Ein solches Buch wäre kaum vorstellbar in der deutschsprachigen Literatur. Zum einen, weil es in der hiesigen Pop-Musik-Szene nie Künstler gab vom Format von Bill Drummond und Jimmy Cauty. Zum anderen, weil das Klischee von der britischen Exzentrik, wie so viele Stereotypen, eben doch stichhaltig ist – selbst wenn die brachiale Neoliberalisierung der britischen Gesellschaft heutzutage nur noch geringe Restbestände kultureller Opposition zulässt. 2023: A Trilogy by the Justified Ancients of Mu Mu lautet der Titel des (mutmaßlich) von Drummond geschriebenen Romans, der sich zwar vergleichsweise leicht übersetzen ließe, dadurch aber wohl erst recht unverständlich würde.
Denn nicht nur beruht einiges auf nicht adäquat übertragbaren Sprachspielen, das Wesentliche dieses bizarren Erzählwerkes ist seine Einbettung in den spezifischen Referenzrahmen der britischen Popkultur. Er steht und fällt mit der Kenntnis der kulturellen Guerilla-Aktionen, mit denen Drummond und Cauty seit den 1980er-Jahren sich einen Ehrenplatz in der Geschichte der subversiven Popkultur erobert haben. Wer nicht weiß, was es mit den Projektnamen Justified Ancients of Mu Mu a.k.a. The JAMS, The Timelords, KLF, K Foundation und K2 Plant Hire (um nur die wichtigsten Manifestationen von Drummond/Cauty aufzuzählen) auf sich hat, wird eigentlich nichts wirklich verstehen.
Wo beginnen? Vielleicht auf Jura. Weniger als 200 Menschen leben auf der schottischen Insel, die ein Teil der Inneren Hebriden ist. George Orwell (bürgerlich: Eric Blair) schrieb 1948 dort 1984. Drummond und Cauty verbrannten am 23. August 1994 ebenda in einem alten Bootshaus vor laufender Kamera eine Million Pfund – ihr Vermögen aus Acid- House-Hymnen wie What Time Is Love?, mit denen sie Ende der Achtziger die internationalen Hitparaden beherrschten. Sinnlose Geldvernichtung als Kunstwerk? Als Drummond/Cauty den Film, der das Autodafé dokumentierte, öffentlich zeigten, herrschte allenthalben Entsetzen und Unverständnis. Daher legen sie sich ein 23-jähriges Moratorium auf; die Welt sollte genug Zeit bekommen, über ihr furioses Kunstwerk nachzudenken.
Allerhand Schabernack
Diesen Sommer ist die Frist abgelaufen. Pünktlich zum 23. August kehrten Drummond/Cauty mit einem dreitägigen Welcome to the Dark Ages-Happening in Liverpool zurück in die Öffentlichkeit. Das Buch erschien am selbigen Tag. Während der dreitägigen Saturnalien wurden Kernelemente der fiktiven Handlung von 2023 mit 400 Freiwilligen gleichsam reinszeniert, es kam aber auch zu allerhand Schabernack wie etwa improvisierten Spontanaktionen, die auf zufällig ausgerissenen Buchseiten des Romans basierten. Ebenso wurde ein 70-minütiger Begleitfilm zum Buch gezeigt, der zentrale visuelle Motive – wie einen Londoner Stadtfuchs oder das brennende Hochhaus „The Shard“ – auf drei Monitore verteilt zeigte.
Das sollte natürlich an ein Triptychon erinnern, zugleich aber auch auf die Buchstruktur als Trilogie anspielen. Die zwischen DADA, Ritual, Numerologie, Performance-Kunst und rebellischem Klamauk angesiedelte Dreitagesaktion nahm auch verschiedene Elemente früherer Aktionen auf, die in einer Grauzone zwischen Magie und Kunst, Pop und Film angesiedelt waren.
2023: A Trilogy by the Justified Ancients of Mu Mu ist mithin kein Roman, sondern der literarische Bestandteil eines multimedialen, sich bereits über Jahrzehnte erstreckenden popkulturellen Gesamtkunstwerks. Angelegt ist 2023 als postmoderner Erzähltext, der – gemäß Herausgeberfiktion – 1984 auf Jura unter dem Autorenpseudonym George Orwell geschrieben wird von einer gewissen Antonia Roberta Wilson. Das Buch spinnt somit die Verschwörungstheorien der 1975 erschienenen Illuminatus-Trilogie von Robert Anton Wilson über die geheime Gesellschaft der Justified Ancients of Mu Mu fort, die seit Beginn der wunderlichen Kooperation zwischen Drummond und Cauty die Basis von deren künstlerischer Privatmythologie bilden.
Persiflage auf die Popkultur
Wie hervorragend Bill Drummond schreiben kann, das hat er in seinen vorherigen, zumeist autobiografisch ausgerichteten Büchern hinreichend unter Beweis gestellt. Dass 2023 hingegen gewisse handlungsdramaturgische Schwächen hat, da ein fiktionaler Erzähltext von fast 400 Seiten schriftstellerisch höhere Anforderungen an Drummond stellte, soll hier gar nicht in Abrede gestellt werden: Der in einer dystopischen Zukunft spielende Plot ist teils eine bissige Persiflage auf die englischsprachige Popkultur- und internationale Kunstszene (Azealia Banks, Tracey Emin, Banksy oder Lord Saatchi geraten u.a. ins Visier), teils eine politische Satire (Angela Merkel bleibt Bundeskanzlerin bis Apple, Google und Facebook alle Staaten inklusive Deutschland aufkaufen), aber ebenso eine satirisch treffende Kulturkritik an der Digitalisierung der Gesellschaft sowie nicht zuletzt ein bemerkenswert selbstironischer Schlüsselroman über die verqueren Aktionen von Drummond/Cauty. Und noch einiges mehr.
„The book is mind-blowing. It might not be great literature, but I have never read anything like this before“, zitiert Antonia Wilson darin die Meinung von Bill Drummond über das Werk. Recht hat er: 2023 vermischt Pop und Politik, Realität und Fiktion, Genie und Wahnsinn – eine überaus passende Lektüre für die anbrechenden Dark Ages, bis 2023 und über die nächsten sechs Jahre hinaus.