Der Nerd und die Nazis

Der 1894 geborene Hermann Oberth zählt zu den wichtigsten Vordenkern der Raumfahrt. In Peenemünde arbeitete er an der V2, in den 50er-Jahren gemeinsam mit seinem Schüler Wernher von Braun an Raketen für die US-Armee. In seinen späten Jahren neigte er dem Okkultismus und der Ufologie zu. Der Physiker Daniel Mellem hat dem schillernden Oberth nun einen Roman gewidmet: Die Erfindung des Countdowns. Pascal Mathéus sprach mit ihm über Wissenschaft, Ethik und das Erzählen historischer Stoffe.

Online seit: 14. September 2020
Hermann Oberth, Wernher von Braun © U.S. Army
Hermann Oberth (vorne) in Huntsville, Alabama, 1956: Ein Utopist, der die Erfüllung seiner eigenen Utopie erlebt hat. Foto: U.S. Army

PASCAL MATHEUS Der Politikstil von Angela Merkel wird oft damit erklärt, dass sie Physikerin sei. Was bedeutet es für einen Schriftsteller, Physiker zu sein?

DANIEL MELLEM Als Physiker habe ich beim Schreiben die Tendenz, Dinge zu strukturieren und Theorien zu entwickeln. Das hilft, gerade im Schaffensprozess. Aber der analytische Blick kann auch hinderlich sein. Denn in der Physik geht es oft darum, Widersprüche aufzulösen. Davon ausgehend ist es manchmal verführerisch, zu einfach zu denken. Das ist mir auch beim Schreiben am Roman passiert. Ich habe relativ schnell – wenn wir bei dem Begriff bleiben wollen – eine Theorie von Hermann Oberth entwickelt. Ich habe ihn als naiven Forscher gesehen, sympathisch, aber eben fern von der Welt, in der er lebt. Im Laufe der Arbeit am Roman musste ich feststellen, dass das zu einfach gedacht war. Oberth träumte von einer utopischen Zukunft, war aber gleichzeitig verhaftet in seiner nationalsozialistischen Gegenwart. Ein Widerspruch, den man nicht so einfach mit einer Theorie auflösen kann.

MATHEUS Warum wollten Sie lieber schreiben, als Wissenschaft zu betreiben?

MELLEM Ich habe sehr gerne Physik gemacht, sie fasziniert mich auch nach wie vor. Nach dem Abitur wollte ich das unbedingt studieren, wollte verstehen, was die Welt im Innersten zusammenhält, die Erkenntnis erweitern. Es ist aber so, dass das naturwissenschaftliche Arbeiten auch eine Verengung bedeutet. Denkprozesse sind deterministisch und logisch geprägt, inhaltlich konzentriert man sich schon bald auf ein sehr spezielles Forschungsthema. Die Literatur gibt mir die Möglichkeit, mich assoziativ mit ganz verschiedenen Themen auseinanderzusetzen, mich der Welt aus unterschiedlichen Richtungen zu nähern. Auch in Widersprüche reinzugehen, in Unschärfen, die Welt emotional zu begreifen. Diese Freiheit genieße ich sehr.

Eine Weltraumrakete erschien  Anfang der 20er-Jahre undenkbar. In den 50er-Jahren aber war sie Lebensrealität geworden.

MATHEUS Wie kamen Sie darauf, über das Leben des Raketenwissenschaftlers Hermann Oberth zu schreiben?

MELLEM Bis vor fünf Jahren kannte ich Oberth gar nicht. Ich las damals über Fritz Langs Frau im Mond und bin dabei auf ihn gestoßen. Er hat mich sofort fasziniert. Er hat ein Leben voller