Kein Makel, nirgends

Zu Recht vergessen: Daniel Wisser über Hermann Sudermanns raschen Ruhm und langsames Verschwinden aus dem Kanon

Online seit: 8. September 2024

Als Daniela Strigl mich einlud, einen Essay in dieser Reihe zu schreiben, wählte ich Hermann Sudermann als Thema und mein Text begann mit folgenden Zeilen:

Als ich noch Schüler war, mit 17 Jahren, und Brecht für mich eine Zeitlang das Maß aller literarischen Dinge war, stolperte ich beim Lesen eines Gedichts von Hans Weigel, das aus der Perspektive kommender Generationen die Lächerlichkeit früherer sozialkritischer Literatur beleuchten sollte, über folgende Zeile: und Brecht und Sudermann sind alte Hüte. Das Gedicht schließt mit der Zeile (aus dem Gedächtnis): Mein Gott, das sah mein Großvater sich an!

Symptomatisch, dachte ich damals, dass jemand wie Weigel, der Brecht mit Ingrimm verfolgte, ihn durch eine unpassende Aufzählung weiter diskreditiert. Da mir Sudermann damals unbekannt war, hat Weigel aber zumindest zu meiner Bildung beigetragen. Ich begann also nachzulesen, wer Hermann Sudermann war; man darf nicht vergessen, dass ich hier vom Jahr 1987 spreche, als es kein WorldWideWeb gab.

Als ich das Geburtsdatum Sudermanns herausfand, verwunderte mich zunächst, dass er schwerlich als Zeitgenosse Brechts durchgehen konnte. Sudermann wurde 1857, also mehr als 40 Jahre vor Brecht, geboren. Er war Zeitgenosse von Oscar Wilde, Selma Lagerlöf, Anton Tschechow, Rabindranath Tagore, Knut Hamsun oder Peter Altenberg. Das vermehrte meinen Zweifel an der Integrität Weigels.

Sudermanns Biografie hat, wenn sie überhaupt einen Makel hat, den der Makellosigkeit. Sein Aufstieg und sein Erfolg, der zumindest für ein Jahrzehntsehr groß war, vermitteln weder die Tragik vergebener Chancen, verpasster Gelegenheiten, noch die Dilemmata des Missverstandenen oder des Genies, das einfach nur zur falschen Zeit und/oder am falschen Ort ist.

Gut erzählt, aber trivial

Der als Sohn eines Bierbrauers geborene und in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsene Sudermann schafft es zwar zur Universität, bricht aber sein Studium ab und wendet sich dem Journalismus zu. Bald haben seine ersten beiden Romane Frau Sorge und Der Katzensteg, die in Zeitungen veröffentlicht werden, Erfolg. In der Literaturgeschichte gilt Sudermanns Prosa bis heute zwar als gut erzählte, spannende Literatur, die sich für das Fortsetzungsformat in der Presse hervorragend eignete, zum anderen aber als äußerst konventionell, ja trivial.

Anders verhält es sich bei den Dramen. Mit Die Ehre gelingt Sudermann 1889 ein Sensationserfolg und er gilt damit zusammen mit Gerhart Hauptmann für die nächsten zehn bis 15 Jahre als der bedeutendste Dramatiker des deutschsprachigen Naturalismus. Sein Stück Sodoms Ende von1891 löst einen Skandal aus. Es wird zeitweise sogar polizeilich verboten und Wilhelm II. weigert sich, Sudermann den Schillerpreis zu überreichen. 1893 schließlich gelingt ihm mit dem Drama Heimat ein Welterfolg; das Stück wird auch in den Vereinigten Staaten und in England populär, wo niemand anderer als die berühmte Sarah Bernhardt die Hauptrolle spielt. (Das Stück wird mehrmals verfilmt, 1938 unter dem Titel Magda mit Zarah Leander in der Titelrolle.)

Diese Zeit markiert den Höhepunkt der Berühmtheit Sudermanns, die auf der Bühne mit der Ablöse des Naturalismus zu Ende geht, bis zum Ende des Ersten Weltkriegs allerdings noch durch die Verfilmung seiner Stücke anhält. Sudermann lebt bis zu seinem Tod im Jahr 1928 als wohlhabender, aber immer mehr vergessener Schrifsteller. Anders als die Dramen Gerhart Hauptmanns schaffen es die Sudermann-Stücke nach dem Zweiten Weltkrieg nicht, Teil des literarischen Kanons zu werden, und darin liegt vielleicht doch eine gewisse Tragik. Denn im Gegensatz zu Hauptmann könnte Sudermann mit seinem lakonischen Stil, der weniger existenzielle Konflikte des ausgehenden 19. Jahrhunderts, als gesellschafliche Konflikte Bürgertums dieser Zeit portraitiert, in der heutigen Welt der Atomisierung der Mittelschicht vielleicht wieder interessant werden.

Für einen Leser der späten 1980er-Jahre, einen Jugendlichen, für den die Überwindung des Imperialismus der USA und der damals noch existierenden Warschauer-Pakt-Staaten ein vordringliches Thema war, passte Sudermann mit seinen Stücken nicht auf die Leseliste. Und zu einem Versuch, seine Prosa zu lesen, kam es damals nicht.

Nach dem früheren Urteil eines für mich heute fremden Ichs, habe ich diese Texte nochmals gelesen und mir vorgenommen, dem Autor weigellose Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Ich geniere mich für meine jugendliche Haltung. Heute bin ich Kulturpessimist, i.e. ich möchte sterben als einer, der Hermann Sudermann noch gelesen hat und es sich erlaubt, diesen Autor zu begreifen und aus seinem Werk Schlüsse zu ziehen. Es sind hart erlesene Schlüsse und ich möchte nicht sagen, dass in unserer bildungsfernen Gesellschaft gerade Sudermann der Erste wäre, mithilfe dessen Dramen man einem Verständnis der Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts näher käme. Aber das naturalistische Drama hat auch viel schlechtere Vertreter als ihn. Da ist etwa Hermann Bahrs Die Mutter, mit dessen minutiöser Inhaltsangabe Wendelin Schmidt-Dengler einst das ganze Audimax unterhalten hat.

Beinahe – und Hermann Sudermann zur Unehre – wäre es so gekommen, dass ich mich mit obigen wenig schmeichelhaften Zeilen begnügt hätte. Dann aber geschah das:

Ich gehe jede Woche am Freitag oder Samstag zum Karmelitermarkt. Eine meiner fixen Stationen dort ist der Brotstand, wo Frau Margot und Herr Hauser stehen. Frau Margot ist eine Kennerin von Oper und Literatur und verwickelt mich wöchentlich in Diskussionen über Literaten, während ich Brot und Gebäck aussuche. Eines Tages geschah es: Während ich auf einen Brotlaib zeigte, sagte Frau Margot zu mir, dass sie von der zeitgenössischen Literatur gerade genug habe und wieder alte Bücher lese, die sie noch von ihrer Mutter habe, zum Beispiel Der Katzensteg von Hermann Sudermann. Den Namen des Autors zu hören, rüttelte mich auf. Ich begriff, dass es da noch mehr gegeben haben muss. Und ich begann zu lesen. Vielleicht finden ja manche durch diesen Roman zum Autor Sudermann. Ohne zu viel zu verraten: Der Katzensteg erzählt die Geschichte eines Mannes, dessen ganze Familie geächtet ist, weil sein Vater während der Freiheitskriege mit Napoleon sympathisierte. Wie Sudermanns Stücke wurde auch dieser Roman mehrfach verfilmt, zuletzt 1975 mit Hanna Schygulla in einer der Hauptrollen.

Aus diesen Gründen kann ich das Urteil, das ich als 17-Jähriger gefällt habe, nicht aufrechterhalten. Im Gegenteil. Ich, Kulturpessimist Daniel Wisser, muss den Lesern dieser Zeilen zurufen: Lest Hermann Sudermann!

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ZU RECHT VERGESSEN
Die Serie Zu Recht vergessen – die besten schlechten Dichter aller Zeiten widmet sich dem Phänomen der Berühmtheit zu Lebzeiten, die durch keinerlei ästhetische oder poetologische Qualität gerechtfertigt ist. Der zu Recht vergessene, einst aber bekannte und gefeierte Autor ist mentalitätsgeschichtlich grundsätzlich interessanter als das zu Lebzeiten verkannte Genie, das „seiner Zeit voraus“ war. Im Unterschied zum „allzeit gültigen“ Werk des Klassikers stellt sich am Beispiel der Produktion des schlechten Autors oder der schlechten Autorin die Frage nach der historischen Kontingenz ästhetischer Werte und Wertungen.

Daniel Wisser, geboren 1971 in Klagenfurt, lebt als Schriftsteller und Musiker in Wien. Zuletzt erschienen die Romane Die Löwen der Einöde (Jung und Jung, 2017) und Königin der Berge (Jung und Jung, 2018).

Quelle: VOLLTEXT 4/2019

Online seit: 8. September 2019