einem Zufallsbild und Zufallstext, die man als Betrachter entweder kaufen oder verwerfen kann. Jede Variante gibt es nur ein einziges Mal, und wenn sie verworfen wird, ist sie weg und kommt nie wieder. (Das stimmt nicht ganz, aber man muss ungefähr 47.553.250.000.000 Mal klicken, bis ein Motiv zum zweiten Mal auftaucht.) Die Texte entstehen aus Satzstrukturen, in die die Maschine zufällige Variablen einfügt.
Seit Jahren sammle ich solche zufallsshirttauglichen Satzstrukturen, und weil ich oft nicht mehr weiß, wo ich sie gefunden habe, steht in der Mail an Daniela Strigl das Wort Plagiat. Ich bin mir nicht sicher, ob man eine Struktur plagiieren kann. In einer Rezension von Peter Handkes Buch Ein Jahr aus der Nacht gesprochen las ich den von Handke geträumten Satz „Eingesperrt in einen Teufel aus Glas war ich“. Ich habe ihn mit Variablen versehen und der Zufallsmaschine beigebracht, die daraus T-Shirt-Aufschriften wie „Eingesperrt in einen Storch aus Schinken bin ich“ erzeugt. Andere Satzstrukturen stammen aus Gesprächen, Zitatsammlungen, Teppich- und Sanitärkatalogen, von Werbeplakaten, aus den Inhaltsverzeichnissen der Zeitschriften, die die Zeugen Jehovas verteilen oder aus meinen eigenen Träumen. Es kommt mir wie Verschwendung vor, eine gute Satzstruktur nur mit einem einzigen Inhalt zu füllen. Einerseits bin ich überzeugt, dass die ganze Welt auf die eine oder andere Art mit Fundsachen arbeitet. Andererseits werde ich vielleicht doch irgendwann von Handkes Traumbewusstsein verklagt und in ein Einhorn aus Paniermehl eingesperrt.
Den Tag vor der Lesung verbrachte ich bei meinen Eltern in Bayern. Ich lag mit dem Laptop auf der Heizung, und wenn jemand vorbeikam und vorschlug, ich könne ja den Tisch decken oder Holz holen, sagte ich wichtig „Ich kann aber nicht, ich muss dichten!“ Man muss solche Sätze sagen, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet. Wer weiß, ob sie noch einmal wiederkommt.
Trotz Automatisierung dauerte es den ganzen Tag, der Zufallsshirtmaschine drei Gedichte zu entlocken, denn sie schreibt sie keineswegs von allein. In ihrem Hauptberuf braucht sie ja nur ein Wort oder einen Satz pro T-Shirt zu erzeugen. Mein Anteil am Dichten bestand also darin, durch geduldiges Herumklicken ein Thema zu finden, zu dem die Shirtmaschine vielleicht mehr zu sagen hatte, dann eine Weile zu sammeln und die Ergebnisse in eine gedichtähnliche Reihenfolge zu bringen. Das erste Ergebnis war „Ich“.
Ich
Ich weiß viel zu viel über den Ruf der Nachtglocke.
Ich kenne mehr Kontinente als Menschen.
Ich denke unaufhörlich an Rötelmäuse.
Ich ernähre mich von Entzücken.
Ich ernähre mich von Einsicht.
Ich ernähre mich von Abschiedsschmerz.
Ich bin das Gegenteil von Peter Handke.
Der Satz „Ich weiß viel zu viel über den Ruf der Nachtglocke“ stammt unverändert aus einem Chat mit Cornelius Reiber. „Rötelmaus“ erschien mir wie eine gute Wahl der Maschine aus ihrem Tierrepertoire, darum
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