Nach Ithaka

Aus dem Tagebuch des Clemens J. Setz.
„Da fiel mir auf: ich stellte einen Rapport her. Genau das würde auch ein Terrorist versuchen.“

Online seit: 27. August 2019

16. April – Flug in die USA
Man wählt mich, so wie schon 2013, zur „selective“ aus, man verwendet nur diese Abkürzung. Deutet auf mich, sagt: „selective“. Diesmal ist es wahrscheinlich der Bart. Ich folge also einem Mann zur Sicherheitszone, dort werden alle meine Habseligkeiten gründlich untersucht. Man blättert kurz in allen Büchern, schaut sich die Melatonintabletten an, die ich im Mantel mit mir trage, usw. Auch meine Uhr kommt in ein eigenes kleines Analysekämmerchen. Dann der Sprengstofftest. Das Gerät schlägt aus, roter Alarm! Der Sicherheitsmensch schüttelt enttäuscht den Kopf, nicht schon wieder. Er kommt angetrottet, berichtet, was geschehen ist. Bitte hier hinsetzen. Nicht weitergehen. Nein, sitzen bleiben. Jetzt müsse man die Polizei rufen und das dauere immer ewig, so ein Scheiß. Er seufzt und geht zum Telefon. Ich muss warten. Die Situation ist sehr lustig und ich stelle einige Fragen. Man werde mich kurz verhören, dann werde der Test wiederholt. Ich kichere vor mich hin, aber beherrsche mich schnell, um nicht verdächtig zu wirken. Sprengstoff! Ob es denn öfter vorkomme, so ein falscher Alarm. Oh ja, dauernd, selbst Handcreme könne den auslösen. Die Sicherheitsdame flirtete heftig mit dem Sicherheitsherren, drehte sich hin und her und wollte alles mögliche von ihm wissen. Als er wegging, fragte ich sie, ob es irgendwelche Beschränkungen gebe, neben den Röntgenstrahlen aussendenden Scannern zu arbeiten. Nein, leider keine. Ich erzählte ihr, dass ich einmal mit Geigerzähler gereist sei und der habe wild ausgeschlagen. Da fiel mir auf: ich stellte einen Rapport her. Genau das würde auch ein Terrorist versuchen. Reden über ihre Sicherheit, sie besorgt machen. – Der Polizist erschien nach einer halben Stunde, verhörte mich kurz, und ich lachte wieder zu viel. Aber der wiederholte Test war negativ, also durfte ich fliegen.

Clemens J. Setz
Clemens J. Setz mit Fingerkrokodil

Im Flugzeug Lektüre von Edmund Machs Buchstaben Florenz. Auch eine Art Amerika-Experte. Es ist eine von ihm selbst signierte Ausgabe, die ich antiquarisch gefunden habe. Seine Gedichte bewegen mich während des Fluges so sehr, dass ich meiner Sitznachbarin davon erzählen möchte. Aber es stellt sich heraus, dass sie nur Serbisch spricht. In einer Mischung aus Slowenisch und Russisch sage ich ein paar Dinge, sie antwortet auf Serbisch und wir raten beide, was der andere meint. Sie zeigt mir Bilder von ihrem Kind, es ist noch ganz klein. Sie ist allein unterwegs in die USA, nach Atlanta, da sie einen Heiler (oder Arzt) besucht, der ihr mit einer schweren Krankheit helfen soll, an der sie leidet. Sie trägt ein Kopftuch. Zum ersten Mal allein unterwegs. Sie hat ein wenig Angst, sagt sie. Auch von ihrem Kind weg zu sein, das sei sehr schlimm. Ich kann nur durch Gesten mein Mitgefühl ausdrücken, da mein Vokabular versagt. Sie isst während der zehn Flugstunden nichts, zu trinken bestellt sie nur einmal eine Cola und trinkt die Hälfte. Auch auf die Toilette geht sie nie.

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Der allererste Text in Buchstaben Florenz, zeitgleich mit dem Start des Flugzeugs gelesen, haut mir ein Loch in die Stirn:

„Ich war am 3. 10. 1929 in Wien als Sohn eines Schlossers und einer Schneiderin geboren. Mein Vater arbeitete in einer Fabrik im 2. Bezirk. Er brachte eine schöne Stange Geld nach Hause. Im Ersten Weltkrieg hatte er die Charge eines Stabsfeldwebels. Auch der Kaiser kannte ihn. Da kam ich im 15er Jahr wie im Schatten auf. Nach 2 Stunden gab er mich weiter, ich konnte kein Wort sprechen. Meine Deutungen waren von Glück. Es dürfte im Mai 1915 gewesen sein. Im 29er Jahr kam ich wirklich. Damals im 15er Jahr konnte ich mich nicht allein erhalten. Heute gibt es schon amerikanische Schattengeburten, die sich allein erhalten. So weit die Sache, so weit die Sage.“

Von seinem Psychiater Leo Navratil gefragt, was Schattengeburten seien, hat Mach geantwortet: „Sie kommen von keinen Eltern und sind auf einmal da.“

Wie tief getroffen hat mich dieses „Nach zwei 2 Stunden gab er mich weiter, ich konnte kein Wort sprechen“. Der Vater hält die vierzehn Jahre zu früh ins Universum gerutschte Seele seines Sohnes in der Hand und versteht nicht. Warum ist sie gekommen? Was soll er mit ihr? Sie sagt ja gar nichts. Und dann das En Passant der amerikanischen Schattengeburten, die sich allein erhalten. Flugzeugfliehkräfte, Herzklopfen, Schiefstehen in der Luft. Der ferne Erdboden, meine Heimat. Ich sehe, was der Schatten vielleicht auch gesehen hat. Ich hoffe, dass ich auf meiner Reise den amerikanischen Schattengeburten begegnen kann. Man wird sehen.

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Eine Durchsage: „Aufgrund von Bestimmungen der US-Behörden ist jede Ansammlung von Personen in den Zwischengängen verboten.“ – Wenig später erzählt uns der Kapitän, wie hoch wir fliegen. „Wir werden auch noch weiter steigen, wenn das Flugzeug leichter geworden ist.“ Ich deute lange vergeblich an diesem Rätselwort herum. Wie denn leichter? Wird jemand abspringen? Erst nach vielen Minuten: ah ja, der Treibstoff. Ich hatte sonderbare Vorstellungen entwickelt von einem durch Höhenstrahlung auf atomarer Ebene immer substanzloser und substanzloser gemachten Flugzeug.

„Oktober die Therapie des Jahres“ (Edmund Mach).

Während stärkerer Turbulenzen beschäftigte man die Passagiere mit Einreiseformularen. Einer legte sogar seinen eben erst aus der Tasche geholten Kamm weg („Gnaden-Kamm“ nannte ich ihn), um sich den Blättern zu widmen.

„Er weidete sich an seiner Krankheit und starb“ (Edmund Mach).

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Fürchterliche Turbulenzen, alles fällt herunter, Menschen schreien. Dann Beruhigung, Durchsage des Kapitäns.
„Du siehst einen Film die Streif-Lichter sind vorbei / einen ekligen Film mit vielen Hüten einen Film / den man ausfressen muß – so ähnlich geht / es mit Bananen.“ (Edmund Mach)

Blick auf die Szenen des ringsum laufenden Till-Schweiger-Films, einige sind nur wenige Sekunden zeitversetzt, und es macht mich innerlich ganz spindelig und spelzig, ich will am liebsten durch die Reihen all dieser Menschen gehen wie durch ein Metronomenfeld und sie durch Hinterkopf-Knöchelstöße synchronisieren.

In den Zwischengängen gehen die Passagiere alle mit vorgebogenen Armen, als führten sie unsichtbare Kinder spazieren. Als eine Frau sich dann tatsächlich mit einem Kind nähert, erscheint in meinem Kopf das Wort turnpike. Was bedeutet es noch gleich?

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Am Bryant Park. Eine hängende Ampel warf ihren Schatten auf eine andere hängende Ampel.

Dieses seltsame mittelalterlose Land, wie es sich türmt.

Da grüßte ihn ein roter Basketball, der oben aus einem vollen Müllkorb ragte, und ihm fielen all die jungen Menschen mit leeren Händen auf, allen fehlten die Eistüten.

Ein Mann übergab sich direkt vor der NY Public Library und da war auf einmal eine Art Schornstein, von Bauarbeitern mitten auf die Straße gebaut, aus dem U-Bahn-Dampf (?) entwich.

Ein einzelnes Pixellämpchen einer grünen Ampel an der Madison Avenue flimmerte und ich rief innerlich nach einem Kind in einem Wald, das sich verirrt hatte, trotz seiner leuchtend grünen Mütze.

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Fahrt im Bus nach Ithaca. Das Wort turnpike klabauert weiter in meinem Kopf. Seltsame Stadtrandkulisse. Ferne hohe Gebäudesilhouetten wie an die Himmelskuppel geklebte Tixostreifen. Riesige Billboards gegen Abtreibungen („Babies feel pain in the womb“). Auf einem Bahndamm lag, Silhouette gegen weißlichen Abendhimmel, die Schaufel eines Baggers als gestrandetes Zauberboot.

Immer wieder schlief ich im Bus ein, sackte zusammen und wachte durch den Gravitationsruck wieder auf. Ich entwickelte eine gewisse Geschicklichkeit darin, meine Einschlafträume mit dem im iPod Gehörten (zuerst Günter Grass’ Hundejahre, ausschnittweise gelesen vom Autor selbst, dann eine englische Hörbuchversion von Das Todesjahr des Ricardo Reis von José Saramago) zu vermengen und regelrecht bewohnbar zu machen. Es geht nach einer Weile schon fast absichtlich, gewisse Motive kommen wieder und lassen sich verbinden, alles auf einer abstrakten und zugleich emotionalen Ebene. „So muss es der von uns planetar abgestrahlten Musik gehen, draußen im Weltall“, dachte ich. Und später, als ich vor Erschöpfung nur noch in der dritten Person vorhanden war: „Es ging ihm nahe, wie leicht nun alles ging.“

Als ich mein Abenteuer später erzählte, antworteten mir die Corneller Akademiker mit Geschichten über berühmte Männer, die „ebenfalls“ durch ein Gasleck umgekommen waren.

Sehr lange Fahrt durch den Bundesstaat New York in Richtung Westen. McDonald’s-Bögen leuchten aus Wäldern. An Dorfrändern geisterhaft bleich in der Dämmerung dastehende Häuserreihen, kein einziges Licht in den Fenstern.

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Im beginnenden Regen des frühen Morgens bewegten sich die Vögel in Zeitlupe. Auf einer Schaukel saß ein merkwürdig großes Kind. Dann stand da an einem offenen Fenster ein Mann, hinter dem sich ein anderer, ganz ähnlich aussehender Mann auf einem Hometrainer abmühte. Als die Sonne herauskam, war ein Bienenschatten auf der Hausmauer zu sehen. „Do NOT use this form if you are NOT an individual.“

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18. April – Ithaca, NY
Gestern Abend ging ich mit starken Kopfschmerzen schlafen und hatte merkwürdig pendelnde, schwingende Träume ohne Schwerpunkt. Am nächsten Morgen fiel mir deutlicher Gasgeruch auf. Besonders stark war er rund um den uralten Herd. Wüstenluftflimmern. Sofort öffnete ich alle Fenster und lief ins Community Center. Dort hörte sich eine gelangweilte Frau meine Beschwerde an. Sie schrieb die Uhrzeit und „gas leak kitchen“ auf einen Zettel, dann setzte sie sich wieder vor ihren Computer. Ich jammerte weiter und verlangte sofortige Reparatur. Draußen war es eisig, Schneewirbel und Wind, wo sollte ich jetzt hin. Die Frau sagte, jaja, schon gut. Da brüllte ich. Da ging es auf einmal und ein netter Mann namens Pete kam in meine Wohnung. Er fand das Problem, ein ausgegangenes „Pilotenlicht“ (das ewige Tempelfeuerchen, das in diesen alten Gasherdmodellen brennen muss). Fünf Minuten nachdem er gegangen war, jaulten überall draußen Sirenen. Ich lief in Socken in den Schnee hinaus. „This was a test“, verkündete eine Stimme aus den Lüften, „this was a test“. Als ich mein Abenteuer später erzählte, antworteten mir die Corneller Akademiker mit Geschichten über berühmte Männer, die „ebenfalls“ durch ein Gasleck umgekommen waren.

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Amerikanische Kleinstädte scheinen ständig „nach einem großen Angriff“ zu erwachen, am „Tag danach“. Je kleiner das Ortsgebiet, desto größer der Dynamo, das Herz in seiner Mitte: das War Memorial.

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Eine schwangere Frau beugte sich nach vor und berührte einen Hydranten.

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Ein buddhistischer Mönch, der sich im Sterbemoment wünscht, noch einmal niesen zu können. Aber die Luft ist rein und seine Atemwege frei.

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Ich war in der winzigen Dewitt-Mall, von der ich später erfuhr, dass sie früher eine Schule war, das Vorbild für jene, in die Dolores Haze in Lolita geht. An einem Deckenbalken stand dann auch „GYMNASIUM GIRL’S ENTRANCE“. Es befanden sich fünf oder sechs Geschäfte darin. Am Abend begegnete ich dem Straßenmagier William Metro, den ich von Youtube kenne. Er wirkte sturzbesoffen, wie an Deck eines Schiffes.

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Nach dem Abendessen mit den Fakultätsmitgliedern, die mich nach Cornell eingeladen haben, begegnen wir zwei Freunden der Professoren, es sind zwei Musiker, die gerade von einem Privatkonzert für einen alten Mann am Sterbebett kommen. Er sei Stunden von seinem Tod entfernt, erzählen sie, und sie hätten „Bach, Bach and more Bach“ für ihn gespielt.

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Die erdwespenleisen Stimmen der Bibliothekare.

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Gelb-räudige Schulbusse auf der Straße. Es regnet kleine weiße Kugeln bildenden, styroporartigen Schnee. Townhouses, abgeblättert und verandenbesessen. Parkplätze voller Pick-ups. „Christian Science Reading Rooms“. Flaggen auf jedem Hydranten. Aber das Amerikagefühl stellte sich erst dann ein, als ich weiße Kopfhörerkabel aus einem nassen Strauch hängen sah.

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Ein Babyschnuller liegt neben einem bunten Ölfleck zwischen den Zebrastreifen.

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Die zu Curling-Spielsteinen zusammengeballten Gänse frühmorgens am schneeverwirbelten Fußballplatz.

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Vom unermüdlichen Flockenwirbel draußen bekam ich frühzeitig Schlafsand in den Augenwinkeln.

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Vor einem Pick-up-Truck spielte eine Krähe mit ihrem eigenen Schatten. Ein Arbeiter stieg auf eine Leiter und der andere stand daneben und wurde mit jedem Schritt kleiner und kleiner. Ein Mann, der gerade aus einem Musikfachgeschäft trat, roch an seinen Fingerspitzen.

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Es lagen sehr viele weggeworfene Flaschen im Wald, aber es war, wie sich herausstellte, immer dieselbe Flasche (John Cage: „Every Coca Cola bottle is the Buddha“). – Ein Hydrant stand mitten auf einer Wiese. Bushaltestellen als einzige Arbres-du-Ténéré weit und breit. In der Nähe des Regionalflughafens von Ithaca ein stiller Moment unter lebhaften Bäumen. Dort lag auch ein umgestürzter Basketballmast auf einem Parkplatz. In dem sehr hellen Licht, das gemütsträge, innerlich ruhig und geistersichtig macht, erschienen vergangene Formen in der Luft. Es waren Tiere dabei, aber auch niedrige menschliche Gestalten, ich ging rasch weiter. Auf der schnurgerade zum Horizont führenden Landstraße kamen mir die Autos entgegen und säbelten den Kopf meines Schattens ab.

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Die heilsam braune Farbe zweier Pferde neben einem Baum, der die Form einer gewaltigen Schlammeruption auf der sumpfigen Heide hat (Gedanke an Wittgensteins Vermutungen über die Unmöglichkeit von „braunem Licht“ in Über die Farben).

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Mein langer Gang zwischen den schicksalhaften Vorstadthäusern. Die überall offen stehenden Garagen und die teils gewaltigen Hohlräume unter den Verandatreppen. ‚Nichts hier braucht mich, ist für mich, verlangt nach mir‘, dachte ich, und dann hingen da überall Schaukeln an riesigen Birken.

 

Clemens J. Setz wurde 1982 in Graz geboren, wo er heute als Übersetzer und freier Schriftsteller lebt. Für sein Werk wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Preis der Leipziger Buchmesse, dem Wilhelm-Raabe-Literaturpreis und dem Berliner Literaturpreis. Zuletzt erschienen im Suhrkamp Verlag Glücklich wie Blei im Getreide (2015), Die Stunde zwischen Frau und Gitarre (2015), Bot. Gespräch ohne Autor (2018) und Der Trost runder Dinge (2019). Sein „Tagebuch“ erscheint fortlaufend als Kolumne in VOLLTEXT.

Quelle: VOLLTEXT 3/2018 – 8. Oktober 2018

Online seit: 27. August 2019