Mein Sommer im Volapük

Aus dem Tagebuch des Clemens J. Setz

Online seit: 12. November 2020

Der Turmalin ist dunkel, und was
da erzählt wird, ist sehr dunkel.
Adalbert Stifter

4. 5. 2015

Heute Vormittag höchst seltsame Entdeckung auf dem Grazer Zentralfriedhof. Ich hatte Johann Martin Schleyers Volapük-Wörterbuch zum Studium mit, aber kam nicht zum Lesen, denn an der Wand einer Scheune, die an ein Feld mit neueren Gräbern angrenzt, hängen, teilweise schon regendurchweicht und wetterzerfetzt, angeheftete Briefe, alle adressiert an Menschen mit dem Nachnamen „Roth“. Ich habe Fotos davon gemacht. Es handelt sich ausschließlich um Werbebriefe wohltätiger Organisationen. Einer ist an einen Herrn Alfred Roth gerichtet, der, wie der Briefkopf verrät, in der Hermann-Löns-Gasse 4/6 wohnt, vom 18. März 2015. Der Brief ist von Licht für die Welt. Auch ein Brief der Roten Nasen an einen Herrn Siegfried Roth, wohnhaft Mauergasse 27/1, hängt dort (vom 23. 2. 2015). Diese Briefe sind mit Reißzwecken an der Holzwand befestigt und blicken sozusagen auf die Gräber. Ein Besucher kommt zwangsläufig an ihnen vorbei. Mit der Zeit werden sie von Wind und Regen unkenntlich gemacht werden.

Ich machte noch ein kurzes Video der eigenartigen Erscheinung. Alfred und Siegfried Roth wohnen unweit des Zentralfriedhofs, in benachbarten Straßen. Zu Alfred Roth existiert ein entsprechender Eintrag im Telefonbuch. Ob es Tote sind, die hier irgendwo liegen und zu denen – warum nur ? – irgendjemand die Werbebriefe, die sie nun verpassen, bringen wollte? Ich suchte eine Weile unter den Gräbern der unmittelbaren Umgebung, aber konnte keines mit dem Namen Roth finden. Die nächste Approximation war der Name Cohn, ein schon etwas älteres Grab. Die Vögel lärmten in den Bäumen, und ich geriet in eine etwas geduckte, krummbeinige Stimmung. Außerdem sah ich zeitweise kaum etwas.

Menschen erscheinen zu einem Begräbnis, versammeln sich ums Grab, einer davon zieht, ebenso gramgebeugt schreitend wie die anderen, an einer Schnur einen kleinen Schlitten nach.

Wenn zu Mittag bei uns die Glocken läuten, kommt oft ein Kind im Haus gegenüber auf den Balkon und steht da, Hände am Geländer, am Bug seines Schiffes.

Menade bal püki bal. Der Volapük-Wahlspruch, „Einer Menschheit eine Sprache“.

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7. 5. 2015

Alte Fotografie von Johann Martin Schleyer an der Harfe. Sein Bart ist so groß, dass es – vor allem jetzt in der Erinnerung – unweigerlich so aussieht, als würde er auf seinem eigenen Bart die vertracktesten Harfenakkorde greifen. Lernfortschritt im Volapük eher mickrig, eigentlich ganz auf der Stelle tretend. Die Grundwörter sehen alle gleich aus, immer so Dreibuchstabeneinheiten, immer Konsonant-Vokal-Konsonant, mel böd cil mit bom bel kop mun,1 genau wie die Figuren im Spätwerk von Beckett (z. B. Wie es ist). Ganzen Tag Flecken im Gesichtsfeld und allgemeine Beschwerden, Drehschwindel und Kurzatmigkeit, alles Scheiß. Schlaflose Nächte.

Die erste erfolgreiche Weltsprache der Geschichte wurde von Schleyer übrigens auch durch ein nächtliches Ereignis des Jahres 1879 ersonnen. Da packte ihn die göttliche Inspiration (der „Genius“, wie er schreibt), und bumm war alles da. Kid jön kap bim blod buk.2 Aber so schwer mir das Lernen fällt, ich liebe diese verwortakelten Wörter. „Lol“ ist das Wort für „Rose“.

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7. 5. 2015

Die Wochentage auf Volapük sind so super:

mudel
tudel
vedel
dödel
fridel
zädel
sudel

Heute ist dödel.

Gespräch mit einem Freund über misshandelte Tiere. Er sagte: „Du merkst es dann, wenn Hunde nur schauen, wo sie eigentlich bellen sollten.“ Außerdem seine Erwähnung eines Vogels, der so lang in einem Käfig gehalten wurde, „bis ihm die Stimme um eine Oktave tiefer fiel“.

Auf der Party lagen in der Küche einige kleine Matchboxautos im Waschbecken. Jedes Mal, wenn jemand kam und den Wasserhahn betätigte, wurden sie nass und veränderten ganz leicht ihre Stellung zueinander. Flen, dachte ich bei ihrem Anblick seltsamerweise. Flen, flens. Volapük für Freund, Freunde.

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21. 5. 2015

Ich gab einem Mann, der beim Hofer-Parkplatz an der Keplerbrücke mit einem Hund saß und bettelte, fünf Euro, und er erzählte mir seine entsetzliche Geschichte. Er sprach sehr schnell, er entschuldigte sich zwischendurch, streifte seinen gestreiften Pullover in die Höhe und zeigte seinen künstlichen Darmausgang. Ein weißer Beutel. Auf ihm stand LOL. Ich muss darüber wohl irgendwie überrascht ausgeatmet oder geschnaubt haben, denn er packte ihn schnell wieder weg und sagte: „Ja, da lachen immer alle.“ Ich schämte mich. „So viel Scherereien, obwohl der Krebs eigentlich längst weg sein sollte!“, sagte er aufgeregt. Obwohl sie ihm eigentlich versprochen, ja, „auf den Kopf zugesagt“ hätten, dass der Krebs weggehen würde von der Chemotherapie und der Bestrahlung. Er hatte sogar seine Arztbriefe dabei, auf einem sah man briefmarkengroße Bilder einer Koloskopie. Da, diesen Krebsklumpen hier hätten die Ärzte weggeschnitten. Und jetzt müsse er schon wieder ins Krankenhaus, so ein Scheißdreck. Und nicht mal Geld für die Miete. Er habe früher, wie er noch Geld gehabt hätte, für die Krebshilfe gespendet. „Aber des merkst selber am End goa net, des merken nur ondare.“ Er erzählte mir, dass er anfangs allein gesessen sei, aber da seien alle „gnadenlos vorbeigegangen“. Dann habe er, weil er ja nicht ständig allen seinen Bauch mit den offenen Wunden und dem künstlichen Ausgang präsentieren könne, erst recht nicht im Winter, sich angewöhnt, die Arztbriefe mitzuführen, in einer Klarsichtfolie. Aber die Leute blieben auch da nicht stehen. Deshalb jetzt die Hündin. Und der gehe das Fell aus, da, man sehe es. Er schüttelte die Hand aus, und da erst sah man das Sonnenlicht, in den schwebenden Hundehaaren. Ich hatte einen Seilknoten im Hals. „Den Popo haben’s mir z’sammengnaht hinten, do is koa Loch mehr, und sitzen konn i aa net drauf, es kummt gölber Schleim aussa, sunst nix. I muass eh boid wieda ins Kronknhaus, zum Aufnahn. Es nässt olles voll.“ Wir sprachen noch eine Weile darüber, wie ungerecht alles abläuft. Ein Leben lang gespendet für die Krebshilfe, und jetzt das. Während er sprach, bewegte er seine Beine, und ich sah, wie unglaublich dünn sie waren. Was ich im ersten Augenblick für sehr große Ohren gehalten hatte, war lediglich ein Effekt der extremen Abmagerung. Am Ende zeigte er mir eine Stelle an seinem Bein, die schwarz war und seinen Worten zufolge nicht gut roch. Die müsse sich der Arzt natürlich auch anschauen, aber der habe ja immer nur ein paar Minuten Zeit für ihn, also komme man gar nicht dazu, alles anzusprechen, was einen plage. Sicher, es gebe viele Patienten, aber trotzdem. „Ja, trotzdem“, sagte ich. „Da, schau“, sagte er und zeigte mir noch einmal die Arztbriefe und Befunde. „Was wird jetzt mit mir?“ Ich wusste die Antwort, er wohl auch, aber man hatte sie bislang noch nicht vor ihm laut ausgesprochen. Vielleicht saß er zum Teil auch deshalb hier. Es gab Fremde, die ihm möglicherweise die Wahrheit sagen würden. Aber ich konnte es nicht. Ich sagte irgendwas über … Nein, ich weiß gar nicht mehr, was ich gesagt habe. Ich weiß nur noch: Ich verabschiedete mich von ihm durch eine alberne Hand-aufs-Herz-Geste, die er lachend imitierte. „Ich bin so müd“, sagte er. „So, so, so müd.“ – Als ich wenige Minuten später beim Marktstand mein Mittagessen kaufte, kamen mir die Tränen, und der Verkäufer merkte es und schenkte mir ein kleines Stück Kuchen. Aber er fragte nicht nach, was los sei; ein sehr guter Mann. Und ich schaffte es, mit dem Weinen sofort wieder aufzuhören, da ich merkte, dass es nur eine Schutzfunktion meines Nervensystems gewesen war, „hinterher wirst du dich besser fühlen“. Aber wozu sich besser fühlen.

Sie schaute mich an mit dem korrekten Blick: ein vollkommen kranker Mensch. Einer an der Kippe.

Später sah ich, wie eiskalt ich innerhalb weniger Stunden abzukühlen imstande bin. Denn ich schlug,