Piran, Juni 2016

Aus dem Tagebuch des Clemens J. Setz

Online seit: 26. Mai 2020

Ein kranker Mensch sagte zu mir, er würde gerne all jene, um die er sich nun nicht mehr kümmern kann (Katzen, senile Mutter) wie Lampen ausschalten – „switch them off one by one“ – damit er sie, von seiner verhinderten Position aus, zumindest für immer in Sicherheit wüsste.

Was ich für den Einsatz einer Geige in einem über Kopfhörer angehörten John-Cage-Stück (Atlas Eclipticalis) hielt, war eine Wespe, die hinter meinem Kopf schwebte.

„Weißt du, wann man sich wirklich alt fühlt? Wenn das eigene Enkelkind das erste CT bekommt.“ (Verhört, es war eigentlich von einer CD die Rede.)

Eine erklärende Pantomime machen, aber niemand hat sie gesehen, eine Art verpasstes Ganzkörper-Highfive.

Ein seelenlos-automatisiert winkendes Kind in einem Auto, wie ein Präsident auf Staatsbesuch.

* * *

2. bis 5. Juni 2016

In Slowenien für ein paar Tage. Ausrutschende Tauben am nassen Ufergehsteig von Piran. Spinnweben voller Pollen. Das Meer: großes Getue. Immerzu Kreuzfahrtschiffe in der Ferne,  wie riesige Luxuslampen nachts, kaum vorstellbar, dass sie Menschen enthalten. In jedem Restaurant exakt dasselbe Essen. Enge, verwinkelte Gässchen, charmant abblätternde Fassaden, viele Stromleitungen, die sich an bestimmten Stellen majestätisch zu mysteriösen Einheiten ballen. In Innenhofwinkeln und an Gässchenkreuzwegen zum Trocknen aufgehängte Wäschestücke, die heimlichen Herrscher. Die halbe Stadt ist vollgekritzelt von den Meldungen eines seltsamen Poeten. Er fragt Sachen wie „Wie oft muss ich sterben, um aufzuhören?“ Zählerkästen und alte Plakate sind sein bevorzugtes Medium. Ich machte Fotos seines Geschreibsels, auf einem hatte ein Kritiker breit FUCK OFF gepinselt. Er muss den Leuten hier sehr auf die Nerven gehen.

Ich gerate vor den Muscheln allmählich ins Flüstern und Murmeln, berichte ihnen silbenweise von der schwierigen Zeit, die ich gerade erlebe.

Direkt beim Hotel eine Straße, die nach dem Dichter Srečko Kosovel benannt ist. Es gibt in ganz Piran nicht einen einzigen Buchladen. Nachtlang das unglaubliche Geschrei deutscher Touristen, die keinen Schluck Bier trinken können, ohne ihn lauthals durch einen Countdown einzuleiten. Beim Frühstück dann sehen wir sie: großgesichtige rotglänzende Männer, brüderlich glänzend der Blick, ein jeder mit Trillerpfeifchen um den schwitzenden Hals. Vielleicht eine Schiedsrichter-Convention. Dazu braunverbrannte Frauen mit zu tiefen Stimmen.

Abends schwappen Quallen an Land und vertrocknen. Nein, besser: Abends schwappen uns Quallen an Land. Es ist ohnehin viel zu wenig Dativ in unseren Empfindungen. Ich rappe die ganze Zeit zur Fahrstuhlmusik. Sarah