Vom Holz, das als Geige erwachte

Dennis Cooper legt mit Ich wünschte einen hypnotischen Roman über seine Liebe zu einem bipolaren Selbstmörder vor. Von Clemens J. Setz

Online seit: 3. Mai 2023

Ich würde so weit gehen zu behaupten, dass Ich wünschte der bewegendste Liebesroman ist, den ich je gelesen habe. Selten hat mich ein Stück Prosa so durchstrahlt, so erschüttert und beglückt. Dabei könnte man annehmen, ich sei auf seine Wucht gut vorbereitet gewesen. Denn es ist ja nicht das erste Mal, dass das seltsame Leben von George Miles, jener tragischen Figur, um die die Einzelteile dieses Buches kreisen, von Dennis Cooper in ein Stück hypnotischer, leuchtender Prosa verwandelt wurde. Die Beziehung zu dem unendlich komplizierten jungen Mann, der sich mit dreißig das Leben nahm, bildete bereits den Nährboden für den vielleicht ungewöhnlichsten Romanzyklus des späten zwanzigsten Jahrhunderts: den George Miles Cycle. Er besteht aus den Romanen Closer (dt. Ran), Frisk (dt. Sprung), Try (dt. Dreier), Guide (dt. Fort) und Period (dt. Punkt) und wurde 1986 begonnen, kurz nachdem Cooper von Amerika nach Europa übersiedelt war. In Amsterdam lebte er in einer Wohnung, deren Mieter kurz zuvor den Verstand verloren hatte und mit Gewalt in eine Psychiatrie gebracht hatte werden müssen. Der Wahnsinnige schrieb sich selbst fast jeden Tag Briefe nach Hause. Cooper lebte in ständiger Angst, dass der Mann eines Nachts aus der geschlossenen Abteilung ausbrechen und zu ihm kommen könnte.

Dennis Cooper © privat
Dennis Cooper: Prosa, die in den Glutkern des Universums gestarrt hat.

Schon im ersten Roman, Closer, begegnen wir einer Figur, die „George Miles“ heißt. Dieser geht, in einer seiner schwer fassbaren chaotisch-suizidalen Phasen, zu einem Mann namens Tom, der vom Sexualmord besessen ist und sogar selbst Snuff-Filme herstellt. George lässt sich auf Toms brutale Praktiken ein; er tut Tom sogar den Gefallen und stellt sich tot, während dieser mit ihm tut, was er will:

„George hörte eine leise Stimme. ‚Irgendwelche letzten Worte?‘, fragte sie. George war überrascht von der Frage. Wenn er angeblich tot war, wie sollte er dann sprechen? Andererseits, warum nicht? ‚Tote … reden … nicht‘, sagte er in seiner besten Gespensterstimme.1
Als Tom nicht lachte, biss sich George auf die Lippe. Das reichte. Er brach in Tränen aus. Er spürte eine Reihe Hiebe auf dem Rücken. ‚Keine Scheißgefühle, hab ich gesagt!‘, brüllte Tom. ‚Soll ich dich nun töten oder nicht?‘ ‚Nein‘, schluchzte George. ‚Ja, was machst du dann hier?‘ ‚Weiß ich doch nicht‘, plärrte George, ‚weiß ich nicht.‘“

In dieser grauenerregenden Szene, die mit Georges schwerer Verletzung endet, die er allerdings überlebt, wird ein Grundthema in Coopers Werk aufgespannt: die gerade im erotischen Rausch nie ganz abzuschüttelnde Gewissheit, dass andere Menschen letztendlich nur bewegliche Objekte sind, und die auf diese Einsicht folgende Ratlosigkeit, das verwirrte Wühlen im dargebotenen Körperinneren, die sich unheimlich über die eigene Anwesenheit stülpende Präsenz eines anderen. Was wird aus dem, was wir begehren? Warum entgleitet es uns?

Als Georges Mutter im Sterben liegt, besucht er sie im Krankenhaus und bemerkt an ihrem Bett ein rätselhaftes Objekt, in dem das Leben seiner Mutter konserviert scheint:

„Bei ihrem Kopf befand sich ein Video-Monitor. Ein kleines Licht zeichnete Berge quer darüber. George schaute sich das eine Weile an. Es war nicht sehr interessant. Es sah aus wie diese seltsamen Dinge, die auf dem Fernsehbildschirm erschienen, wenn das Programm eines Senders nachts zu Ende war. Versuchte es etwas mitzuteilen?“

Es erinnert fast an die Frage eines Lehrers aus einem Kunst-College: Was versucht uns dieser Monitor zu sagen? Hypnotisiert von der abstrakten Kunst des Herzmonitors starrt George eine Weile darauf. Dann, irgendwann, glätten sich die von dem kleinen Lichtpunkt ins Schwarze gezogenen Bergketten zu einer Linie. Und es dauert eine Weile, bis er begreift, was es bedeutet. Zuerst erinnert ihn die flache Linie an etwas anderes, nämlich an einen Stift, den sein Freund John übers Papier führte, um Georges Konturen festzuhalten. Erst auf Umwegen ergibt sich die letztendlich unverständlich bleibende Verbindung zwischen Objekten und Lebewesen, und der Übergang verliert sich in einem unendlichen, von Drogen gedämpften Hallraum.

Philippe, eine ähnlich von dem Mord an einem hübschen Jungen besessene Figur wie Tom, fantasiert in Closer darüber, Georges Körper aufzuschneiden: „Ich würde erwarten, jemanden zu sehen, der meine Fragen beantworten könnte, indem er mich durch ihn betrachtet. Er würde mir ähneln.“ Später heißt es: „Doch ganz gleich, wie sehr George jetzt voller Hieroglyphen steckte, es verhalf Philippe nicht zu größerem Durchblick.“

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Unabschüttelbar geistert, mal unter diesem, mal jenem Namen, die archetypische George-Miles-Figur durch den Zyklus. Aber schon beim Lesen des dritten Bandes wird klar: Es kann sich hier um keine direkte Darstellung eines realen Menschen handeln, ganz und gar nicht. Hier passiert etwas vollkommen anderes. All diese Jungen, diese melancholischen, schwer fassbaren Gebilde, diese – im gegenwärtigen Sprachgebrauch – wie NPCs, also non-playable characters, in einem Computerspiel reduziert agierenden Schattenpersonen, können kein Porträt sein. Aber was, wenn der Romanzyklus mit seiner atemberaubenden Mischung aus Intimität, Grenz-​überschreitung und Poesie, gar nie als solches gedacht war, sondern bloß die Atmosphäre festzuhalten versucht, in der diese merkwürdige Seele einst existiert hat? „Wer ist George in den fünf Romanen? Ziggy, George, Kevin, …?“ Eine solche Frage erscheint zunehmend absurd.

Und dennoch kreisen die Szenen immer wieder um den Wunsch, diese eine ferne Person zu erreichen. Oder, wenn man sie schon nicht erreichen kann, zumindest mit ihr auf metaphysischem Wege zu verschmelzen. In Guide, in dem ebenfalls eine Autorenfigur namens „Dennis“ spricht, erfahren wir:

„Ich weiß einen fantastischen Trick. Wann immer mir jemand unterkommt, den ich zuerst ficken und dann ermorden möchte, schließe ich die Augen und stelle mir vor, ich wäre in seiner Haut. Dann bringe ich ihn/mich dazu, herumzugehen, sich auszuziehen, zu duschen, zu wichsen, zu scheißen, zu pissen. Das entkräftet fast immer seine Schönheit, macht sie menschlicher, verleiht ihr eine gewisse Gleichgültigkeit und Unsichtbarkeit, und verbindet sie mit meinen eigenen körperlichen Bedürfnissen, die im Grunde alle mit bloßer Instandhaltung zu tun haben.“

Hier wird das metaphysische Erschmecken und Erfahren des Körpers der begehrten Person lediglich als Schutzzauber gegen das Überhandnehmen der eigenen Sexualmordfantasien dargestellt. Aber dieses „In-ihm-Leben“ erscheint mir als Spielart des allgemeineren Projekts dieser Bücher: die Überwindung der Körpergrenzen, das Erreichen des unerreichbaren Anderen.

Die extreme bipolare Störung verwandelt George vor seinen Augen in eine Art
„Non-Person“.

Die Figur „Dennis“ in Ich wünschte ist viel stärker ausgebildet als der Dennis der früheren Bücher. Er, der „Autor von George“ (denn für fast alle Leser der Welt ist George Miles ja genau das: