„God Jr.“

Aus dem neuen Roman von Dennis Cooper

Online seit: 17. Januar 2018
Dennis Cooper
Dennis Cooper

Ich arbeite für eine Firma, die Kleine Adjustierung heißt. Wir machen Kinderkleidung für spezielle Anlässe. Unser Gründer war ein einbeiniger Vietnamveteran. Er verstarb ’93. Dank ihm sind alle unsere Angestellten Behinderte. Ich sitze im Rollstuhl, aber mein Oberkörper funktioniert. Ich kann auch denken und reden. Wenn ich in einem richtigen Sessel säße, würde niemand vermuten, dass ich ein Problem habe.

Heute muss ich im Schauraum arbeiten. Normalerweise hänge ich am Computer, um Bestellungen aufzunehmen. Ohne Internet wären wir erledigt. Aber manchmal spazieren Leute bei der Tür herein.

„Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Mein Sohn braucht etwas Schickes für eine Hochzeit“, sagt eine gutaussehende Frau mit einem kleinen blonden Jungen. Sie zeigt zur Wand, wo wir die Modelle ausstellen. „Was ist denn das?“

„Eine Biene. Wir machen Schulaufführungen.“

„Ich verstehe. Und das?“, fragt sie. Sie meint das rote Molekül. So nennen wir es. Manchmal bezahlen uns Leute, damit wir die Zeichnungen ihrer Kinder in Kleider verwandeln. Dieses Kind war zwei.

Ich erkläre, wie es heißt und aus welchem Grund es entstanden ist.

„Willst du stattdessen das anziehen?“, fragt sie den Jungen und lächelt mich an. „Nein, das geht nicht. Vielleicht das nächste Mal.“

„Nein“, sagt er leise.

Ich werfe keinen Blick auf die Kinder. Es ist zu schmerzhaft. Nicht einmal auf kleine Kinder wie ihn.

„Habe ich Sie nicht in der Zeitung gesehen?“, fragt sie mich nach einer nachdenklichen Pause. „Schon, oder?“

„Sie meinen die Times vom letzten Donnerstag.“

„Es war eine faszinierende Geschichte“, sagt sie. „Sehr komplex. Wir haben in meiner Klasse darüber diskutiert. Ich unterrichte Ethik.“

„Was haben Ihre Schüler gemeint?“

„Sie waren sich einig, dass Sie ein sehr cooler Vater sind“, sagt sie. „Aber sie sind sich nicht sicher, ob Sie richtigliegen.“

„Ich bin, in Anführungszeichen, besessen.“

„Das sollten Sie auch sein“, sagt sie ernst. „Egal, ob Sie in diesem speziellen Fall nun richtigliegen oder nicht.“

*

Sie studiert die Schauwand und beschließt, sie will den kleinen schwarzen Smoking. Marianne, die lernbehindert und adipös ist, macht die Abänderungen. Also sind wir fertig. Ich händige der Frau meine Karte aus.

„Ich würde mir gerne ansehen, was Sie bauen“, sagt sie. Marianne führt sie und ihren unwilligen Sohn fort. „Ist es möglich vorbeizukommen? Die Zeitung hat ihre Adresse abgedruckt, also nehme ich an, es geht.“

„Es ist in Ordnung.“

„Ich möchte gerne meine Schüler mitbringen“, sagt sie. „Machen Sie auch mal Führungen?“

„Wenn Sie mir vorher Bescheid geben.“

Sie winkt mir mit meiner Karte zu. „Ich rufe Sie an“, sagt sie.

*

„Ist sie auf deinen Fall zu sprechen gekommen?“, fragt Al. Ich nehme an, er hat aus dem Büro mitgehört. Er verlor sein rechtes Bein bei einem Bootsunfall. Sein Sohn starb jung, wie meiner, aber in seinem Fall war es nicht seine Schuld.

„Nein, sie will das Denkmal sehen. Sie will mit ihren Schülern kommen.“

„Sie werden es lieben“, sagt er. „Sie werden ganz begeistert
sein.“

„Es ist eine Ethikklasse. Also vielleicht auch nicht.“

„Kinder lieben es“, sagt er. „Meine Kinder wollen eine Petition ins Leben rufen.“

„Wie geht es ihnen denn?“

„Meine Ältere wurde gerade in die UCLA aufgenommen“, sagt er. „Da fällt mir ein. Sie sagt, sie hat deinen Tommy einmal getroffen. Sie sagt, sie hat sein Bild in der Zeitung wiedererkannt.“

„Hat sie gesagt wo?“

„Nein“, sagt er. „Ich hätte fragen sollen. Ich werde sie fragen.“

„Würde mich interessieren.“

„Sie mag Extremsportarten“, sagt er. „Ich glaube, das könnte es sein. Sie geht zu diesen X-Was-weiß-ich-Shows. Ich glaube, sie geht sogar mit einem von denen.“

„Das wird es wahrscheinlich sein.“

„Das sind keine schlechten Jungs“, sagt er unsicher. „Es ist nur was Neues. So wie früher Fußball.“

„Früher dachte ich, das ist ein Haufen fauler Ärsche, die immer stoned oder betrunken sind. Ich hab nicht kapiert, dass ein Junge, wenn er in diesem Alter glücklich ist, wie ein Rüpel rüberkommt.“

Als Augen wirken jetzt traurig. Er muss denken, ich meine Tommy. Vielleicht tue ich das auch. „Ich werde sie fragen“, sagt er sanft.

„Keine Angst. Das sind harmlose Idioten. Mach dir um sie keine Sorgen.“

„Sorry, dass ich es erwähnt habe“, sagt er und fängt an zu tippen.

*

Wir erhalten circa zehn Onlinebestellungen pro Tag. Leute  verlinken unsere Seite auf Serviceseiten für Behinderte. Es gibt immer irgendeine bevorstehende Hochzeit oder Schulaufführung oder ein Begräbnis, und wir sind für sie ein Geschenk Gottes. Es macht ihnen nichts aus, dass die Kleidung nicht perfekt sitzt. Sie brauchen uns nur, damit wir ihnen helfen. Sie schicken uns lange, bewegende E-Mails mit ihren Bestellungen. Ich glaube, die meisten von ihnen haben nicht einmal Kinder.

„Entschuldigen Sie?“, fragt die Frau von vorhin. Sie war ins Büro geschlendert. Ich nehme an, der Junge ist immer noch bei der Änderung.

„Oh, hi. Das ist Al.“

„Sie sind Lehrerin“, sagt Al zu ihr. „Meine Frau ist Lehrerin.“

„Kleine Welt“, sagt sie lächelnd. Dann schaut sie mich an. „Wie wäre es morgen? Ich meine, für die Führung.“

„Ich arbeite bis sechs.“

„Natürlich“, sagt sie und zuckt zusammen. „Das habe ich nicht bedacht.“

„Nimm dir den Vormittag frei“, sagt Al.

„Ich könnte es am Vormittag machen.“

„Das ist perfekt“, sagt sie.

„Aber ich sollte Sie vorwarnen, dass ich nicht so gut mit Kindern kann.“

„Das ist perfekt“, sagt sie wieder. „Es ist eine kleine Klasse. Zwölf Schüler, wenn alle aufkreuzen.“

„Ist neun Uhr okay?“

Sie nickt glücklich. „Ich bin aufgeregt“, sagt sie und schnappt meine Hand. „Das ist eine große, große Hilfe.“

*

Nachdem sie gegangen sind, bekommen die zwei Mexikaner, die die Kleider machen, ihre Anweisungen. Sie arbeiten in einem kleinen Lager hinter dem Büro. Wir lassen die Fenster geschlossen, weil sie immer ihre Musik spielen. Sie muntert sie auf, aber uns machen diese Trompeten wahnsinnig. Unser Radio ist auf einen lokalen Oldiesender eingestellt. Al, Marianne und ich sind etwa im gleichen Alter, das heißt irgendwo in den Vierzigern. Die Mexikaner sind junge, illegale Typen. Manuel wurde in den Rücken geschossen, als seine Familie über die Grenze schlich. Er sitzt in einem Rollstuhl, wie ich. Sein Freund Jose behauptete, er würde an Krebs sterben, damit er den Job bekommt. Eines Nachts hinterließ uns seine Frau eine Telefonnachricht, die besagte, dass er, was den Krebs anging, gelogen hatte. Sie klang betrunken. Al und ich wollten ihn feuern, bis Marianne zu weinen anfing. Also erwähnten wir den Anruf Jose gegenüber niemals. Aber ich ärgere Marianne gerne damit, dass wir ihn jederzeit feuern könnten.

*

Al versucht, Marianne das Telefon wegzuschnappen. Sie zieht sich wählend quer durchs Büro zurück. Sie will die Eagles hören. Er ist ein Countrymusik-Purist. Mir ist es im Grunde gleichgültig. Wir mögen zwar wie rührende Drillinge wirken, aber unsere Vergangenheiten haben andere Soundtracks. Dennoch haben, oder in meinem Fall hatten, wir alle Kinder. Den Kids liegt nicht so viel an ihren Songs wie uns an den alten. Musik ist nichts Besonderes mehr. Sie ist selbstverständlich. Sie hält sich und alle Kids für selbstverständlich, und wir kommen für den Kollateralschaden auf. Je neuer die Oldies, desto weniger achten wir darauf und desto mehr stimmen wir überein.

„Wünsch dir den Song, über den wir vor fünf Minuten gesprochen haben.“

„Wie heißt er?“, fragt mich Al. „Schnell.“

„Es ist uns nicht eingefallen.“

„Alice in Chains?“, sagt Al.

„So heißt die Band. Wir brauchen den Song.“

„Hör auf, Marianne“, sagt Al. „Wir haben eine bessere Idee.“

„Ich feuere Jose.“

„Nein, wirst du nicht“, sagt sie lächelnd.

Ich drücke den Knopf der Gegensprechanlage, die meine verstärkte Stimme in das Lager schickt. „Jose, ins Büro.“

Marianne umschließt mit ihrer Hand das Mundstück.

Desperado von den Eagles?“, fragt sie. Man könnte ihre Stimme leicht für die eines Kindes halten, also lassen wir immer sie unsere Wünsche vorbringen. Das garantiert beinahe, dass sie gespielt werden.

[…]

Aus dem amerikanischen Englisch von Raimund Varga.
© Luftschacht Verlag – Wien 2017

Dennis Cooper ist Autor von elf Romanen sowie zahlreichen Lyrikbänden und Sachbüchern. Seine Bücher wurden in 19 Sprachen übersetzt. Sein Roman The Sluts (2005) gewann den Prix Sade und den Lambda Literary Award für den besten Roman des Jahres. Zuletzt erschienen der Roman The Marbled Swarm (2012) und zwei einzigartige Arbeiten, die zur Gänze aus animierten GIFs bestehen: Zac’s Haunted House (2015) und Zac’s Freight Elevator (2016). Cooper ist zudem Chefredakteur des amerikanischen Verlagimprints Little House on the Bowery und Kunstkritiker. Er lebt in Paris und Los Angeles.

Dennis Cooper: God Jr.
Roman. Aus dem Englischen von Raimund Varga. Luftschacht, Wien 2017.
144 Seiten, € 18 (D) / € 18,50 (A).