Das Böse und der Literaturbetrieb

Thomas Lang über die neuen Romane von Yves Petry und Heinz Strunk und die alte Frage, was in Literatur und Film dargestellt werden darf und was nicht.

Online seit: 3. November 2016

Ein „Stückchen Penis“ liegt abgetrennt auf einem Tisch. „Die kleine Blutspur, die aus ihm geflossen ist, erweckt in Marinos träumerischer Wahrnehmung den Eindruck, es sei aus eigener Kraft weggekrochen, weg von dem Chaos, dem es entstammte.“ Wir befinden uns im Innern eines Tabus. Hier ist ein Mann getötet worden – er soll zum Teil von einem anderen Mann gegessen werden. So ist es verabredet, so geschieht es. Wie es dazu kommt, erzählt Yves Petrys Buch In Paradisum.

Die Geschichte geht zurück auf einen Mord, der vor fünfzehn Jahren in Hessen stattfand. Dabei tötete ein vierzigjähriger Computertechniker auf Verabredung einen etwas älteren Diplom-Ingenieur und aß Teile der Leiche. Der Fall erregte großes öffentliches Aufsehen. Für den Roman des belgischen Autors Petry bildet der Fall nur eine Folie. Er verlegt die Handlung nach Brüssel. Die Beteiligten haben andere Lebensläufe. Vor allem erzählt er nicht einfach die Geschichte einer traurigen sexuellen Verwirrung. Das Schock- und Faszinationspotenzial der Untat gerät weit in den Hintergrund. Dennoch hat der Roman, der sich in Belgien und den Niederlanden gut verkaufte, in Deutschland keinen Verlag gefunden und ist erst in diesem Frühjahr bei Luftschacht erschienen.

Im Wesentlichen besteht der Text aus drei Teilen. Der erste schildert die Beziehung zweier Männer, die in den geschilderten Sachverhalt mündet. Der zweite erzählt ein Stück Kindheits- beziehungsweise Jugendgeschichte des Täters, der dritte zeigt uns das bereits erwachsene Opfer auf dem Weg aus dem Leben. Täter und Opfer sind dabei keine leicht zu vergebenden Rollen.

Marino ist ein recht passiver Junge mit einem distanzierten Vater und einer kontrollierenden Mutter. Es ist aber nicht so, dass sie ihn zu fest an sich gebunden hätte, im Gegenteil. Sie wünscht, dass er selbstständig würde. Er ist die „Frucht, die nicht vom Stamm fallen“ will. Mit dreizehn widmet er sich obsessiv Computerspielen voll „Raub, Raubmord, schweren Verstößen gegen das Waffengesetz, Hehlerei, Bandenbildung, Folter, Verstümmelung und Erpressung. Lediglich Vergewaltigung gehörte nicht zu den Spielmöglichkeiten …“ Hier wird nebenbei die Frage aufgeworfen, welche Formen von Gewalt wir eigentlich simulieren dürfen und welche nicht.

Ein herausgehobenes Ereignis seiner Adoleszenz spielt sich beim Besuch eines Freundes ab. Die beiden Burschen sitzen zusammen im Kinderzimmer, während unten im Haus Marinos Vater stirbt. Marino fühlt sich von dem Freund sexuell angezogen und leckt am nackten Oberschenkel des anderen. Als der begehrte Junge sich wehrt, eskaliert die Situation. Marino beißt dem Freund ins Bein. Er will „nie wieder loslassen, es sei denn mit einem Mundvoll Flaum und Jungenschinken“.

In der Tradition des Bildungsromans wäre die Passage als zentrales und prägendes Erlebnis für die Zukunft und spätere traurige Karriere Marinos zu lesen. Hier ist sie eher Futter für den Gerichtsgutachter. „Das hat was zu bedeuten … Es erklärt nicht alles, aber da ist durchaus was dran“, lobt der Psychiater, und Marino freut sich, dass er etwas beitragen kann. Aber weder die Beißlust des Knaben noch seine allzu willige Unterordnung gegenüber der Mutter lässt Petry sich zu einem echten Deutungsmuster für den Charakter Marinos auswachsen. Vielmehr öffnet er einen Raum des Möglichen, probiert aus, legt nicht fest. Das hebt Petrys Roman ab von Deutungsangeboten, wie sie etwa der Stern im zeitgeschichtlichen Fall bot. Da wurde ein vorgezeichneter Weg der beiden Beteiligten von traumatischen Kindheitsereignissen über sexuelle Fantasien hin zum mörderischen Kannibalismus suggeriert.

Mein Teil

Im zweiten Teil des Romans berichtet der Erzähler von sich. Die Fiktion ist übrigens so angelegt, dass der getötete Bruno Klaus die Geschichte aus der Ich-Perspektive erzählt, während Marino sie bloß aufschreibt. Bruno (der Name scheint auf Houellebecqs unglücklichen Helden in den Elementarteilchen anzuspielen) ist Professor für das recht spezielle Gebiet der „Höhepunkte der Literatur des 20. Jahrhunderts“. Über seine Kindheit erfahren wir wenig, von seinem Vater schweigt er, von der Mutter lesen wir nur, dass sie inzwischen dement ist. Bruno ist ein Einzelgänger und steht quer zum akademischen Betrieb. Weil er die Publikationswut der Kollegen für lächerlich bis schädlich hält, veröffentlicht er selbst fast nichts und macht dementsprechend keine Karriere. Eigentlich fühlt er sich ganz wohl in seiner elitären Nische. Aber eines Tages geht sein Glaube an die Literatur und an die Sprache verloren. Die Landung ist hart. Einerseits fängt er an, literarische Figuren vom Leben her zu begreifen – und findet Nabokovs Humbert Humbert plötzlich abstoßend –, andererseits bereitet ihm das, was er als das heutige Lebensgefühl ansieht, keine Freude. „Indem ich meine literarische Brille abnahm und nicht länger durch stilempfindliche Linsen schaute, wirkte plötzlich alles sehr trüb.“

Er macht sich unter den Kollegen unmöglich und nimmt Abschied vom Universitätsbetrieb. Bruno fühlt sich um zwanzig Jahre gealtert. Beinah wie eine Offenbarung wird ihm klar, dass sein Leben zu Ende ist. „Ich würde sterben, ich musste sterben … vor Jahresfrist.“
Diese Entwicklung des misanthropen literarischen Puristen ist nicht frei von Ironie. Die Perspektive auf ein „richtiges“ Leben jenseits des Landes der Metaphern schreckt ihn offenbar so sehr, dass er den Tod vorzieht. Die Lebensweisheit seiner Putzfrau – es sei nicht die Wahrheit, sondern das Leben, das man lebe – weiß er nicht zu beherzigen. Vorerst flüchtet er sich in eine pornografische Parallelwelt, die seine Sehnsüchte nicht befriedigen kann, sondern nur noch dazu dient, ihn die Sehnsucht nicht vergessen zu lassen. „Ich wichste mich blöd oder wichste umgekehrt blöd rum.“

Marino lernt er in dessen Computer-Geschäft kennen. Es macht gewissermaßen Klick bei den Männern, die beide kein erfülltes Leben haben. Marino hat das Computer-Geschäft einst auf Anraten seiner inzwischen verstorbenen Mutter eröffnet und will es nun schließen. Er nimmt Bruno mit zu sich, angeblich weil er dort eine für Brunos Anliegen geeignete Software aufbewahrt.

Damit beginnt der dritte Hauptteil der Geschichte, die Beziehung der beiden Männer. Gleich bei der ersten Begegnung haben sie Sex, nach den „Normen der Frauenzeitschrift“ allerdings keinen besonders guten. Es entwickelt sich eine wenig leidenschaftliche Beziehung, die wohl bald enden würde, wenn Bruno Marino nicht in seine „finsteren Absichten“ einweihte. Und der ist bereit, die Sanduhr zu spielen.

Auf dem Höhepunkt der Geschichte zeigt sich plötzlich, dass Bruno im Grunde nichts mehr ersehnt als die Liebe und Zärtlichkeit Marinos. Er fantasiert, „Schatz“ genannt und zum Bleiben eingeladen zu werden. Doch Marinos vermeintliche Zugewandtheit entpuppt sich als ebenso ichbezogen wie die Brunos. In einer Art kindlicher Vorfreude fragt er bloß: wann? In diesem Moment ist der Liebhaber zum Henker mutiert.

Anthropophagie gehört zu den ältesten Motiven der Literatur, schon Homer schildert sie. Dass es sie auch im Leben gibt, ist unumstritten. Es sind Selbstzeugnisse von Kannibalismus aus Hunger überliefert. Etwas komplizierter verhält es sich mit der Menschenfresserei, die seit der Antike wechselnden fremden Kulturen (oder auch Randgruppen wie den frühen Christen im römischen Reich) vorgeworfen wurde. In den Erzählungen über die neue, oder, nach Montaigne, „jene andere“ Welt, ist sie seit den Überfahrten des Kolumbus eine Konstante. Wie wenig geheuer dem deutschen Kaiserreich die eigene Kolonialmacht war, zeigt sich auch in den vielen, nie belegten Berichten über Kannibalismus im Bismarck-Archipel (Papua-Neuguinea). Die Menschenfresserei wurde als Bestandteil einer Geschichte der Zivilisierung verabscheuungswürdiger Primitiver im Sinne christlicher Werte quasi vorausgesetzt und brauchte den Augenschein nicht mehr. Der Germanist Wolfgang Struck hat herausgearbeitet, dass die Reiseschilderungen sowie die ethnografischen Berichte über Kannibalen in diesem Zusammenhang immer aus dritter Hand stammen. Jemand, der dort gewesen ist, hat von Eingeborenen gehört, dass …

Die Gefahr, unwissentlich selbst zum Menschenfresser zu werden, läuft immer mit. In dem Bericht Bei den kunstsinnigen Kannibalen der Südsee schildert die Reisende Elisabeth Krämer-Bannow, wie ihrer Expedition in einem Dorf Auskunft über ein anstehendes Fest verweigert wird, die Europäer aber zum Essen eingeladen werden: „Einmal kam mir der unheimliche Gedanke, ob es auch wirklich Schweinefleisch wäre, was wir aßen; der eigentümliche Geschmack, die ganze düstere Stimmung, die jene Stunden beherrschte, ließen den Verdacht kannibalischer Orgien aufkommen.“ (Zitiert nach Strucks Aufsatz „Gier“). Beruhigend wirken einige Stücke ihres Mahls, die Bannow-Krämer eindeutig als Schwein erkennt.

Der Eindruck der Fremdartigkeit, das Unverständliche der Situation wird durch den Verdacht der Menschenfresserei befestigt und gesteigert. Es entsteht eine klare Entgegensetzung von Eigenem und Fremdem. Auch die im Buchtitel genannte Kunstsinnigkeit der indigenen Bevölkerung erhält als „geheimnisvoll“ und „zauberkräftig“ den ambivalenten Glanz der Andersartigkeit. Dieser Gegensatz wird uns in der Folge noch beschäftigen.

Der Schaukasten

Ein weiterer Roman, der sich in diesem Frühjahr mit dem Bösen oder dem Verbrechen befasst, ist Heinz Strunks Der goldene Handschuh. Ähnlich wie bei Petry ist der Ausgangspunkt ein reales Verbrechen. Strunk erzählt die Geschichte des Serienmörders Fritz Honka nach. Er wählt dabei einen grundsätzlich anderen Weg als Petry, ihm geht es viel mehr um das Nachvollziehen und Begreifen dessen, was wirklich geschehen ist. Jedenfalls legt das selbstreflexive Zitat des Kindermörders Bartsch am Anfang des Textes das ebenso nahe wie der Hinweis auf die erstmalig gewährte Akteneinsicht zu dem Fall. Honka hatte in den 1970ern in Hamburg vier Frauen ermordet. Der Roman zeichnet ein Soziogramm von einigen im gesellschaftlichen Abseits stehenden Menschen, die sich in der Asi-Kneipe „Zum goldenen Handschuh“ begegnen. Hineingeschnitten ist ein Handlungsstrang, der sich mit einer reichen, aber dekadenten Hamburger Reeder-Familie befasst.

Fritz Honka hat im Leben eigentlich keine Chance bekommen. Als Jugendlicher aus der DDR geflohen, selbst Opfer von (auch sexueller) Gewalt, alkoholabhängig, wurschtelt er sich irgendwie durch. Die Frauen, die er kennenlernt, sind mindestens so fertig wie er. Seine Wünsche gehen dahin, eine Frau in seiner Wohnung einzusperren und sie zu versklaven. Sie soll keinen eigenen Willen mehr haben. Spät in dem Buch tötet er eine dieser Frauen, danach rasch weitere. Seine Gegenfigur aus der Reeder-Familie hat im Grunde eine ähnlich gewalttätige Disposition, nur dass er irgendwie die Kurve kriegt und niemand umbringt.

Mehr als Petry wird Strunk explizit. Die Situation am Morgen nach Honkas erstem Mord schildert er so: „Das Aas und die Scheiße in seinem Bett, die Worte, die wie giftiger Dampf aus ihrer Kehle gestiegen sind.“ Er schneidet „ihren Hals auf, weil da alles drin ist, was zur Sprache gehört … bis er sicher ist, dass alles kaputt ist, auch die Stimmbänder.“ Nach weiteren Verstümmelungen schafft er die verschnürte Leiche in die Abstellkammer. „ Wegen des starken Leichengeruchs verklebt er zwei Wochen später die Luke mit Leukoplaststreifen und tapeziert alles über.“

Neben Schilderungen dieser Art besteht der Text zu gefühlten fünfzig Prozent aus misogynen und noch misogyneren Statements seines männlichen Personals. Strunk schaut zwar nicht überheblich, doch von oben auf seine Figuren. Die milieugebundene Sprache, die sozusagen saubere Einteilung der Romanwelt in Loser und verdorbene Upper-Class-Menschen lassen eine Terrarium-Situation entstehen; den Betrachter können die giftigen Tiere im Kasten nicht stechen. So wirkt Der goldene Handschuh am Ende mehr wie eine Bestätigung von Topoi über zwei extreme Milieus. Die soziale Einhegung lässt kaum Unruhe aufkommen, eher das Gefühl, einem seltsamen, traurigen Schauspiel zu folgen – Exotik vor der eigenen Haustür.

Das Böse und die Literatur

Bei der Erweiterung des Blickwinkels auf Literatur und Film über die „Nachtseite“ (Strunk) kommen wir nicht ganz um de Sade herum. Seine Bücher entfalteten ihre größte Wirkung wohl nicht umsonst nach der traumatischen Entgrenzung der Europäer im Ersten Weltkrieg. Georges Bataille nennt de Sade den Autor, der von allen am Weitesten gegangen sei. Im Hinblick auf die Hundertzwanzig Tage von Sodom schreibt Bataille: „Dieses Buch ist wahrlich das Einzige, in dem der Geist des Menschen dem, was ist, gewachsen ist. Die Sprache der Cent vingt journées ist die des gemächlichen Alls, das die Gesamtheit der Wesen, die es hervorbrachte, mit Sicherheit entkräftet, peinigt, zerstört.“

Bataille legt nahe, dass de Sade die wahre menschliche Natur erkannt und darstellend ausgehalten habe. Das, „was ist“, wird sonst allzu gern unter den Teppich gekehrt. „Nichts scheint uns besser gewährleistet als das Ich, auf dem das Denken beruht … Außerdem kann das Individuum … sich auch einer endlichen Ordnung unterordnen, die es innerhalb einer Unermesslichkeit fesselt … Es verfügt nur über ein Mittel, diesen verschiedenen Begrenzungen zu entfliehen: Die Zerstörung von unseresgleichen (in dieser Zerstörung wird die Begrenzung von unseresgleichen negiert …).“

Et voilà, wir befinden uns im Zentrum, wo die Fäden, die durch unsere Geschichten laufen, von den schaurigen Kannibalen Melanesiens bis zu den Erzählungen Petrys und Strunks zusammenlaufen. Destruktion und Konstruktion sind nicht länger Gegensätze, sie haben dieselbe Stoßrichtung, die Festigung und die Ausweitung des Ichs. Aber was ist aus der Entgrenzung geworden, der Überschreitung, die einen schwindeln ließ?

Denken wir zurück an bedeutende Romane oder Spielfilme aus dem späteren zwanzigsten Jahrhundert, an Pasolinis 120 Tage von Sodom oder Ellis’ American Psycho. Pasolini übertrug de Sades Roman in die letzten Tage einer faschistischen Gewaltherrschaft in den 1940ern. Gleichzeitig behauptete er aber, mit diesem Film, der keine visuellen Hemmungen zu kennen scheint, den amerikanischen Konsumismus seiner Gegenwart anzugreifen. Ellis lieferte mit Patrick Bateman so etwas wie den prototypischen Bösewicht der neoliberalen Ära, eine Metapher für die in den 1990ern heraufziehende Welt. Im Fall Pasolinis sind wir eher bei den Opfern, die Gewalt der Täter setzt uns zu, aber bleibt die Gewalt der anderen. Ellis Protagonist bringt uns dagegen in die dumme Lage, dass er so ist wie wir, durchdrungen von einer Welt der Marken, des Fernsehens und der Popkultur und darin verloren wie wir. Er ist, um es mit Flusser zu sagen, kein Subjekt, sondern ein Projekt.

Einebnung und Rückkehr des Anderen

Die gesellschaftliche Entwicklung scheint den Funktionszusammenhang von Überschreitung und Entgrenzung inzwischen verschoben zu haben, Serienkiller wie Zombies sind im kulturellen Mainstream angekommen. Weder das Aufdecken womöglich verdrängter, abseitiger Dimensionen des Menschlichen noch der Rückanschluss an vermeintliche sakrale Gemeinschaftserlebnisse wie in den Blutorgien von Hermann Nitsch können in der Welt der Selbstoptimierer eine Wirkung zeitigen. Der Versuch, aus dem real geschehenen Verbrechen eine literarische Beunruhigung zu erzeugen, versagt entweder oder wird verweigert.

Bei Strunk ist das Böse eigentlich gar nicht von Interesse, der Verbrecher ist, salopp gesagt, ein armes Schwein. Hier kommt am ehesten noch die Sprache zum Tragen, diese unerschöpfliche Aneinanderreihung von abartigen Formeln und so aggressiven wie öden Witzen, die, in erster Linie, ein bestimmter Typus von gescheitertem Mann über Frauen runterzuleiern weiß.

Petry erweckt dagegen den Eindruck, gewollt auf das allzu Abgründige zu verzichten und eine von uns beinah integrierbare Liebesgeschichte zu erzählen. Der kannibalische Akt wird nicht zu einem Akzidens, aber deutlich marginalisiert. Das ermöglicht auch den Humor in seinem Roman. Beide Hauptfiguren von In Paradisum gleichen einander in ihrem Hang zur Isolation und finden sich in der Isolation. Bezeichnenderweise spielt die Handlung fast ausschließlich in mehr oder weniger abgeschlossenen Räumen, dem Hörsaal, dem Haus, dem Ladengeschäft und so fort. Es gibt eigentlich nur eine Stelle, an der zwei polarisierende, voneinander unabhängige Welten frei aufeinandertreffen. Bruno geht durch Brüssel und prallt mit einem „braunhäutige[n], bärtige[n] junge[n] Mann“ zusammen, dessen Selbstinszenierung – mit sittsamer, potthässlicher Kleidung und, vermutlich, einem Koran in der Hand – ihm sofort unsympathisch ist. Es kommt zu einem Augenduell mit dem Fremden. Bruno ist empört, weil er sich absichtlich über den Haufen gerannt fühlt, „doch meine Aura schwand …, erniedrigend schnell, unter dem Druck seiner Verachtung“. Für den Professor wird aus der Begegnung ein Clash der Literaturen: Das „Büchlein, das er für heilig hielt, war in meinen Augen ein kleinkarierter Mischmasch Bauerngeschwätz und pseudospiritueller Frömmelei. Die Texte meines eigenen, individuellen Kanons würde er nur als Quelle von verwerflichem Intellektualismus und amoralischem Schweinkram betrachten, als das Ergebnis von purer Dekadenz und Entgleisung.“

Die Begebenheit wirkt im Zusammenhang mit der Haupthandlung zufällig, scheint mir aber von zentraler Bedeutung für den Text. Das Fremde kommt in einem ungeschützten Moment, im offenen Raum der Metropole Brüssel, in Gestalt dieses anders gekleideten, anderes lesenden, anders denkenden Mannes in eine Gesellschaft zurück, die sich jahrzehntelang bemüht hat, das Fremde als gefährliche, zu Hass und Vernichtung führende Konstruktion zu betrachten, und es, in der Hoffnung, Gewalt zu verhindern, geleugnet hat. (Wir leugnen es bis heute in einem Diskurs, der von nach Europa kommenden Fremden fordert, sich zu integrieren, unsere statt der eigenen Sprachen zu sprechen und sich wie wir zu gebärden – nicht fremd zu bleiben). Bruno versucht, selbst im Moment der Konfrontation den Standpunkt des Anderen mitzudenken. Doch er, der Individualist, erlebt sich als schwach, zu wenig selbstgewiss.

Das Böse im Literaturbetrieb

Dass ein Buch wie dieses fein geschriebene, in keiner Weise skandalträchtige, sondern (im Hinblick auf seinen delikaten Gegenstand) eher recht zurückhaltende in Deutschland offenbar keinen Verleger gefunden hat, verwundert. Ich habe mich gefragt und auch ein bisschen rumgefragt, woran das liegen könnte. Die Antwort aus Belgien lautete, manche hätten einfach mit „diesem Kannibalen“, also dem Herrn Meiwes aus Rotenburg, nichts zu tun haben wollen. Die Geschichte wirkt in den Köpfen noch nach. Ob es bezüglich des Buches von Heinz Strunk, das wesentlich mehr „Stellen“ hat, ähnliche Bedenken gab, ist mir nicht bekannt.

Interessant wäre es, eine Bewegung nachzuverfolgen, die von der politischen Zensur früherer Epochen zu den heutigen „Dos an Don’ts“, der Moral des (speziell deutschen?) Literaturbetriebs führt. Das kann hier nur beispielhaft geschehen. Pasolinis erwähnter Film löste in den 1970er-Jahren noch heftige Empörung aus. Die FSK gab ihn unter Schnittauflagen frei. Dazu gehörten: „In der Bildfolge, wenn Blanges mit dem Fernglas durch [sic] Fenster die brutalen Vorgänge auf dem Hof beobachtet, ist das Zunge-Abschneiden an einem Jungen auf ein Minimum zu reduzieren.“ Und: „In derselben Szenenfolge ist der Koitus an einem an allen Vieren gefesselten jungen Mann à tergo um die zweite Einstellung zu kürzen.“ American Psycho war in Deutschland von 1995 bis 2001 indiziert.

Bei Jonathan Littell, der es mit Die Wohlgesinnten 2006 unternahm, den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust aus der Perspektive eines SS-Mannes zu erzählen, war die Empörung eher lahm. Die inzwischen bei Bild– wie Zeit-Lesern (und, ja, auch bei vielen anderen) so beliebte Frage „Darf man das?“ tauchte schon auf. Irgendwie durfte er. Inzwischen ist es mit den Aufregern schwieriger geworden. Damit meine ich nicht den Skandal, der sich jederzeit leicht erzeugen ließe, sondern die Konzentration eines Kunstwerks auf jene kommerziell nicht nutzbaren Seiten des Menschen, die Bataille „das Böse“ genannt hat.

Konsequenterweise ist das einzige Kriterium der Zensur heute der Markt. Was sich nicht verkaufen lässt, wird nicht gemacht. Und der gesellschaftliche Trend geht deutlich nicht zur Überschreitung oder Entgrenzung, sondern eher zur privaten Ordnung und zur Leistungsfreude. Literatur und Kunst können in diesem Zusammenhang nur bestätigend wirken. Sie müssen Begehren erzeugen, denn was nicht begehrenswert ist, wird nicht gekauft, es existiert nicht. Auch der neoliberale Staat ist dem Individuum nicht mehr entgegengesetzt, sondern scheinbar zu einem Dienstleister geworden, der sich, während wir leben (nämlich unseren schönen Traum), um den Rest (sprich unsere Sicherheit, dass der Traum keine Kratzer bekommt) kümmert. Nun kehrt das Böse – als reale Bedrohung durch Terror ebenso wie, untrennbar ineinander verschlungen, in Gestalt eines Fantasmas vom bärtigen „Islamisten“ oder „Dschihadisten“ – in unsere materialistische Welt zurück. Nach wie vor scheint unsere hübsch ordentliche und in ihrer Unordnung auf ein allgemein verträgliches Maß an Korrektheit runtergekochte Gesellschaft etwas zu übersehen. Das Du zum Ich zu machen, stellt keine gültige Lösung dar.

Thomas Lang, Jahrgang 1967, lebt als Schriftsteller in München. Zuletzt veröffentlichte er den Roman Bodenlos oder Ein gelbes Mädchen läuft rückwärts (2010) und die Erzählung Jim (2012) bei C.H. Beck sowie den Roman Immer nach Hause (Berlin Verlag,  2016).

Quelle: Volltext 2/2016

Online seit: 3. November 2016

 

Yves Petry: In Paradisum. Roman. Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens. Luftschacht Verlag, Wien 2016. 288 Seiten, € 24 (D) / € 24,70 (A).

Heinz Strunk: Der goldene Handschuh. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2016. 256 Seiten, € 19,95 (D) / € 20,60 (A).