„Distant Reading“ und magische Lektüren

Das neue Handbuch Lesen widmet sich facettenreich dem Stand einer alten Kulturtechnik im Zeitalter der Digitalisierung. Von Uwe Schütte

Online seit: 25. August 2019
Illustration: Gabriel Ritter von Max – "Die Gelehrten"
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Illustration: Gabriel Ritter von Max – „Die Gelehrten“

Was du jetzt tust ißt eine komplexer Vorgang, bei dem schriftlich enkodierte Zeichen in einem kognitive, intellektuelle und kulturelle Fähigkeiten verbindenden Prozess verarbeitet werden müssen, um etwas eigentlich Selbstverständliches zu ermöglichen: lesen. Schriftlich verschlüsselten Sinn erfolgreich zu erfassen. Nicht nur gelingt es, diese Satzkonstruktionen zu verstehen, obwohl eingangs grammatikalische Fehler und Verstöße gegen soziale Konventionen einen Stolperstein darstellen. Kompetente Leser werden auch sofort den selbstreflexiven Charakter des Anfangssatzes erkennen. Und darin wiederum einen gewollten stilistischen Manierismus des Autors. All das aber setzt eine Abstraktionsleistung voraus, die über einen rein utilitaristischen Umgang mit Texten hinausgeht und eine Vertrautheit mit literarisch-rhetorischem Sprachgebrauch involviert.

Das Lesen wird eine unabdingbare Basiskompetenz unserer Gesellschaft bleiben, auch wenn die Flut der Bilder und der Siegeszug des Digitalen unsere Konfrontation mit Text weniger reduziert als vielmehr in kleinere Portionen zerhackt hat. Das Lesen befindet sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts – wieder einmal in seiner Geschichte – in einem radikalen Umbruchprozess. Insofern erscheint ein gewichtiges Kompendium des Verlags De Gruyter zur rechten Zeit, um sich dem vielschichtigen Komplex des Lesens en detail zu widmen. Das von Alexander Honold und Rolf Parr herausgegebene Handbuch ist in der Reihe Grundthemen der Literaturwissenschaft erschienen und kostet knapp 160 Euro.

Von den insgesamt 900.000 deutschsprachigen belletristischen Publikationen seit dem 16. Jahrhundert sind mehr als 650.000 im 20. Jahrhundert erschienen.

Der stolze Preis von Lesen macht die Anschaffung für Privatpersonen zwar etwas schwierig, doch so lange es noch die kulturelle Institution der Bibliothek gibt, sollte jeder, für den das Lesen mehr bedeutet, als Reklameaufschriften wahrzunehmen, SMS mit Emojis zu entziffern und in Gebrauchsanleitungen zu blättern, einen Blick in das Handbuch werfen. Es lohnt sich nämlich. In fast 30 Kapiteln wird auf knapp 700 Seiten die Kulturtechnik des Lesens vor allem aus der Perspektive der Literaturwissenschaft in den Blick genommen. Unter den Beiträgern finden sich folglich durchwegs Germanisten, die oftmals in dem ihre Zunft kennzeichnenden Jargon für ihresgleichen schreiben, doch sind die allermeisten Kapitel auch für Interessierte außerhalb der Fachgemeinde mit Gewinn lesbar.

Sinnvollerweise beginnt das Handbuch mit einem umfangreichen sozialgeschichtlichen Überblick von den Anfängen bis zum heutigen Stand, den Jost Schneider verfasst hat. Er erinnert daran, dass Lesefähigkeit fast die gesamte Zivilisationsgeschichte lang eine Fähigkeit war, die den Eliten vorbehalten blieb. Eine weitgehende Alphabetisierung haben selbst die am höchsten entwickelten Länder erst vor rund 100 Jahren erreicht. Der Überblick kann mit einigen erstaunlichen Fakten aufwarten. So sind von den insgesamt 900 000 deutschsprachigen belletristischen Publikationen