Bei den Vorgängern der heutigen industriellen Gesellschaften hatte die Literatur drei wesentliche Funktionen: die Erbauung – im allerweitesten Sinn – der jeweils Gegenwärtigen, die Speicherung von Erlebtem und Gedachtem, von Geschehenem und von Mythen für die Nachgeborenen und die Generierung spezieller Erkenntnis. Mit der modernen IT, mit dem Computerdenken und mit den Internetplattformen haben sich die Rahmenbedingungen für Literatur und ihre Funktionen radikal verändert.
Aufmerksamkeit. Nach einer rezenten Erhebung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels haben 6,4 Millionen Deutsche, die zuvor regelmäßige Buchkäufer waren, in den Jahren 2013 und 2017 kein einziges Buch mehr erworben, weder im stationären Buchhandel noch im Internet. Das bedeutet einen Rückgang der Buchkäufer um fast achtzehn Prozent. Bis zum Jahr 2014 waren die Buchkäufer in Deutschland in der Mehrheit, jetzt sind sie gegenüber den Nicht-Käufern in der Minderheit. Die Studie versucht auch, die Ursachen für diese Entwicklung zu ermitteln. Als zentraler Grund wird das Aufmerksamkeitsdefizit infolge von Reizüberflutung angegeben. Gemäß einer Untersuchung der Universität Bonn unterbrechen die Smartphone-Besitzer in Deutschland 88 Mal am Tag ihre jeweilige Tätigkeit, um das in seiner Funktionalität stark erweiterte Telefon zu benutzen.
Durch die neuen Kommunikationsmittel ist die individuelle Kommunikation wesentlich bequemer geworden. Die öffentlichen Angebote von Internetplattformen sind Legion. Sowohl die individuelle als auch die öffentliche Kommunikation haben sich in vorher nicht für möglich gehaltenem Ausmaß beschleunigt und ausgeweitet. Das Volumen der Kommunikation beschneidet das Zeitbudget für das Lesen von Literatur, die Portionierung und die Beschleunigung der Kommunikation reduzieren die Aufmerksamkeitsspanne potenziell unter die Schwelle, die für das Lesen von Literatur erforderlich ist.
Die Schnelllebigkeit des elektronischen Kommunikationsalltags ist jedoch mitnichten eine notwendig in Kauf zu nehmende Folge der Technologie. Die Beschleunigung aller Interaktionsvorgänge der Nutzer mit den genutzten Angeboten ist ein zentrales Ziel der Internet-Firmen. Soziale Medien und Suchmaschinen verkaufen Werbeplätze, die nach den über die Nutzer gesammelten Daten die für die angebotenen Produkte und Dienstleistungen die optimalen sind. Das Geschäft der kostenlosen Internet-Plattformen wird umso interessanter, je mehr und je schneller sich die Daten ändern. Stabile Daten sind schlecht für das Geschäft. Bleiben die Konsumgewohnheiten konstant, können soziale Medien und Suchmaschinen nach deren Erfassung kein Neugeschäft tätigen. Es liegt im Interesse der kostenlosen Internet-Plattformen, dass sich die Nebenbedingungen für die Konsumenten ständig ändern, damit sie den Anbietern laufend neue Informationen liefern können, die für die Konsumgewohnheiten relevant sind. Die Nutzer sollen glauben, sie müssten permanent auf ihr Gerät schauen, um nichts zu verpassen. Je kürzer die Aufmerksamkeitsspanne der Nutzer, desto besser. Die Menschen sollen es immer weniger schaffen, über längere Zeit die Konzentration auf eine Aktivität aufrechtzuerhalten. Der Leser, der mehrere Stunden ohne Unterbrechung einen Roman liest, ist für die Internetfirmen uninteressant.
Inhaltlich ist der große Konkurrent der Literatur die Fernsehserie. Fernsehserien sind eine Form des Erzählens und somit der Literatur grundsätzlich nahe. Der Hauptunterschied zur Literatur besteht darin, dass die Fernsehserie dem Rezipienten kognitive Arbeit abnimmt: Wer einen Roman liest, muss sich alles vorstellen, was in dem Roman beschrieben oder erwähnt wird. Sonst macht die Romanlektüre keinen Sinn. Die Bilder der Fernsehserie nehmen dem Rezipienten einen großen Teil der Imaginationsarbeit ab – was wiederum eine Kunst für sich ist. In der Studie des Börsenvereins sprechen die Befragten vor allem von Entspannung. Für den Konsum von Fernsehserien sei keine große Eigenenergie nötig. Beim Seriensehen kann man sogar noch einer anderen Tätigkeit nachgehen. Außerdem kann man Serien zusammen ansehen und spontan darüber kommunizieren, während man Bücher höchstens parallel lesen und sich lediglich nach der Lektüre darüber austauschen kann.
Für die Erbauungsfunktion gilt: Die Literatur in der stofflichen Form des herkömmlichen Buches oder des E-Books wird in der Zukunft nicht die herausragende Rolle der Vergangenheit spielen. Nach der Studie des Börsenvereins verzeichnete das E-Book im letzten Jahr den ersten Rückgang. Die Konkurrenz um das Zeitbudget durch andere Formate wird weiter zunehmen. Eine spannende Fernsehserie wie Stranger Things mit der phantastischen Schauspielerin Millie Bobby Brown oder die die Gegenwartsästhetik stark beeinflussende Plattform Instagram sind keine Zeitverschwendungen. Was man nicht über manche deutsche Gegenwartsromane sagen kann, in denen etwa der Protagonist sein iBook auf dem Bett liegen lässt (sic). Man ist hier versucht, Chris Dercon zu zitieren: „Die deutsche Kultur ist sehr beschränkt, nicht nur im Theater, auch in der Literatur. Die Neugier auf das, was draußen passiert, die Neugier auf andere Disziplinen, das fällt den Deutschen sehr schwer.“ Die Welt wird besser: Die Hauptfigur von Stranger Things, El, ist eine Seelenverwandte von Mignon aus Goethes Wilhelm Meister, jedoch deutlich intelligenter. Sie ist auch smarter als Buffy.
Überhaupt Netflix. Während die klassischen Fernsehsender, egal ob öffentlich-rechtlich oder privat, immer die Masse angesprochen und die Nische gemieden haben, kombiniert Netflix Nischen: House of Cards richtet sich an die Politik- und Macht-Interessierten, die sich auch über die der Machtausübung zugrundeliegenden Mechanismen informieren wollen. Orange Is the New Black ist eigentlich die maximal geläuterte Hausfrauenserie, Making a Murderer bedient die fortgeschrittenen True-Crime-Fans etc. Man muss kein Prophet sein, um die taste communities des Marktführers beim Streaming von Serien als Zukunft auch der ernsthaften Literatur zu sehen. Die Zeit der Großschriftsteller und Großdichter ist vorbei, deren akzeptierter oder nicht akzeptierter Anspruch es war, mehrheitsfähig zu sein.
Die Fernsehserie hat sehr viel von der Literatur gelernt. Zahlreiche Erzähltechniken und Dialogstrategien sind schlichtweg von der Literatur übernommen. Auch das Prinzip des Erzählens in Fortsetzungen stammt aus der Literatur, das Standardbeispiel ist Charles Dickens. Weder kann noch sollte die Literatur viel von der Fernsehserie lernen. Reine Bestsellerautoren haben schon immer versucht, die kognitive Beanspruchung des Lesers zu minimieren, literarische Bestsellerautoren üben sich in der Optimierung derselben.
Literatur und Imagination gehören zusammen. Individuelle Imaginationsarbeit ist von den Internetfirmen nicht erwünscht. Die Leute sollen genau das imaginieren, was den Angeboten der Internetfirmen entspricht. Aus dieser Engführung sind zwei Auswege denkbar: eine gezielte intellektuelle Aufklärung, die der individuellen Imagination den ihr zukommenden Stellenwert zurückgibt, und geänderte Geschäftsmodelle der Internetfirmen. Vielleicht kann man einmal mit der Förderung der individuellen Imagination Geschäfte machen?
Öffentliche und private Kommunikation. Seit der Existenz des Internets gibt es kaum mehr wirklich private schriftliche Kommunikation. Einzelne, die noch Briefe mit der Hand oder auf einer mechanischen Schreibmaschine schreiben, sind Ausnahmefälle, die – bis jetzt – noch keinen Trend darstellen.
Die Öffentlichkeit der schriftlichen Kommunikation ist freiwillig und unfreiwillig. Die unfreiwillige Öffentlichkeit besteht darin, dass Geheimdienste und ‚ganz normale‘ Firmen auf alles Zugriff haben, was ins Internet eingespeist wird. Wer etwas anderes glaubt, macht sich Illusionen. Eric Schmidt, der ehemalige CEO von Google, meinte: „If you have something that you don’t want anyone to know, maybe you shouldn’t be doing it in the first place.“
Aber auch in Nicht-Schurken-Staaten kommt es vor, dass Schurken an Schalthebeln sitzen, die Informationen sammeln, um ihren Gegnern zu schaden. Auch in Nicht-Schurken-Staaten existieren moralische Dilemmata, die möglicherweise durch Machtausübung infolge einer asymmetrischen Informationslage aufgelöst werden.
Durch das Internet haben die Menschen die Möglichkeit, symbolisches Kapital im Bourdieuschen Sinn anzusammeln, wobei Herkunft, finanzielle Möglichkeiten oder Leistungsausweise auf klassischen Feldern wie Kunst oder Wissenschaft keine notwendige Bedingung sind. Die Instagram-Göttinnen Beyoncé und Rihanna sind großartige Sängerinnen, Beyoncé ist auch eine hervorragende Songwriterin, aber das allein führt noch nicht zu 115 Millionen (Beyoncé) beziehungsweise 63 Millionen (Rihanna) Followern. Rihanna ist die Stilikone der Gegenwart, siehe auch den kürzlichen Auftritt bei der Met-Gala, Beyoncé lässt ihre Follower nicht nur an ihrem Distinktionsvermögen, sondern auch an ihrem Privatleben teilnehmen, siehe die kürzliche Schwangerschaft. Die Verbindung von Schrift und Bild im Internet ermöglicht es nun jedem Instagram– oder YouTube-Nutzer, sich einen anderen, öffentlichen Körper zu konstruieren. Nachdem das Format für alle Nutzer dasselbe ist, können sich auch Thomas und Lieschen Müller (das Motto des Diogenes-Verlags war früher: Wir sind der Verlag für Dr. Lieschen Müller) neben die neuen Göttinnen und Götter stellen.
Briefwechsel, Tage- und Notizbücher von Romanciers und Dichtern sind nicht mehr die einzigen öffentlich zugänglichen Beispiele der entsprechenden Formate. Der Briefroman ist keineswegs am Ende, ihn gibt es als E-Mail- oder Tweet-Roman weiter. Hier wird sichtbar, dass sich die Substanz der Literatur nicht verändert hat. Auch früher haben neben berühmten Schriftstellern und Dichtern Unberühmte Tagebücher geführt und Aufzeichnungen gemacht, und sie sind ohne Internet durch ihre Notate berühmt geworden, siehe Montaigne, Pepys und Lichtenberg. Auch heute machen Schriftsteller und Nicht-Schriftsteller Aufzeichnungen, die sie nicht sofort veröffentlichen.
Trotz allem: Es gibt noch das Bedürfnis nach Privatsphäre. Die Nachfrage nach Guarded Communities und die Proteste gegen Gesichtserkennung sowie Body Scanning bezeugen das. Eric Schmidt wohnt in einem Condominium ohne Doorman, niemand sieht ihn kommen und gehen. Mark Zuckerberg von Facebook hat fast alle Nachbarhäuser gekauft, damit keiner sein Haus beobachtet. Als unmittelbarer Speicher für Erfahrungen, die dem Innenleben der Individuen zugeordnet werden, wird Literatur weiter wichtig bleiben. Denn die Schilderung des Innenlebens ist die große Stärke der Literatur überhaupt. Vereinzelt gelingen Film und Fernsehserien anspruchsvolle Innenbilder. Oft sind diese allerdings das Ergebnis der Übernahme von literarisch erprobten Erzähltechniken.
Künstliche Intelligenz. Das zentrale Paradigma der KI sind im Augenblick die neuronalen Netzwerke. Die Versprechung lautet, dass es bald gigantische rekurrente neuronale Netzwerke geben wird, die gleichzeitig geschriebene Texte, gesprochene Sprache, Bilder und Videos aus zahlreichen Quellen wahrnehmen und verarbeiten können. Die Netzwerke sollen buchstäblich alles mit allem in Verbindung bringen. Das Ganze ist jedoch auch ein Fall von Opakheit: Es gibt keine mathematischen Modelle, die zeigen, wie das Lernen von neuronalen Netzwerken funktioniert. Sicher ist nur, dass die Netzwerke lernen, und dass man die Lernergebnisse verwenden kann.
Die Gefahr, dass künstliche Intelligenzen Romane und Gedichte von Belang schreiben, erscheint nach den vorliegenden Talentproben gering. Komplex agierende Roboter gibt es schon länger, sie sind aus Fleisch und Blut und können immerhin singen. Der berüchtigte Schlagersänger Tony Marshall: „Wenn ich auf die Bühne gehe, dann rufen die Leute ‚Schöne Maid‘ oder ‚Bora Bora‘. Aber das ist nicht das Belastende, sondern dass man abfällig als Tralalasänger bezeichnet wird. Wenn ich durch die Stadt ging, auch in Baden-Baden, wo ich jetzt Ehrenbürger werde, habe ich manchmal das Trottoir gewechselt, denn ich wollte mich nicht durch dumme Sprüche provozieren lassen. Dabei gab es einen Eurovisionsbeitrag einer spanischen Gruppe, die haben tatsächlich nur lalala gesungen – und nicht schlecht abgeschnitten. Das hat mich schon gewurmt, dass das offenbar völlig okay war. Aber mit dem Alter kam dann die Einsicht: Hätte es die ‚Schöne Maid‘ nicht gegeben, hätte es auch den Tony Marshall nicht gegeben.“
Wahrheit und kein Konsens. Am Anfang der Luhmann-Soziologie steht der Verzicht auf gesellschaftliche Ordnung durch Konsens. Die Habermassche Diskursethik, nach der die Diskursteilnehmer in jeder denkbaren Situation von sich aus einen Konsens über einen Gegenstand suchen, erscheint heute wie ein Relikt aus dem Paläolithikum. Die Grundvorstellung, dass soziale Ordnung in irgendeiner Weise auf Konsens und Wahrheit als Konsens beruht, findet sich jedoch in zahlreichen Gesellschaftstheorien bis hin zu Talcott Parsons und John Rawls. Luhmann definierte bekanntlich Gesellschaft als die Summe der in ihr stattfindenden Kommunikationen. Konsens bedeutet Ende der Kommunikation und Ende der Gesellschaft. Dissens bedeutet, dass weiter kommuniziert wird, dass die Gesellschaft perseveriert. Die Verfasser von Romanen und Gedichten, die professionellen Literaturkritiker und die Leser aus Passion wussten das schon immer. Eigentlich weiß das auch jedes Kindergartenkind nach ein paar Tagen.
Die gegenwärtigen Gesellschaften leben nicht selten sehr gut mit sich maximal widersprechenden Wahrheitsbegriffen, in denen kein Platz für irgendeine Version des Konsensgedankens ist. Es macht keinen Sinn, etwa Putin und Trump einfach Lügner zu nennen. Für Trump ist Wahrheit ein Ensemble aus Fernsehberichten, eigenen Gefühlen, Wünschen und Abneigungen. Das ist in gewisser Hinsicht – horribile dictu – ein ziemlich literarischer Wahrheitsbegriff. Für Putin ist es völlig egal, ob etwas eine Wahrheit ist oder nicht, ob man ihm glaubt oder nicht. Wichtig ist, dass niemand, der wichtig ist, widerspricht. Die beiden Werkzeuge, mit denen das erreicht wird, sind Geld und Gewalt beziehungsweise Gewaltandrohung. Trump und Putin haben für ihren jeweils spezifischen Umgang mit der Wahrheit Mehrheiten gefunden.
Die sich widersprechenden Wahrheitsbegriffe liegen im Interesse der Internetfirmen. Stabile Wahrheiten sind schlecht für das Geschäft. Desinformation und Fake News nützen den Internetfirmen, weil sie den Effekt haben, dass sich die Nebenbedingungen für die Konsumenten ständig ändern. Wer nicht bei dem Online-Spiel Fake News oder nicht? mitmacht, ist für die Internetfirmen uninteressant.
Differenzierung und Habitus. Wenn sich die Gesellschaftstheoretiker bis zum Ende des letzten Jahrhunderts über etwas einig waren, dann über den universalen Trend zur zunehmenden funktionalen Differenzierung der Gesellschaften: Es existieren immer mehr gesellschaftliche Subsysteme, sie unterscheiden sich immer stärker voneinander, es gibt immer weniger ‚gesamtgesellschaftliche Vernunft‘ und Common Sense. Dabei sind die meisten Soziologen nicht so strikt wie Luhmann, der seine sozialen Subsysteme über die Unterschiede zwischen ihnen definierte.
Der Bourdieusche Habitus ist einer der wirkmächtigsten gesellschaftstheoretischen Begriffe aller Zeiten. Die Positionen im sozialen Raum Bourdieus sind mit bestimmten Verhaltensdispositionen für ihre Inhaber verbunden. Für diese positionsspezifischen Dispositionen verwendet Bourdieu den anschaulichen Ausdruck Habitus. Der Habitus ist das Ergebnis der Konditionierung des Positionsinhabers für alle wiederkehrenden Handlungen und für den Umgang mit allen Gütern. Der Habitus ist immer auch eine Geschmacksklasse, deren Elemente starke stilistische Ähnlichkeiten aufweisen. Bourdieu erläutert das Prinzip des Habitus gerne durch Verweis auf für ihre jeweiligen sozialen Schichten typische Figuren bei Balzac und Flaubert.
Bedingt durch die Möglichkeiten der IT hat die soziale Differenzierung so stark zugenommen, dass die Existenz der Einheiten, die da Gegenstand der Differenzierung geworden sind, fraglich geworden ist. Das Ganze bietet natürlich eine Parallele zur Problematik des Ich, des Selbst, des Bewusstseins etc. Jonathan Franzen übt Kritik am Internet, indem er Karl Kraus zitiert: „Wir treiben einen Weltverkehr auf schmalspurigen Gehirnbahnen.“ Der Satz ist im Kontext dessen, was er kritisieren soll, irreführend. Die Gehirnbahnen des gegenwärtigen Weltverkehrs mögen schmal sein, aber sie verzweigen sich permanent.
Dirk Baecker vertritt in seinen Studien zur nächsten Gesellschaft die Auffassung, dass die nächste Gesellschaft eine sein werde, welche die funktionale Differenzierung hinter sich gelassen haben wird. In jedem Fall taugt der Gedanke der funktionalen Differenzierung nicht mehr als universales Geländer für das Theoriedesign. Analoges gilt für den Habitus. Man kann keine Romane mehr schreiben wie Balzac, Zola und Proust, in denen das Personal fest in einer jeweiligen sozialen Position verankert ist und in denen es einen wichtigen Teil der Storyline ausmacht, die Grenzen der sozialen Position lediglich zu testen.
Opakheit der Gesellschaft. Luhmann hegte die Befürchtung, dass die Computer einen zunehmenden Teil der Gesellschaft unsichtbar machen. Wenn immer mehr Leistungen der Computer für die Kommunikation und das Bewusstsein unzugänglich bleiben, wird eine Beschreibung der Gesellschaft schwierig bis unmöglich.
Das Luhmannsche Misstrauen ist durchaus berechtigt. Die Internetplattformen gewähren Interessenten keinen direkten Zugriff auf interne Daten, Algorithmen und Prozesse. Sie stellen den Nutzern APIs, Application Programming Interfaces, Schnittstellen für Programmierer, zur Verfügung. Damit können die Interessenten ausgewählte Daten herunterladen und bestimmte, von den Internetfirmen vorgesehene Analysen der Daten vornehmen. Die genaue Struktur der APIs bleibt dem Nutzer jedoch verborgen, und die Kommunikation ist für den Nutzer nicht durchsichtig. Natürlich verwenden die Internetfirmen die APIs dazu, Daten über deren Nutzer zu gewinnen. Je mehr die Nutzer der APIs wissen wollen, desto mehr erfährt die Plattform, die hinter den APIs steht, über die Nutzer. Auf diese Weise üben die Internetplattformen eine Kontrolle über Teilbereiche der gesellschaftlichen Kommunikation aus, deren Art und Umfang gänzlich im Dunkeln bleibt.
Die zentralen Gedanken Luhmanns sind die ständig zunehmende Bedeutung der Beobachtung zweiter Ordnung und sein radikaler Funktionalismus. Eine einheitliche Beschreibung von Gesellschaften ist nicht möglich, weil es keinen Standpunkt außerhalb der Gesellschaften und keine privilegierte Beobachterposition gibt. Wenn man ein gesellschaftliches Phänomen vor sich hat, muss man untersuchen, inwiefern es dazu beiträgt, das Funktionieren der Gesellschaft in ihrer vorliegenden Struktur zu fördern. Der Begriff der Funktion impliziert, dass eine Stelle in einer Gesellschaft immer auch anders, aber nicht beliebig anders besetzt werden kann. In der Gegenwart machen ökonomische Erklärungen einen immer größeren Anteil der funktionalistischen Erklärungsangebote aus: Es gibt etwas, weil es ein Geschäft für denjenigen ist, der dafür sorgt, dass es das Etwas weiter gibt. Die sich widersprechenden Wahrheiten sind gut für das Geschäft.
Mit den Internetplattformen hat sich der Charakter der Autorschaft von Narrativen verändert, die für die Gesellschaft wichtig sind. Damit sind nicht literarische Erzeugnisse gemeint. Im letzten Jahrhundert hatte man ein Bild von der Autorschaft wichtiger Narrative: Es gab Figuren und Personengruppen, religiöse und ethische Überzeugungen sowie spezifische Interessenlagen, denen man die Narrative zuordnen konnte. In diesem Jahrhundert hat die Autorschaft hinter den kursierenden Narrativen viel weniger Kontur. Das ist eine Sorte von Opakheit, die Luhmann nicht voraussah, die ihn jedoch wohl noch mehr beunruhigt hätte als die von ihm vorweggenommene Opakheit der Computer. Wenn es eine zentrale inhaltliche Frage in den Zeiten des Computerdenkens und der Internetplattformen gibt, dann ist das die Frage nach der nichtliterarischen Autorschaft. Welches Format könnte besser geeignet sein, diese Frage zu behandeln, als die Literatur?
Speicherung. Auch wenn man nicht der Auffassung ist, dass Gesellschaft ausschließlich Kommunikation ist: Gesellschaften stabilisieren und perpetuieren sich in hohem Ausmaß durch Kommunikation. Literatur ist dabei kein Leitmedium mehr. In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts gab es im deutschen Sprachraum aktuelle Bücher, ‚die man gelesen haben sollte‘. Eine analoge Aussage lässt sich über Bücher, die heute erscheinen, nicht machen. Zwar kursieren jede Menge von Bücherempfehlungen im Internet, doch weisen die entsprechenden Listen kaum Überschneidungen auf.
Die gesellschaftliche Kommunikation setzt Gedächtnis voraus. Bis jetzt finden sich die aufschlussreichsten gesellschaftlichen Selbstdarstellungen in der Geschichtswissenschaft, in der erzählenden Literatur und im Film. Die Darstellungen der Geschichtswissenschaft beschäftigen sich bevorzugt mit Ereignissen und Personen, die für die jeweiligen Gesellschaften konstitutiv und repräsentativ sind. Die Autoren versuchen dabei in der Regel, sich an sogenannte historische Fakten zu halten. Die Literatur macht beide Einschränkungen nicht. Die Speicherung durch die Literatur ist unsystematisch und schlicht subjektiv. Gespeichert wird nur das, was die jeweils Gegenwärtigen in irgendeiner Form erbaut und was ihnen eine möglicherweise passende Position in ihrer Welt anbietet. Die Speicherung durch Geschichtswissenschaft und Literatur musste unvollständig sein, weil den Gesellschaften generell nur eine geringe Kapazität der Informationsverarbeitung eignete. Mit der heutigen IT sind die Gesellschaften dazu in der Lage, ihre Komponenten und Selbstdarstellungen mit einem hohen Grad von Vollständigkeit zu speichern.
Das Gedächtnis des Internets ist die Wayback Machine des Internet Archive in San Francisco. Sie speichert ca. 310 Milliarden Websites, wöchentlich kommt ca. eine Milliarde hinzu. Das Ziel ist, einen möglichst großen Teil der zu jedem Zeitpunkt verfügbaren Internetseiten für die Ewigkeit zu bewahren. Darüber hinaus bietet das Archiv Zugang zu Sammlungen von Magazinen und Büchern, Bildern, Audiodateien, Videos und Software. Die gespeicherte Datenmenge beträgt derzeit 35 Millionen Gigabytes. Etwa eine Million Menschen nutzt den Service pro Tag.
Horaz sagte über seine Gedichte: „Exegi monumentum aere perennius.“ Ich habe ein Denkmal errichtet, dauerhafter als Bronze. Das schriftliche Festhalten von Horaz’ Gedichten auf den damals verfügbaren Materialien, das Kopieren und die Weitergabe beanspruchten einen vernachlässigbaren Teil der Ressourcen der Gesellschaft. Dasselbe gilt für das Internet Archive. Im Internet tauchen die Texte und Bilder auf und verschwinden. Das große Flackern wird ohne übergroße Beanspruchung der verfügbaren Ressourcen gespeichert. Das Gebäude, in dem das Internet Archive residiert, wurde 1923 erbaut und diente bis vor zehn Jahren als Kirche. Wo früher Gottesdienste abgehalten wurden, stehen jetzt Server. Im Altarraum erscheinen auf mehreren Bildschirmen in rascher Abfolge Websites aus der Frühphase des Internets. Horaz hat aus seiner Gegenwart eine Quintessenz herausdestilliert, deswegen beanspruchte er eine Bronzestatue für sich. Das Internet Archive ist eine Hoarder- oder besser: eine Messie-Aktivität. Von verdienten Mitarbeitern werden Holzstatuen angefertigt, an denen die Besucher vorbeipromenieren.
Im Internet Archive ist alles gleichberechtigt. Die Wayback Machine macht keinen Unterschied zwischen privaten Fotos, Abbildungen von Kunstwerken und pornographischen Seiten, zwischen anerkannten Wissenschaftlern und Mitgliedern der Flat Earth Society, zwischen historischen Darstellungen und Verschwörungstheorien. Das Internet Archive speichert lediglich rohe Kulturdaten. Unabhängig davon ist die Mengenproblematik: Das Internet Archive enthält nie dagewesene Mengen von Kulturdaten. Hier ergibt sich die übliche Problematik von großen Gedächtnisspeichern: Wenn auf die Daten nicht zugegriffen wird, dann ist das so, als ob es die Speicher, die Daten nicht gäbe.
Neben der weiterhin aktuellen direkten Speicherfunktion wird Literatur eine Meta-Speicherfunktion bekommen: Literatur wird eine Methode unter mehreren sein, die Rohdaten aus dem Internet Archive zu organisieren. Will sagen: Narrative werden mit darüber entscheiden, was aufgerufen wird und was nicht, und Narrative werden das Aufgerufene bewerten.
Literatur, die versucht, „Das Menschliche“ möglichst unverändert durch die Zeiten zu bringen, muss scheitern. „Der Mensch“ ist zu jeder Zeit in hohem Maß von der Gesellschaft und von der jeweils verfügbaren Technologie gebildet. Luhmann sah, fast angstvoll, die Andersheit des Computers. Romane und Gedichte sind oft Verstärkungsanalysen von Abweichungen, das gilt sowohl für die Beschreibungen von Innen- als auch von Außenwelten. In der Gegenwart bedeuten das Computerdenken und die Internetplattformen die größten Abweichungen von der Vergangenheit. Literatur muss auch erfassen, wie das Computerdenken, wie die Internetplattformen die Gesellschaften und die Einzelnen verändern. Heidegger würde googeln. Wittgenstein würde googeln und Instagram abonnieren. Musil würde googeln, Instagram abonnieren und vielleicht sogar programmieren.
Erkenntnis. Auf die Erkenntnisfunktion soll hier nur am Rand eingegangen werden. Klassischerweise umfasst die Erkenntnisfunktion der Literatur das Prodesse aus dem ‚Prodesse et delectare‘ des Horaz in seiner Ars poetica: „Aut prodesse volunt aut delectare poetae.“ Die Erkenntnisfunktion in einem sehr weiten Sinn meint alles, was erzieherisch ist, was bildet, was dem Leser die Augen öffnet, was der Leser erstmals für sich versteht.
Literatur verändert die Beziehungen sprachlicher Artefakte zueinander und deren Verhältnis zu dem, was nicht Sprache ist. Dies ist naturgemäß genau deshalb möglich, weil Literatur Imaginationsarbeit sowohl auf der Seite des Autors als auf derjenigen des Lesers ist. Ich verweise auf meinen Essay Versuch über den Roman als Erkenntnisinstrument, der die Erkenntnisfunktion der Literatur formal konkretisiert.
Das Ende der Geschichte. Nach Hegel und Francis Fukuyama beschäftigt auch den Internet-Kritiker Evgeny Morozov das mögliche Ende der Geschichte. Die führenden Akteure der amerikanischen Technologiefirmen seien sich mit den europäischen Technokraten einig, dass die Geschichte bereits zu Ende ist. Der globale Kapitalismus herrsche, weil er überall Wohlstand bringe und dafür sorge, dass Leistung sich lohnt. Es gebe nur noch mehr oder weniger regulierte Märkte, auf denen die Technologie-Firmen den Nutzern alle denkbaren Güter und Dienstleistungen anbieten. Politik nach dem Ende der Geschichte bestehe aus genau drei Elementen: Initiativen zur Stärkung der Verbraucherrechte, zur Förderung des Wettbewerbs und aus Steuerpolitik.
Dabei nehmen die Technologiefirmen großen Anteil am Wohlergehen der Konsumenten. Die Motivation dazu ist nicht unbedingt eine ethische. Wenn die Konsumenten nicht über die entsprechenden finanziellen Mittel verfügen, sind sie keine. Deswegen solidarisieren sich die Technologiefirmen mit den Forderungen nach einem bedingungslosen Grundeinkommen, und sie unternehmen selbst Anstrengungen, Probleme der Bildungs- und Gesundheitssysteme zu bewältigen.
Ist das Ende der Geschichte auch das Ende der Literatur?
Alle bisherigen menschlichen Gesellschaften benötigen für ihr Funktionieren das Element der Narration. Die jezeitige Identität der Einzelnen wie der relevanten Gruppierungen konstituiert sich ganz wesentlich durch narrative Techniken. Natürlich müssen diese nicht unbedingt verschriftlicht sein. In den Vorgängergesellschaften unseres Kulturkreises bildete die Literatur die Individuen bestimmter sozialer Schichten und perpetuierte durch ihre Rolle als kulturelles Gedächtnis die Gesellschaft und bestimmte Subgesellschaften als Ganze.
Was üblicherweise als das Fiktionale bezeichnet wird, ist keineswegs ein Produkt spezifischer Kulturen, sondern gehört zur Conditio humana. Nicht nur Romanautoren ersinnen Figuren, die nie gelebt haben. Es ist völlig normal, dass sich Kinder im Vorschul- und Elementarschulalter Geschwister und Freunde erfinden, die es nicht gibt. Die Gefährten und Gefährtinnen sind keine Ablenkungen von der Welt, sondern sie helfen den Kindern, in der Welt zurechtzukommen, etwa, indem sie mit ihnen Probleme unter unterschiedlichen Gesichtspunkten diskutieren. Solange die nächsten Gesellschaften narrative Elemente aufweisen, wird es Literatur geben, die diesen Namen verdient.
Computerdenken ist der menschliche Gedankenprozess, in dessen Verlauf sowohl das Problem als auch die Lösung des Problems so formuliert wird, dass die tatsächliche Problemlösung unterschiedslos von Menschen oder von Maschinen ausgeführt werden kann. Natürlich kann nicht ausgeschlossen werden, dass künstliche Intelligenzen der Zukunft einmal annehmbare Romane und Gedichte schreiben werden. Aber diese Gleichsetzung von Problem und Lösung zeigt anschaulich, wie weit literarische Autorschaft und literarisches Lesen vom gegenwärtig grassierenden Computerdenken entfernt sind. Literatur ist gerade nicht, dass der Autor oder der Leser sein Problem so löst, dass es keins mehr ist, oder sogar: dass es nie eins war. Dann handelt es sich nicht um Literatur. In der Regel ist Literatur das ungelöste Problem oder die Lösung für ein anderes Problem.
Die entscheidende Frage ist: Ändert sich das Denken der Schriftsteller und Dichter in den Zeiten der Internetplattformen? Die klare Antwort lautet: nicht wesentlich. Literarisches und gegenwärtiges Computerdenken sind so weit voneinander entfernt, dass es da nicht einmal eine Drift geben kann. Das ist auch gut so: Damit die Literatur ihre Speicherfunktion beziehungsweise ihre Meta-Speicherfunktion wirkungsvoll wahrnehmen kann, muss sie anders denken als das Internet Archive. Am Ende geht es immer um das Sortieren, Deuten, Verarbeiten, Zum-Narrativ-Machen des Aufgenommenen.
Postskriptum. Reid Hoffman, Mitgründer von LinkedIn, ist überzeugt, dass etwa die Hälfte der Internet-Milliardäre auch Preppers sind, die Vorkehrungen für den Fall des Weltuntergangs treffen. Finden sich zwischen Notstromaggregaten, Solarzellen, Konserven, Schusswaffen und Munition auch gebundene Bücher? Die ja im Gegensatz zu E-Books den Notstrom nicht strapazieren würden. Wenn ja, welche? The Singularity Is Near von Ray Kurzweil oder Ausgaben des Horaz.