Wirklich neue und interessante Zeiten

Aus dem Tagebuch der Clemens J. Setz

Online seit: 30. April 2020

4. Juli 2019: Im Zug nach Berlin, wie meistens, kein Sitzplatz, also sitze ich im Gang auf dem Boden zwischen Fahrrädern. Nach einer Weile tippe ich in der Datei einer Kurzgeschichte den Satz „In einer Buchsbaumkugel lärmten Spatzen“. Oh Gott, ich bin so ein braver Prosamichel. Ein Pfadfinderhosen tragender Prosabub, wursthautprall seine Knie, vergnügt naturrouge seine Wangerln, ein Krapferl an Ansehnlichkeit sein Gesicht, ein schnörkelloser Komödienstadel sein Scheitel, in seiner Hand eine Rassel, oh ja.

PARABEL: Der Dichter Valery Larbaud (1881–1957) beherrschte sechs Sprachen perfekt und betreute die französische Übersetzung von Joyce’ Ulysses, aber nach einem Schlaganfall wurde sein Sprachzentrum beschädigt und er konnte die letzten zwanzig Jahre seines Lebens nichts mehr sagen, nur einen einzigen Satz: „Bonsoir les choses d’ici-bas“. Also etwa: „Guten Abend, ihr Dinge hier unten.“ Sein Innenleben blieb während der ganzen Zeit intakt. Er wiederholte also immer wieder den selben Satz, so wie der Rabe in Poes Gedicht auf alle Fragen nur mit dem Wort „Nevermore“ antwortet, und mal passte der Satz sehr gut zu einer ihm gestellten Frage, mal überhaupt nicht. Gelegentlich schüttelte Larbaud beim Intonieren seines Allzwecksatzes den Kopf und lachte, weil die Kombination mit der Frage eines Besuchers besonders reizvoll oder absurd ausfiel. Erst nachdem sein Verleger Gaston Gallimard ihm immer wieder Larbauds eigene literarische Werke zur Prüfung vorlegte, gesellte sich ein zweiter, ein neuer Satz dazu: „Pas bon“. Nicht gut.

Ein Jogger rennt mit Blaulicht auf dem Kopf. Eine Frau mit Narkolepsie, sie trägt einen Helm, ist gerade umgesunken und schläft.

Die Mauer des Hauses, in dem sich meine Berliner Wohnung befindet, versucht die ganze Zeit, etwas zu sagen. Einspeisung, sagt sie. Haupttreppe. Löschwassereinspeisung. Steigleitung trocken.

Ein Feld, elektrifiziert von Grillen, Gelärm, dunkelgelb, und dahinter in weiter Ferne das lautlos landende Flugzeug.

„The lake lapped at itself like a sleeping dog.“ (Edmund White)

6. Juli 2019: Ich lief zum Trümmerberg „Insulaner“, quer durch den Steglitzer Friedhof, in dessen Mitte ein wunderlicher roter Turm gedeiht. Auch die Sitzbänke sind aufreizend rot, fast fleischig. Ein Mann stand über einem Straßengitter und stampfte irgendetwas durch das Gitter in die Unterwelt. Er machte winzig kleine Stapfbewegungen und hob dabei links rechts links rechts hampelmannhaft die Hände, um das Gleichgewicht zu wahren. Dann stand ich lange an einer Kreuzung und es läuteten, da Samstag war, die Glocken von allen Kirchtürmen. Ich schaute in die Richtung, aus der das Geläut kam, sah dort aber nur die Leuchtziffern der Benzinpreise an einer Tankstelle.

Ein sommerlich ausgetrockneter Bach, und darin, nun sichtbar, ein weggeworfener Rollstuhl, und aus seinem Rückenpolster quellen seegrasartig getrocknete Kunststofffäden.

7. Juli 2019: Langer Spaziergang bis zum Bahnhof Südkreuz. Wunderlich entseelte Stadtlandschaft. „Kolonie Vorarlberg“, ein Kleingartengehege. „Grazer Damm“. Ein Jogger rennt mit Blaulicht auf dem Kopf. Eine Frau mit Narkolepsie, sie trägt einen Helm und ist gerade umgesunken und schläft. Ich berührte sie und sprach sie an, da erwachte sie kurz, wusste aber nicht recht, was wie wo, und schlief weiter. Erst, als der Zug kam, stand sie plötzlich entschlossen auf, kramte ihre Sachen zusammen und stieg ein.

Mit dem Zug nach Leipzig. Man steht dicht an dicht, da viel zu viele Passagiere.

Katharina holt mich vom Bahnhof ab und wir gehen in das Grassimuseum. Völkerkunde, Design, Musikinstrumente. Eine Frau in einem Musiksaal übt auf einem Cembalo eine äußerst triste Melodie, vielleicht etwas von Couperin, jedenfalls spielt sie sie humpelnd und mit immer neuen Anläufen. Eingesperrte Flöten, meterlang. Serpenthörner. Clavichorde. Dann weiter zu den Weltreligionen. Katharina erklärt mir, was es mit dem Buddha wirklich auf sich hat. Ich wusste das meiste gar nicht. Und ich vergesse alles kurz darauf wieder. Eine dröhnende, verstörende Christusskulptur aus dem 15. Jahrhundert, armlos und auch ohne das Haar, das ursprünglich, so berichtet das Erklärschild, aus einer Echthaarperücke bestand.

Ich fühlte mich von dem vielen Fleisch geläutert und versöhnt mit der Welt.

Dann noch Spaziergang auf dem Johannis-Friedhof. Davor eine Freiluftbühne, wo offenbar an diesem Abend ein Stück von Maeterlinck gegeben wird.

Hinterher Abendessen mit Katharina und David. Ich fühlte mich