Der Wälzerkönig von Amsterdam

Sieben Bände umfasst J. J. Voskuils monumentaler Roman Das Büro. In den Niederlanden kampierten die Leser am Erscheinungstag vor den Buchhandlungen. Von Detlev van Heest

Online seit: 20. Januar 2021

Die späten 1990er-Jahre brachten der niederländischen Literaturwelt ein neues Phänomen: Nachts, vor dem Erscheinen eines neuen Bandes aus dem Romanzyklus Het Bureau (Das Büro), kampierten ungeduldige Leser vor den Buchhandlungen, die unbedingt sofort bei Erscheinen ihr Exemplar haben mussten. Weltweit bekannt wurde dieses Phänomen später unter dem Namen einer anderen Buchserie: Harry Potter; in den Niederlanden rief J. J. Voskuil (1926–2008) mit seinem siebenbändigen Monumentalwerk denselben Effekt hervor.

Das Büro ist ein moderner Klassiker und ein Kultbuch zugleich, das es auf fast eine halbe Million verkaufter Exemplare brachte, ein für die kleinen Niederlande seltener Triumph eines Autors. Eine nach der Bürosaga produzierte, über 200-teilige Hörspielfassung läuft seither im niederländischen Radio in Endlosschleife – bis heute. Die ehemaligen Mitarbeiter des Romanhelden Maarten Koning, Alter Ego des Autors, führten in den ehemaligen Büroräumen Rollenspiele auf und nahmen in Talkshows Platz, derweil sich der Autor dem literarischen Hype möglichst fern hielt.

Ich habe von dem ganzen Trubel anfangs rein gar nichts mitbekommen, denn ich lebte seit sechs Jahren in Japan, als mich der Hype dann doch noch erreichte: Ben, mein damals bester Freund aus den Niederlanden, wies mich in einem Brief auf das neue „literarische Phänomen“ hin. Er verpflichtete mich, gleich die ganze Serie der Bücher zu bestellen, die ihn so sehr beeindruckt hatten und die mir, so meinte er, auch munden, ja, noch mehr, in Hirn und Magen gehen würden – das, obwohl in ihnen (fast) überhaupt nichts passiere. Sieben Bände sollten es insgesamt werden, drei waren schon erschienen. Ich solle sie unbedingt alle lesen, allein des Autors wegen. Ben hatte nämlich einen mehr oder weniger persönlichen Zugang zu ihm, das heißt, er hatte als Kind ein- oder zweimal auf dem Schoß des Vaters jenes Autors sitzen dürfen.

Das Büro ist ein moderner Klassiker und ein Kultbuch zugleich, das es in den Niederlanden auf fast eine halbe Million verkaufter Exemplare brachte.

1991 hatte ich meinen Fernseher abgeschafft, um nie mehr in Versuchung zu kommen, mir in der Weite der Röhre den dort gezeigten Serienmist ansehen zu müssen. Und von mir aus hätte man auch die Buchdruckerkunst abschaffen können, wenn dem Leser aus Vermarktungsgründen Bücher nur noch bröckchenweise zugemutet werden konnten, ob nun als Feuilletonhappen oder als fortschreitender Dickbuch-Durchfall. Ich bin eine ungeduldige Natur – und jetzt ein Werk biblischen Ausmaßes? Sieben Bände? Das waren sechs Bände zu viel für mich. Wer, so meine Auffassung, nicht in der Lage war, mir in einem Band sein Anliegen zu unterbreiten, der sollte sich besser einen anderen, leidlicheren Buchverzehrer suchen.

Die niederländische Literatur war mir immer lieb und teuer, doch die deutsche, verfasst in der Sprache meiner Mutter, hatte sie seit meiner frühesten Jugend überschattet. Auf Deutsch, eine Sprache, die Worte wie „Weltschmerz“, „Leidensfähigkeit“ und „Strafraumschwalbe“ kennt, klang alles immer unendlich gewichtiger, durchlebter und literarischer als in der rauen Mundart der Holländer. Nie würden die aus Sumpfgasen entstandenen Wortgebilde je nobelpreiswürdig werden, dessen war ich mir sicher.

5.500 Seiten über ein Büro

Je länger ich jedoch in Japan lebte, desto größer wurde mein Bedürfnis nach eben solchen, in der schroff-schlichten Sprache der Niederländer verfassten Büchern. Es war wohl nur im weitesten Sinne ein Symptom von Heimweh, denn ich fühlte mich in jenem fernen Inselreich so wohl, dass ich mich dort auf ewig niederlassen wollte.

Ben schickte mehr und mehr niederländische Literatur, um meinen wachsenden Bedarf zu befriedigen. Nun also schlug er J. J. Voskuil vor, fast 5.500 Seiten: Das Büro. Ben – Mitessergesicht, unverstanden, sein Selbsthass wurde nur von seiner Verachtung der übrigen Menschheit gegenüber übertroffen, war hochintelligent – und so entschloss er sich, mich zu Voskuil zu bekehren. Mit seiner Freundin besuchte er mich drei Wochen in Tokio und brachte als Gastgeschenk den zweiten Band der Voskuilschen Bürosaga, Schmutzige Hände, mit. Da er und seine Lebensgefährtin den weiten Weg gemacht hatten, versprach ich, mal hineinzuschauen, aber nicht gleich: Ich hatte vorher noch anderes zu lesen.

Zu dieser Zeit lebte ich mit einer Frau zusammen, die an chronischer Schlaflosigkeit litt und die mich nachts dauernd mit der Aufforderung weckte, ich solle sie gefälligst mit irgendetwas müde machen. Da der Sexualtrieb dafür auf die Dauer nicht die Lösung brachte, las ich ihr Bücher vor, Lebensgeschichten von Beamten im öffentlichen Dienst und mitunter auch Werke der höheren Literatur: vornehmlich deportierte, dem Alkohol verfallene Russen und chronisch depressive Deutsche.

Komische Nüchternheit

Neben unserem Bett lag nun seit einigen Monaten auch der besagte Voskuil-Band. Ich fing an, ihr daraus vorzulesen – ohne den erwünschten Erfolg. Im Gegenteil! Ihre Schlafstörungen griffen auf mich über. Denn jeder Abschnitt des Voskuilschen Werkes erzwang das Weiterlesen, so wie man eine Zigarette auch nicht nach zwei oder drei Zügen ausmachen kann. Ben hatte recht: Die ganze Stange musste aufgeraucht werden! Bei Tageslicht las ich weiter. Als ich den Band durch hatte, fing ich erneut damit an, bis zum Ende, um gleich wieder von vorn zu beginnen.

Die Dialoge in diesem Büro-Epos waren für mich in ihrer authentisch-komischen Nüchternheit unübertroffen. Die Hauptfiguren, allesamt Antihelden, waren zum Verlieben: der stotternde, schwule, unprätentiöse Institutsdirektor Anton Beerta, der kontaktscheue Maarten Koning und seine antibürgerliche, unausstehliche und dennoch bezaubernde Frau Nicolien, die ihm bei jeder Gehaltserhöhung die Hölle heiß machte, weil er dem heiligen Armutsideal der Eheleute wieder einmal untreu geworden war, der Arbeitsverweigerer Bart Asjes, der Schmarotzer Ad Muller, und und und. Das Büro gab dem, der zu lesen und verstehen wusste, den Schlüssel zu mannigfaltig komplexen menschlichen Beziehungen – und führte in meinem Fall zur spontanen Identifikation mit Maarten Koning, dem unermüdlichen Kultur- und Zivilisationspessimisten, der dennoch immer wieder auf seine Mitmenschen hereinfällt. Nirgendwo, so lehrte mich Das Büro, ist man einsamer und verlassener als in einer Gemeinschaft. Gemeinsamkeit gibt es für Maarten Koning nur in der Einsamkeit.

Ben, mein Voskuil-Dealer, und ich entzweiten uns bald. Auch wegen Voskuil. Das kam so: Über seinen Verlag schrieb ich dem Autor einen langen Brief. Kurz darauf antwortete er seinem wohl am weitesten entfernt lebenden Leser. Daraus erwuchs eine Korrespondenz, die bis zum Lebensende Voskuils fortdauerte. Als ich kurz nach der Jahrtausendwende eine Europareise antrat, stattete ich dem Ehepaar Voskuil einen Besuch in Amsterdam ab. Ich wollte Ben mitnehmen, denn er hatte schließlich auf dem Schoß des Vaters gesessen, aber ich traute mich nicht, den Autor und seine Frau zu fragen, ob ich diesen „Schößling“ auch mitbringen dürfte. Ben kam mit nach Amsterdam und wartete schließlich stundenlang in einem nahen Café. Als ich nach meinem Besuch begeistert zu ihm zurückkehrte, schwieg er – bis heute.

Ein gefährliches Buch

Doch meine unstillbare Leidenschaft für Voskuil verdanke ich Ben. Er verzieh mir nicht, dass er mich nicht zu seinem Autoren-Gott hatte begleiten dürfen. Gewiss ein Indiz für die Überzeugung Voskuils, wonach Freundschaft immer auch Konkurrenzkampf ist, oder besser: eine in Schaffell gehüllte Feindschaft. So wurde Das Büro der Freundschaft zwischen Ben und mir zum Verhängnis. Ein gefährliches Buch also – der Leser im deutschen Sprachraum sei daher gewarnt.

Als J. J. Voskuil 2008 starb, schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung in einem Nachruf, dass der Autor, wäre er nicht Holländer, sondern Amerikaner, zweifelsohne ein seriöser Kandidat für den Literaturnobelpreis geworden wäre, andererseits aber ein Amerikaner ein so großartiges Werk wie Das Büro niemals hätte schreiben können.

Voskuil hielt sich in seinen Büchern fern von „kreativem Schreiben“, von Schönschreiberei, Mystifikation und Ausschweifung, die manch talentierten niederländischen Autoren jenes Flair des In-sich-selbst-Verliebtseins verleihen, mit dem sie, sobald sie aus der Mode geraten, nur noch lächerlich wirken. Ich meine damit keinesfalls Cees Nooteboom oder Harry Mulisch, die einzigen Niederländer, die sich selbst eine gute Chance einräum(t)en, in Stockholm aus den Händen des schwedischen Königs acht Millionen Kronen zu empfangen. Sprache war für Voskuil nur ein Instrument – kein Ziel an sich. Er schrieb ohne jede Anmaßung, beinahe im Sinne Rankes, zur persönlichen Wahrheitssuche und -findung. Die unpoetische Sprache mit all ihren niederländischen Besonderheiten kommt seinem Werk sehr zugute. Sein niederländischer Verleger Wouter van Oorschot erklärte einmal in einem Interview, die Bücher seiner Autoren, allen voran J. J. Voskuil, seien unübersetzbar, so einzigartig seien sie.

Mustergültig übersetzt

Gerd Busse, der deutsche Übersetzer von Das Büro, strafte van Oorschots Behauptung Lügen. Ich habe mich mit Voskuil mehrmals über diese Übersetzung unterhalten. Er wunderte sich, wie es möglich war, dass jemand den Sinn und Wortlaut von Das Büro so gut ins Deutsche umsetzte, dass es ihm manchmal so vorkomme, als hätte er den Roman ursprünglich auf Deutsch geschrieben.

Für mich ist die deutsche Ausgabe des Romans im Berliner Verbrecher Verlag (der letzte Band erscheint im Frühjahr 2017) ein wahres Fest. Ich kann mich erneut, wie in den neunziger Jahren beim niederländischen Original, an tausenden Seiten laben und satt lesen. Schade ist nur, dass der Autor das Erscheinen dieser wunderbaren deutschen Edition nicht mehr erlebt.

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Detlev van Heest, geboren 1956, ist Parkraumkontrolleur, Genossenschaftsvorsitzender, Historiker und Autor. Als Sohn eines niederländischen Vaters und einer hinterpommerschen Mutter wuchs er in den Niederlanden auf. Fünfzehn Jahre seines erwachsenen Lebens lebte er in Japan und Neuseeland, wo er sich als Journalist und Hilfsarbeiter betätigte. Sein Buch De verzopen katten en de Hollander (Die ersoffenen Katzen und der Holländer), das kaleidoskopartige Porträt eines japanischen Stadtviertels, erscheint 2016 im Verbrecher Verlag.

Quelle: VOLLTEXT 3/2014

Online seit: 20. Januar 2021

J. J. Voskuil: Schmutzige Hände. Das Büro, Band 2.
Aus dem Niederländischen übersetzt von Gerd Busse. Mit einem Nachwort von Peter Steinz.
Verbrecher Verlag, Berlin 2014.
600 Seiten, € 29,00 (D) / € 29,90 (A).