Equus f. przewalski

Eine Erzählung von Cornelia Travnicek.
„Mit welcher Freude Kollege Setz diese Geschichte lesen würde – hätte er sie nur überleben können.“

Online seit: 2. Februar 2016

An diesem Tag schritt die Abenddämmerung gemächlich voran. Gerade war sie dabei, sich über die weitläufige Wiese hinter dem Hof zu legen, während wir die Weide entlang gingen. Genauer gesagt ging ich und Clemens Setz flatterte, da sich der preisgekrönte Autor in der Gestalt eines mittelgroßen, grau-pinken Nachtfalters zeigte, auf dessen beflügeltem Körperchen oben eben Setzens Kopf saß. Der Schriftsteller schien daran keinen Anstoß zu nehmen, er schwirrte beschwingt durch das abnehmende Licht, mir immer ein Stück voraus.

Auch als menschenköpfiges Insekt war der Kollege voller erzählenswerter Miniaturen, von Zeit zu Zeit sprudelte es aus ihm heraus, angeregt von diesem und jenem Gedanken, einem Bild, einem Geruch. „Wusstest du“, begann er dann, und seine Stimme schien mir seine übliche Stimme, nur ein feines Lispeln lag darin, ein wenig dünner war sie vielleicht, ein bisschen höher noch dazu.

Da erblickte er auf der Wiese ein Wiesel, oder ein Frettchen, ein marderartiges Tier jedenfalls, wir wussten es nicht, wir waren jedoch Schreibende und keine Biologen, also grämten wir uns nicht ob unserer Unwissenheit was die Klassifizierung des pelzigen Dings anging, das die Vorderpfoten in die Luft gehoben hatte und in unsere Richtung witterte. Setz, der Falter, fand sofort Gefallen an der Idee, das Tier zu füttern, also betraten wir die Wiese.

In meiner Hosentasche fand ich zwei Katzenkaustangen, die dort wohl beim letzten Tierarztbesuch vergessen worden waren. Ich brach eine davon in Stückchen, die ich in meiner hohlen Hand bereithielt. Setz konnte vor Freude die Höhe nicht halten, er flügelte auf und ab, und es ärgerte ihn, dass er dem, was er kurzerhand ein Wiettchen getauft hatte, in seiner derzeitigen Gestalt keine Nahrung anbieten konnte. Dieses faltete erreget die Pfötchen ineinander, stand da wie ein kleiner Ministrant, der zum ersten  Mal die Glocken läuten darf. Ich wandte meine Handfläche nach oben und präsentierte die Stückchen getrockneten Fleisches. Das Schnäuzchen zuckte.

Das Geräusch von Hufen auf trockener Erde und Grasbüscheln machte mich auf ein Pferd aufmerksam, das sich uns näherte. Es hatte semmel- bis bronzefarbenes Fell, einen schwarzen Schweif und eine schwarze Stehmähne und Streifen an den Beinen. Es war ein Takhi, ein Asiatisches Urwildpferd, in Europa auch mit dem Beinamen Przewalski bekannt. Und es war scheinbar an meiner in Fütterungsgeste ausgestreckten Hand interessiert, reckte den Hals und blähte die Nüstern.

In der Zwischenzeit hatte sich das Fresel entschieden, mir zu vertrauen und, unerwartet possierlich, ein Leckerchen mit seiner Pfote aus meiner Hand genommen, dann noch eines, und begonnen, sich das Futter in die Backen zu schieben, als wäre es ein Hamster. Da kam mein Vater vorbei, ich weiß nicht, wohin er unterwegs war, er rief mir bloß zu, ich solle das Tier nicht füttern, ich könne gebissen werden oder gar Schlimmeres, wobei er das Schlimmere, das mir drohen könnte, nicht näher ausführte und ich hatte, unter uns gesagt, auch keine Vorstellung davon, was so ein marderartiges Geschöpf mir Schlimmeres antun wollte, als mir die spitzen kleinen Zähne in die Hand zu schlagen. Dann verschwand mein Vater um die nächste Wegbiegung.

Von meinen tierischen und halbtierischen Freunden hatte sich keiner von diesem Zwischenruf stören lassen, Setz taumelte durch die kühler werdende Luft, das Pferd scharrte, und weiterhin verschwanden Stücke der Katzen- kaustange aus meiner als Futterschale dienenden Hand. Da klopfte das Takhi mehrmals fest mit dem rechten Vorderhuf auf den Boden, es warf den Kopf zurück, es schnaubte, es schlug mit dem Schweif nach unsichtbaren Fliegen. Dann wieder senkte es den Kopf in die Grashalme und blies Staub auf. Ich zerbrach die zweite Kaustange und bot auch diese Stücke zur freien Entnahme an.

Das Pferd stand nun genau hinter dem Abendfalter, der mein Schriftstellerkollege Clemens J. Setz war, dieser schwebte genau vor des Pferdes Nase, und als alles für einen Moment lang still war, machte das Pferd: Haps.

Es machte haps, und weg war Setz.

Ich und das Pelztier starrten fassungslos das Pferd an. Das bleckte die Zähne, und ich wusste, hinter diesen Beißern gefangen war ein Bestsellerautor.

„Wirst du wohl!“, schrie ich das Pferd an, aber das grinste bloß. Also ließ ich fallen, was ich hielt und umklammerte flugs das Maul des frechen Takhis. Ich zog an seiner Oberlippe, ich versuchte an seiner Unterlippe Halt zu finden, ich bettelte und flehte, es möge das Maul öffnen, aber die Zahnreihen blieben fest verschlossen, egal wie sehr ich zerrte. Panisch fiel ich ihm um den Hals, scheuend machte es einen Schritt zurück, ich ließ los,  sprang zur Seite und hieb ihm, einer plötzlichen Eingebung folgend, mit der Handfläche eines auf die Flanken.

„Spuck ihn aus!“, brüllte ich, das Pferd von vorne nach hinten abschreitend, und noch einmal: „Spuck! Ihn! Aus!“

Jedoch, in dem Moment, in dem ein Schlag auf den Arsch des Pferdes klatschte, macht dieses: Gulp.

Es machte also gulp und schluckte.

Dieser direkte Nachfahre eines Urtieres hatte eben einen der ausgezeichnetsten Schriftsteller seiner Generation verschluckt und nicht einmal den Anstand, sich die Lippen zu lecken.

Aus reiner Verzweiflung warf ich mich dem nicht allzu großgewachsenen Pferd auf den Rücken, in der ehrlichen Absicht, einen Heimlich-Handgriff durchzuführen, denn ein Autor dieses Formates konnte dem Tier ja nur im Halse stecken geblieben sein! Leider reichten meine Arme nicht um den Brustkorb des Tieres, und bei jedem Versuch rutschte ich eher unelegant seitlich zu Boden.

Gerade als ich zum wiederholten Mal Anlauf auf das Pferd nahm, packte mich eine schwere Hand an der Schulter und riss mich herum.

„Was tun Sie denn da!“

Die Frage hatte ein Ausrufezeichen, war also ein Vorwurf.

„Das Pferd!“, gab ich zur Antwort, außer Atem.

„Ja, das ist ein wertvolles, unter Naturschutz stehendes Przewalski-Pferd, an dem Sie sich eben vergriffen haben!“

„Das Wiesel!“, stammelte ich und wollte auf die Stelle im Gras zeigen, aber da war nichts mehr.

„Welches Wiesel?“, wollte der Mann, der zum festen Griff an meiner Schulter gehörte, daraufhin wissen.

Ich fuhr fort, abwechselnd auf das Pferd und die Grasnarbe zu zeigen, ich stand offensichtlich unter Schock, aber das kümmerte den Mann wenig.

„Sie kommen jetzt mit!“, wurde mir befohlen, und seltsamerweise gehorchten meine Füße.

Am Hof sperrte man mich in eine Sattelkammer und ließ eine Reihe offiziell dreinblickender Leute aufmarschieren, die mir nacheinander alle die gleichen Fragen stellten, was ich auf der Wiese zu suchen gehabt hätte, wieso ich durch die Umzäunung geklettert sei, was mich bewogen habe, das Pferd zu schlagen, ob ich Reue zeigen würde. Dazwischen erfolgte eine Aufzählung aller mir zur Last gelegten Straftaten: Hausfriedensbruch nach Paragraph 123 StGB, Tierquälerei nach Paragraph 222 StGB, Gefährliche Drohung nach Paragraph 107 StGB (mit dem Ausruf „Ich hau’ dir aufs Maul, du gewissenloser Trampel!“, den der mich Abführende auf sich bezogen hatte) und letztlich Diebstahl nach Paragraph 127 StGB, da man in meiner Tasche ein ausgestopftes Zwergwiesel gefunden hatte (mit der Bemerkung: „Dieses Wiesel also!“), das eindeutig der Gaststube des Hofladens zugeordnet werden konnte.

„Reue?“, rief ich erstaunt, und die Offiziellen waren noch erstaunter.

Wie hätte ich Reue empfinden können bei dieser unaussprechlichen Tat des Takh.

Genau das war allerdings das Problem, die Tat schien wirklich unaussprechlich. Sooft ich den Mund öffnete, um zu erzählen, was passiert war, fiel mir jemand ins Wort oder ich konnte die richtigen dafür schlicht nicht finden.

Einmal nur gelang es mir, „Clemens Setz!“ hervorzustoßen, woraufhin man mir erklärte, ich hätte wirklich keinerlei Gründe, den unbescholtenen Buchautor, der an diesem Tag eine Lesung in der Dorfbibliothek gehalten und sich danach in sein Fremdenzimmer zur Ruhe begeben hatte, in diese Sache mit hineinzuziehen.

Endlich entschloss ich mich, um Stift und Papier zu bitten, sagte, ich wolle mich geständig zeigen, ein schriftliches Protokoll anfertigen, den Vorfall detailgetreu schildern.

Man brachte mir das Gewünschte, in der Hoffnung auf Erhellung.

Also begann ich zu schreiben: „An diesem Tag schritt die Abenddämmerung gemächlich voran …“ und dachte mir dabei, mit welcher Freude Kollege Setz diese Geschichte lesen würde – hätte er sie nur überleben können.

 

Cornelia Travnicek, geboren 1987, lebt in Niederösterreich. Sie studierte Sinologie und Informatik und arbeitet als Researcher in einem Zentrum für Virtual Reality und Visualisierung. Zuletzt erschienen die Roman Chucks (DVA, 2012) und Junge Hunde (DVA, 2015) sowie den Gedichtband mindestens einer der weißen wale (Verlag Berger, 2015). Die Verfilmung von Chucks ist derzeit im Kino zu sehen.

Quelle: VOLLTEXT 4/2015 (4. Dezember 2015)
Online seit: 3. Februar 2016