„Dieses Bedürfnis, etwas zu schreiben, das für mich gefährlich ist – wie eine Kellertür, die sich öffnet und man eintreten muss, koste es, was es wolle …“ Ist man erst mal drin, weiten sich die Pupillen sofort!
Es ist acht oder neun Jahre her. Ich las Les Années (Die Jahre) von Annie Ernaux, das 2008 in Frankreich erschienen war. Ein Gefühl selbstverständlicher Vertrautheit, als würde man mit einem Freund, den man lange aus den Augen verloren hat, nahtlos ans letzte Gespräch anknüpfen. Alle Bücher, die die Autorin bis dahin geschrieben hatte und die ich liebte, schienen in diesem hier aufgehoben zu sein. Hin und wieder schwärmte ich einem Verleger davon vor. Es wurde zurückgeschwärmt. Man kannte die Autorin, wusste um die Bedeutung des Buches, das in Frankreich mit vielen Literaturpreisen geehrt worden war. Ein Schatz, eine Perle! Trotzdem. Die vielen Eigennamen und Bezeichnungen, von Supermärkten, TV-Sendungen, Institutionen, Politikern, Chansontiteln – war das nicht eher eine soziologische Geschichte Frankreichs? Kaum zumutbar für deutsche Leser. Außerdem hatte sich die Autorin hierzulande nie richtig durchsetzen können.
Was stimmte. Man hätte auch sagen können: Annie Ernaux war in Deutschland bislang publizistisch verwurstet worden. Einige ihrer Bücher waren übersetzt worden, von jeweils unterschiedlichen Übersetzerinnen, andere nicht. Sie erschienen in unterschiedlichen Verlagen, mit jeweils unterschiedlicher Aufmachung (wobei ein gemeinsamer Punkt die lasziven Frauengestalten auf dem Cover zu sein schienen). Die meisten waren inzwischen vergriffen. Irgendwann hatte vermutlich auch der hartnäckigste Leser den Faden verloren. Oder die Geduld.
Als ich mit achtzehn den heiligen Ernst in Peter Handkes Büchern für mich entdeckte, fiel der Humor in die Literatur und die Kinowelt der damaligen Jahre ein.
War es mir nicht genauso ergangen? Die erste Lektüre von Annie Ernaux, die mir in die Hände fiel, bedeutete gleichzeitig einen Endpunkt. Bei der Ausgabe handelte es sich um die Anthologie Moderne französische Prosa, die 1988 in der DDR erschienen war und nun, Anfang der Neunzigerjahre, schon wieder ausgemustert wurde. Ich erinnere mich, dass damals überall Kisten mit ausrangierten DDR-Ausgaben standen, am Eingang der Uni, vor der Stadtbibliothek, den Buchläden … Seltsame Gegenläufigkeit. Während für mich etwas anfing, ging um mich herum vieles zu Bruch, löste sich auf, verschwand. Auch daran erinnere ich mich. Als ich mich mit Schwung der DDR-Literatur zu widmen gedachte, wurde sie gerade für moralisch unhaltbar und ästhetisch uninteressant erklärt. Als ich mit achtzehn den heiligen Ernst in Peter Handkes Büchern für mich entdeckte, fiel der Humor in die Literatur und die Kinowelt der damaligen Jahre ein. So wie dieses Buch mit Texten französischer Autoren, gerade erst gedruckt, nun bereits auf dem Müll landete. War die Gegenwart in Frankreich etwa schon vorbei?
Die Anthologie sah altmodisch aus, wie ich es gewohnt war, die Seiten aus grobem, gelblichem Papier, der Schutzumschlag schwarz, darauf ein Finger mit lackiertem Nagel. Den Reigen der vier eher kurzen Texte (waren das überhaupt Romane?!) eröffnete Annie Ernaux mit Das bessere Leben. Im Original hieß das Buch La Place. (Die Übersetzung war von der westdeutschen Ausgabe übernommen worden und gab, wie ich erst sehr viele Jahre später feststellen würde, kaum etwas von den Absichten der Autorin wieder.) Annie Ernaux hatte die Geschichte ihres Vaters aufgeschrieben (Bauernmilieu, Trostlosigkeit), allerdings auf eine merkwürdig knappe Art. Eine Art Tatsachenbericht, als müsse die neutrale Sprache etwas bändigen, was an tiefen Emotionen darunter lag.
Frau im Ausnahmezustand
Zwei oder drei Jahre später, als ich an der Uni ein Seminar zur Darstellung der Liebe in der französischen Gegenwartsliteratur belegte, fielen mir das Buch und die Autorin wieder ein. Da war gerade Passion Simple (Eine vollkommene Leidenschaft) von Annie Ernaux erschienen. Wieder ein Buch, schmal, das gar nicht erst vorgab, ein Roman sein zu wollen. Eher eine präzise Auflistung täglicher Verrichtungen einer Frau im Ausnahmezustand. So klinisch knapp konnte man also über eine sexuelle Obsession schreiben? Nicht zu fassen. In den Jahren darauf bezog sich meine Begeisterung nicht nur auf Ernaux. Viele der Bücher, die französischsprachige Autoren (etwa Jean-Philippe Toussaint, Marie Redonnet) in den Achtziger-, Neunzigerjahren schrieben, kamen mir ästhetisch mutig vor, dazu klug und „irgendwie“ im Bewusstsein der Theorien der letzten Jahrzehnte geschrieben, ohne dass sie aber darüber redeten. Alles, was mir helfen würde, selbst einmal Schriftstellerin zu werden, schien von dort zu kommen.
Im Nachhinein betrachtet war der Graben zwischen den beiden benachbarten Staaten mal wieder extrem tief. Deutschland war in den Neunzigern in Feierlaune, die literarische Entsprechung dazu schienen fluffig erzählte, am besten komische Geschichten zu sein. Endlich hatte der Spaß wieder Einzug in die Kultur gehalten, die Rückkehr der Erzählung, das Spielerische, das leichte Lesen, eine Prise Porno, ein bisschen Gewalt, man hatte Süßkind, Schlink, Philippe Djian, im Kino Tarantino. Womöglich war der Abstand nicht groß genug, oder zu groß, um zu erkennen, dass die Bücher dieser Autorin alle in einem Zusammenhang standen. Sie ergänzten sich, schrieben sich fort, gehörten alle zu einem großen soziologischen Schreibprojekt, in dem es nur einen Mittelpunkt gab: Annie Ernaux. Und dann, was war das überhaupt? Essays? Fiktionalisierte Tagebücher? Soziofiktion? Ernaux selbst schert sich nicht um Gattungsfragen. Dass sie auch in Frankreich angefeindet worden war für das Überschreiten von ästhetischen und inhaltlichen Linien, die die Hüter der schönen Künste respektiert wissen wollten, erfuhr ich erst später aus ihrem Interview-Buch L’écriture comme un couteau („Schreiben wie ein Messer“).
Ernaux, die Tochter aus der Unterschicht, schreibt über die eigenen Wurzeln nicht mit derselben Selbstverständlichkeit, mit der zum Beispiel Sartre seine Autobiografie Die Wörter verfasste.
Manche Leute verteilen in ihrer Wohnung Quarze, um für eine gute Energie zu sorgen. Bei mir lagen die Bücher von Annie Ernaux herum. Das beständige Blättern darin war eine Versicherung, dass sich die Wahrheit durchs Schreiben finden lässt, dass zu solch einem Schreiben aber Mut gehört, Mut, die Dinge anders anzugehen, Mut, vieles wegzulassen und die eigene Biografie nicht unter Fiktionen zu verscharren. Eine absolute Preisgabe seiner selbst, um der Wahrheit willen. „Ich habe immer geliebt, und ich habe immer geschrieben, als müsse ich danach sterben“ heißt es in ihrem literarischen Tagebuch Sich verlieren (2001) über das Jahr einer sexuellen Besessenheit. Herrje, so existenziell? Und dann: die Wahrheit? (Was für ein altes, knarzendes Wort.) Um nichts weniger geht es Annie Ernaux. Was sich aufs Schönste in jenem bereits erwähnten Buch La Place von 1983 nachlesen lässt. Der Platz, wie es nun ganz richtig in der deutschen Neuübersetzung von Sonja Finck heißt, die in diesen Tagen in der Bibliothek Suhrkamp erscheint. Fast vierzig Jahre nach Erscheinen des Buches in Frankreich hat die Autorin auch in Deutschland endlich ihren Platz gefunden, wie es scheint. Der Kreis schließt sich.
Klassendistanz
Als 1967 ihr Vater stirbt, ist bei Annie Ernaux sofort das Verlangen da, etwas über ihn zu schreiben. „Ich wollte alles sagen, über meinen Vater schreiben, über sein Leben und über die Distanz, die in meiner Jugend zwischen ihm und mir entstanden ist. Eine Klassendistanz, die zugleich aber auch sehr persönlich ist, die keinen Namen hat. Eine Art distanzierte Liebe.“ Der Vater entstammte ärmlichsten Verhältnissen, war Knecht auf dem Land, dann Arbeiter. Später schafft er den kurzen sozialen Aufstieg zum Krämer, als er in seinem Heimatort Yvetot in der Normandie einen kleinen Laden mit Kneipe eröffnet, der zu seinem Lebensende hin von den großen Geschäften und den entstehenden Supermärkten schon wieder bedroht wird. „Halb Händler, halb Arbeiter, mit einem Bein auf jeder Seite, zu Einsamkeit und Misstrauen verdammt.“ Ein Leben geprägt von Plackerei, Sparsamkeit, Missgunst, Genügsamkeit, wenigen fröhlichen Momenten. Ein Leben, das er mit Millionen anderer teilt, die dem Milieu der sogenannten Kleinen Leute angehören. Dem auch Annie Ernaux, die dort 1940 geboren wird, als Kind angehört. Während die Eltern im Laden die Kundschaft bedienen, liest das Mädchen oben in seinem Zimmer. Die Literatur, die Bücher werden sie aus dem Dorf rausführen. 1958 geht sie nach Rouen an die Fachschule für Grundschullehrer, danach als Au-Pair-Mädchen ein paar Monate nach London, dann nach Bordeaux. Nach der Heirat mit einem Politikstudenten zieht sie nach Annecy, wo der Mann Beamter wird, später nach Cergy, einem modernen Vorort von Paris. Es ist genau dieser Weg, der Annie Ernaux ihr Leben lang beschäftigen, ihr den Stoff und Hintergrund fürs Schreiben liefern wird. Die Entfernung zwischen ihrer Herkunft und dem bürgerlichen Leben, das sie als Erwachsene führt. In jedem ihrer zwanzig Bücher scheint die Geschichte einer „transfuge de classe“ durch, einer „Überläuferin“ oder „Aufsteigerin“.
Dabei ist Ernaux jahrelang überzeugt, die Details ihrer Herkunft seien bedeutungslos. Sie ist überzeugt, ihr einziges Erbe sei das, was Schule, Universität und Literatur ihr hinterlassen haben. Aber schon die Arbeit als Lehrerin macht ihr bewusst, wie groß die Kluft zwischen dem Unterrichtsstoff und der Erfahrungswelt ihrer Schüler ist, die demselben Milieu entstammen wie sie. Der Tod des Vaters reanimiert plötzlich diese nicht nur verschüttete, auch mutwillig ausradierte Erinnerung. Jede Seite in Der Platz erzählt von der Notwendigkeit, sie doch zu entschlüsseln. Allerdings scheint die Scham, sich die Einzelheiten vor Augen zu führen, das Schreiben unmöglich zu machen, zumindest verlangsamt sie es. Die Erniedrigung, die mit ihrer Herkunft verbunden ist, hat sich ihr tief ins Gedächtnis geprägt. Es fällt ihr schwerer, vergessene Ereignisse ans Licht zu holen, als neue zu erfinden, wie sie sich eingestehen muss. „Das Gedächtnis leistet Widerstand.“
Verrat an der Literatur
Den begonnenen Roman über ihren Vater legt Ernaux schon bald angewidert zur Seite. Alles ist falsch daran, kommt es ihr vor. Wie einfach wäre es, pralle, handfeste Szenen aus dem Leben eines Jungen aus dem Volke zu schreiben, der sich mit Cidre seine Zähne ruiniert und Frösche mit Strohhalmen zum Platzen bringt. „Es wäre leicht, etwas in dieser Richtung zu machen.“ Aber wäre es nicht eine Art Verrat, Verrat an der Literatur, aber vor allem am Vater, an sich selbst, sein Leben in einem pittoresken, womöglich sentimentalen Roman zu verbraten? Und, noch wichtiger: Ist ein solches Milieu überhaupt erinnerungswürdig und literarisch relevant? Ist ihre Herkunft überhaupt einer Erinnerung würdig?
Wie kann sie von ihrer Herkunftswelt in Worten erzählen, die in dieser Welt gar nicht gesprochen werden?
In der Literatur scheint es kaum Autoren zu geben, die ihr bei ihrer Suche behilflich sein könnten. „Wenn ich Proust oder Mauriac lese, kann ich nicht glauben, dass sie über die Zeit schreiben, als mein Vater Kind gewesen ist. Seine Herkunftswelt ist das Mittelalter.“ Jemand wie Ernaux, die Tochter aus der Unterschicht, schreibt über die eigenen Wurzeln nicht mit derselben Selbstverständlichkeit, mit der zum Beispiel Sartre seine Autobiografie Die Wörter verfasste. Im Gegensatz zu großbürgerlichen Autoren (und das sind die meisten in der französischen Literatur), ist sie auf ewig zerrissen. Zerrissen zwischen der literarischen Sprache, die sie studiert hat, und der, mit der sie aufgewachsen ist, die Sprache der Eltern, für die sie sich schämt, die sie ablegen und vergessen will, die aber für immer in ihr ist. Wie kann sie von ihrer Herkunftswelt in Worten erzählen, die in dieser Welt gar nicht gesprochen werden? Soll sie in der „Sprache des Feindes“, wie Jean Genet es ausgedrückt hat, schreiben und so das Milieu verraten, dem sie entstammt?
All diese Fragen, die Suche nach dem angemessenen Ton, der richtigen Herangehensweise, sind dem Text eingeschrieben. Der Platz markiert einen Wandel im Schreiben der Autorin und gibt schließlich auch die Antwort: „Um ein Leben wiederzugeben, das der Notwendigkeit unterworfen war, darf ich nicht zu den Mitteln der Kunst greifen, darf ich nicht versuchen, ‚fesselnd‘ oder ‚anrührend‘ zu schreiben. Ich werde die Worte, Gesten und Vorlieben meines Vaters zusammentragen, das, was sein Leben geprägt hat, die objektiven Beweise einer Existenz, von der auch ich ein Teil gewesen bin. Keine Erinnerungspoesie, keine muntere Ironie. Der schlichte Stil kommt ganz von allein, es ist derselbe, in dem ich früher meinen Eltern schrieb, um ihnen die wichtigsten Neuigkeiten zu berichten.“
Es liegt eine fast klassische Einfachheit in dieser so mühsam gefundenen literarischen Sprache, mit der sie das Erbe ans Licht holt, „das ich an der Schwelle zur gebildeten, bürgerlichen Welt zurücklassen musste.“ Der Platz ist Erzählung und Analyse zugleich. Darin immer wieder mundartliche Einschlüsse, Redeweisen, die ihr Vater oder die Leute im Dorf benutzten. Anders als in realistischen Großromanen sind sie nicht dazu da, den Figuren zu mehr Anschaulichkeit zu verhelfen. Ernaux will den Kleinen Leuten kein Denkmal errichten, nicht Sympathien wecken. Die kursiv gesetzten Sprachbrocken sind da, „weil diese Wörter und Sätze die Beschaffenheit und die Grenzen einer Welt ausdrücken, in der mein Vater gelebt hat, in der auch ich gelebt habe. Eine Welt, in der man alles wörtlich nahm.“ Auch Proust hat sich für die dialektalen Auswüchse der „unteren Schichten“ interessiert, durchaus, aber aus ästhetischen Gründen. Sein Hausmädchen war für ihn ein Kunstphänomen. Was anders gewesen wäre, wäre er der Sohn dieses Hausmädchens gewesen. Bildungsunterschiede sind Machtunterschiede. Für Ernaux verkörpern die internalisierten Sprachbilder den Geist, die Mentalität ihrer Eltern und der Schicht, der sie entstammen. In der Sprache findet sich für sie die Geschichte dieser „unterlegenen Klasse“. Sie bewusst zu machen, auch darin liegt die soziale Bedeutung von Der Platz.
Als Ernaux in den Siebzigerjahren der Geschichte ihres Vaters nachspürt, werden die Bücher eines österreichischen Autors auch in Frankreich viel gelesen. Peter Handkes Wunschloses Unglück, 1972 erschienen und sogleich ein Bestseller, erzählt vom Leben und Sterben seiner Mutter. Es ist der Versuch, sich ihre Stimmungslage und den Entschluss zum Selbstmord aus ihrer Herkunft, ihren Prägungen und nicht zuletzt aus der Geografie des Dorfes zu erklären. Dafür trägt er Details äußerer Art, ihre Gesten und Sprachgewohnheiten zusammen. Wie später bei Ernaux fließen auch bei Handke Überlegungen zur Vorgehensweise in den Text mit ein: „Ich vergleiche also den allgemeinen Formelvorrat für die Biografie eines Frauenlebens mit dem besonderen Leben meiner Mutter.“ An einer Stelle schreibt er: „Sie lief nie weg, sie wusste inzwischen, wo ihr Platz war.“ Bei Ernaux wird es heißen: „Allmählich fanden sie ihren Platz, in der Armut, oder knapp darüber.“
Die objektivierende Distanz soll die Komplizenschaft mit dem Bildungsbürger verhindern. Ernaux will in einer Sprache schreiben, die alle sprechen, ein Anliegen, das in Frankreich mit seinen starren Hierarchien und sozialen Kontinuitäten womöglich politischer wirkt als anderswo. Die écriture plate, wie sie es nennt, der schlichte nüchterne Stil, zu dem sie schließlich findet, ermöglicht ihr, die kulturelle Zerrissenheit zu überwinden, den Bruch, der bereits beginnt, als sich das Kind in seinem Zimmer in die Welt der Kunst, der Literatur einschließt. Dass seine Tochter gern nachdenkt, ist für den Vater „ein Zeichen fehlender Lebenslust in jungen Jahren“. Trotzdem darf sie sich zu Hause wie eine Königin benehmen. Nur zu den Mahlzeiten geht sie nach unten, schweigend isst man. Die Abtrennung beginnt. „Ich glaubte, dass er nichts mehr für mich tun konnte.“ Ein wortwörtliches Durchschauen. Genau wie Handke sammelt Ernaux Details, scheinbare Nebensächlichkeiten und Verhaltensweisen, um zu einer präzisen Beschreibung seiner Lebenswelt zu kommen. Als Jugendliche beginnt sie, ihm Vorwürfe zu machen, kommentiert sein „nerviges Benehmen“. (Beim Essen benutzt er nur ein Taschenmesser, das er anschließend an seinem Blaumann abwischt. Warum las der Vater nicht? Warum kann er mit dem teuren Rasierwasser, das seine Tochter ihm mitbringt, nichts anfangen? „Er wird sich nie ändern!“) In ihren Augen gehört der Vater fortan zum Milieu der „bescheidenen Leute“.
Bei alledem geht es in Der Platz nicht um eine Abrechnung. Und ebenso wenig um eine Aussöhnung oder nachgetragene Liebe. Ernaux’ Schreiben entspringt dem tiefen Wunsch zu verstehen. „Er hatte nie gelernt, mich freundlich zu rügen, und ich hätte der Androhung einer Ohrfeige in korrektem Französisch nicht geglaubt.“ Das Schreiben über den Vater ist ein Schreiben über sich selbst. Auf diese Weise vermag sie sich „die eigene Entwicklung und die konstitutiven Schichten der eigenen Persönlichkeit aufs Neue anzueignen“. So drückt es der Soziologe Didier Eribon in seinem Buch Rückkehr nach Reims aus. Eribon hat sich, genau wie der Jungautor Édouard Louis, immer auf Ernaux’ Romane berufen. Ihr Schreibansatz war wegweisend für die eigene Herkunftserklärung. Doch anders als bei den beiden verteilt Ernaux keine Schuldscheine an die „Gesellschaft“ oder die „soziale Welt“.
Nur Weniges von dem, was zu meiner ostdeutschen Kindheit gehörte, Sprachbilder, kulturelle Codes und Zukunftsvorstellungen, hatte zu tun mit der Welt, in der ich später lebte.
Wie in dem oscarprämierten Film Roma des Mexikaners Alfonso Cuarón, der derzeit im Kino und auf Netflix zu sehen ist, geht es ihr nicht um das Anprangern sozialer Ungleichheit mit den Mitteln der Kunst. Es ist eher die Suche nach einer Möglichkeit, Menschen in den Fokus zu nehmen, die selbst nie eine literarische Stimme hatten, die Welt aus ihrer Perspektive zu schildern und ihnen so eine Art Genugtuung widerfahren zu lassen, ja, sie überhaupt existent zu machen.
Annie Ernaux lebt inzwischen seit über vierzig Jahren in Cergy, dieser Retortensiedlung. Eine Stadt ohne Gedächtnis. Vielleicht ein guter Ort, gleichsam nackt, um den Abstand zu dem Dorf ihrer Kindheit, Yvetot, immer aufs Neue in den Blick zu nehmen. Auch in ihrem vorerst letzten Buch Erinnerung eines Mädchens (Suhrkamp, 2018) durchmisst sie die Entfernung, die die erwachsene Liebende von der eigenen Ladenmädchenherkunft trennt. Die Liebesnacht in einem Ferienlager, in dem sie als Betreuerin arbeitet, mündet in Unterwürfigkeit und Selbstbestrafung.
Eine persönliche Geschichte
In dem sexuellen Erlebnis, einem Trauma für die unerfahrene Achtzehnjährige, liegt ein Muster, das die Vergangenheit auf ewig mit der Gegenwart verbindet. Die inzwischen über siebzigjährige Autorin stellt auch hier wieder fest: „Das große Gedächtnis der Scham ist sehr viel klarer und erbarmungsloser als jedes andere.“ Offenbar kann man nur schreibend dem Gedächtnis die Freiheit zurückgeben, lässt es sich entschämen.
Obwohl es sich wie in all ihren Büchern um ihre persönliche Geschichte handelt, will Ernaux immer weg vom individuellen Erzählen, dem Ausufernden, weg von den beliebigen Erinnerungen. „Jedes Mal versuche ich verzweifelt, mich aus der Falle des Individuellen zu befreien“ steht bereits in Der Platz. Darin unterscheidet sie sich von allen megalomanen, egozentrischen Knausgårds dieser Welt. Ernaux erzählt nicht einfach von sich. Ihre eigene Geschichte ist das Material, das ihr und dem Leser hilft, einen erhellenden Blick auf unsere Zeit zu werfen. Sie sieht sich durchaus als „Ethnologin ihrer selbst“. Dennoch: Ihre große, um Fotos ergänzte Werkausgabe bei Gallimard heißt Écrire la vie – Das Leben schreiben (und nicht: Ma vie). Das Private und das Soziale werden von ihr stets in derselben Bewegung geschildert, sie liegen übereinander. Das ist keine Autofiktion. Wenn sie über ihre Abtreibung in den Sechzigerjahren berichtet, oder über ihre sexuelle Besessenheit für einen Mann, fragt sie nicht nur: Was ist mir passiert? Sondern: Warum ist es mir zu dieser Zeit passiert und welche (Sprach-)Formen stehen mir zur Verfügung, um davon neu zu erzählen?
Denn auch wenn sie nach drei veröffentlichten Romanen mit Der Platz schließlich zu ihrer ureigenen Schreibhaltung findet, dieser selbsterklärten Mischung aus Literatur, Soziologie und Geschichte, hat sie nie eine Masche daraus gemacht. Ihr 2011 erschienenes Arbeitsbuch L’Atelier noir zeugt von den ungeheuren Skrupeln, dem Ringen um die jeweils geeignete Form. Allein die hartnäckige Überlegung: Soll ich „sie“ oder „ich“ sagen? Eine Frage, die sie in ihrem großartigen, preisgekrönten Buch Die Jahre auflöst, indem sie die unterschiedlichen Perspektiven ganz einfach nebeneinander bestehen lässt. Ich, sie, ein kollektives Wir und ein unpersönliches Man wechseln sich ab, um vom Wandel der letzten Jahrzehnte und uns darin zu erzählen. „Sie will ihren Aufenthalt auf der Erde dokumentieren, in einer gegebenen Epoche, die Jahre, die sie durchdrungen haben, die Welt, die sie allein dadurch, dass sie gelebt hat, in sich abgespeichert hat.“ Aber anstatt nur ihre Version zu erzählen, will sie „in einem individuellen Gedächtnis das Gedächtnis des kollektiven Gedächtnisses finden und so die Geschichte mit Leben füllen.“
Nur durch die Literatur geht das individuell Erlebte im Kollektiven auf, können Gefühle wie Scham, Liebe, Eifersucht und die Erfahrung vom Vergehen der Zeit geteilt werden. Indem ihre persönliche Geschichte Die Jahre grundiert, ist das Buch auch eine Geschichte der sozialen Mobilität, in der der zugewiesene Platz eben nicht mehr (wie beim Vater) ausgehalten, sondern schließlich verlassen wird. Vor allem aber ist es eine Geschichte der Frauen, ihrer Liebesformen und Emanzipationen im 20. Jahrhundert, nicht nur der französischen.
Ich schlage noch einmal Der Platz auf. Jetzt, beim Wiederlesen, finde ich den Schmerz wieder, den ich schon damals gespürt habe, als ich zum ersten Mal in dem Buch las. Den Schmerz darüber, dass sie sich vom Vater wegbewegt hat, als sie durch Bildung, Studium und Heirat in eine andere Schicht wechselte, eine Mischung aus Unverständnis, Aufbegehren und Schuld. Als sie nach der Beerdigung mit dem kleinen Sohn 1. Klasse zurück in ihre Welt reist, durchfährt sie der bittere Gedanke: „Jetzt gehöre ich wirklich zum Bürgertum …“
Dabei war ihr sozialer Aufstieg genau das, was der Vater sich für sie erträumt hatte. „Vielleicht sein größter Stolz, sogar sein Lebenszweck: dass ich eines Tages der Welt angehöre, die auf ihn herabgeblickt hatte.“ Wie so viele „einfache Leute“ wünschte er sich, es möge ihr einmal besser gehen als ihm. Ahnung hat er keine von der Dunlopillo-Matratze oder der antiken Kommode, von denen sie erzählt, wenn sie zu Besuch bei ihren Eltern ist, aber sie reichen ihm als Beweis für ihren Erfolg.
Die Erniedrigung, die mit ihrer Herkunft verbunden ist, hat sich ihr tief ins Gedächtnis geprägt.
Annie Ernaux hat sich einmal als „Migrantin aus dem Innern der französischen Gesellschaft“ bezeichnet. Die Überlegung lohnt, ob man den Begriff des Exils und den der Literatur, die aus diesen Erfahrungen und Impulsen heraus entsteht, nicht auf die hier geschilderten Zusammenhänge ausweiten müsste. Strukturell ähnelt ihre Binneneinwanderung in eine andere, höhere Klasse tatsächlich der eines Menschen, der seine geografische Heimat verlässt, um in einem unbekannten Land Fuß zu fassen. Derselbe kulturelle Schock, dasselbe Alles-neu-lernen-müssen aufgrund der eigenen Unkenntnis von Codes und die Forderung der Gesellschaft nach nahtloser Integration sowie lebenslanger Dankbarkeit. Und: die (oft an sich selbst gestellte) Forderung, die eigene Herkunft möglichst rasch zu vergessen. Die Erinnerung als Störsystem. Nicht nur Der Platz – alle Bücher Annie Ernaux’ machen klar: Die äußere Geografie ist leichter zu wechseln als die innere Prägungslandschaft. Nur schreibend lässt sich dem Exil ein Ende setzen. Aber sicher ist das nicht. Ist die lebenslange Absicht, die Klasse des Vaters, ihre eigene, schreibend zu rächen wirklich geglückt?
Eingetrichterter Müll
Ich habe erst spät erkannt, vielleicht erkenne ich es erst jetzt, wie die Bücher von Annie Ernaux dabei geholfen haben, mir mein eigenes Unbehagen im wiedervereinten Deutschland zu erklären: Nur Weniges von dem, was zu meiner ostdeutschen Kindheit gehörte, Sprachbilder, kulturelle Codes und Zukunftsvorstellungen, hatte zu tun mit der Welt, in der ich später lebte. Ich empfand genauso eine Scham der Herkunft, Scham gegenüber dem „Müll“, der mir eingetrichtert worden war und den ich nicht so leicht loswurde wie erhofft.
In dieser Zeit fühlte ich mich keiner der beiden Seiten wirklich zugehörig, nicht dem Vergangenheitsmilieu, nicht dem Milieu, das Gegenwart hieß. Ich war zerrissen, jedenfalls gehörte ich keinem selbstverständlich an. War ich in dem einen, betrachtete ich es jeweils argwöhnisch mit dem Blick aus dem anderen heraus und fällte mein Urteil. Ich erinnere mich, wie 1994 jemand erstaunt war, als er hörte, woher ich stammte. Er hatte mich für eine Münchnerin gehalten. Ich erinnere mich deshalb so genau daran, weil ich bei dieser Bemerkung derart heftig zwischen Freude und Wut zu schwanken begann, dass mir die Gesichtszüge entgleisten.
Es dauerte, bis ich begriff, dass man sich von dem, was einen geprägt hat, nicht einfach lossagen kann. Dass sich Herkunft nicht tilgen, höchstens fruchtbar machen lässt und man, wenn die Vergangenheit, das Erbe, weit hinter einem liegen, angesichts der geglückten Wegstrecke voller Stolz ist, voller Schmerz.