Alles dies weiß ich seit Jahren, und wenn ich wüßte, wen ich für dieses Wissen verantwortlich machen könnte, würde ich ihn umbringen. (Wir töten Stella)
Jeder hat wohl irgendwann sein Wand-Erlebnis. Meines fiel in die Zeit meines Studienbeginns, eine besonders düstere, hoffnungslose Zeit. Ich wohnte mit jemandem zusammen, dessen Depressionen und Panikzustände unseren ganzen Alltag bestimmten. Tage voller Selbstverletzung, schlaflose Nächte. Ich lebte dahin unter der immerwährenden Angst vor Selbstmord. Angst, dass ich ihn nicht würde verhindern können. Tagsüber saß ich oft im Mathematik-Institut der Uni, und da, mit schon weitgehend taub gewordenen Nerven, las ich eines frühen Morgens das Buch Die Wand, mein erstes von der mir bis dahin unbekannten Marlen Haushofer. Ich war vollkommen verblüfft. Endlich eine normale Geschichte. Dass es so was gab! Ich konnte mein Glück kaum fassen, las das Buch gleich noch einmal, langsamer und aufmerksamer. Es stimmte: Hier war jemand, die eine vollkommen Sinn ergebende Geschichte erzählen konnte, eine wie aus dem Alltag. Dagegen schrieben die anderen immer bloß irgendwas über Untreue und Identität und Begierde, was immer das für Hirngespinste sein mochten, oder vom Kinderkriegen, von Ehe, von Reisen durch ferne Länder, alles weltferne Science-Fiction. Martin Walser, Philip Roth, Haruki Murakami, Zeruya Shalev, Cees Nooteboom. Was ging mich deren Phantastik an? „Das sensible Porträt einer Ehe“. Was sollte das? „Eine humorvolle Coming-of-age-Geschichte“. Warum schrieb jemand so was? Was hatte das mit dem realen Alltag zu tun?
Mit schon weitgehend taub gewordenen Nerven las ich eines frühen Morgens Die Wand. Ich war vollkommen verblüfft. Endlich eine normale Geschichte.
Die Wand hatte dagegen direkt und unmittelbar mit dem Alltag zu tun, auf praktisch jeder Seite. Eine Frau wird auf einem Berg von einer mysteriösen kreisrunden durchsichtigen Wand eingeschlossen, hinter der der Rest der Welt in der Zeit erstarrt wirkt. Ja!, dachte ich. Genau. Die Autorin schrieb, wie ich bald herausfand, im Leben kein zweites Buch wie Die Wand, und welch ein Glück, denn wie leicht hätte man diese einzigartige Vision durch Wiederholung und Variation entkräften können. Ich las in den Jahren danach alles, was sich von Marlen Haushofer auftreiben ließ, mit wachsender Begeisterung, bis ich das Herz ihres Werks entdeckte: die gesammelten Erzählungen. Der bekannteste Text daraus dürfte die inzwischen auch verfilmte Novelle Wir töten Stella sein, der schwindelerregende Bericht einer Frau, die sich am Selbstmord der jungen Geliebten ihres Mannes mitschuldig weiß. Die Ehefrau glaubt, uns in erster Linie das Psychogramm ihres rücksichtslosen Mannes zu liefern, aber beschreibt zugleich die selbst ihr vollkommen rätselhafte Anpreis- und beinahe schon Zuhälter-Vermittlerrolle, die sie in der verhängnisvollen Affäre spielte, als wäre sie, trotz aller inneren Auflehnung, eine Art ferngelenkter Roboter des patriarchalen Systems. Überhaupt schrieb diese Autorin auffallend viele Geschichten, in denen einer Figur der eigene Kopf, die eigenen Gedanken zum Todfeind werden. Häufig sind es die Träume, die auf eigene Faust etwas Finsteres auszuhecken oder, auch das kommt vor, eine uneinnehmbare autonome Zone im Inneren eines Menschen zu bilden beginnen (siehe etwa die paradiesische Traumvision in der frühen Erzählung Die Vergißmeinnichtquelle).
Neulich reagierte ich tief empört, als ich in einem Artikel über den nach einem Schlaganfall halbseitig gelähmten Jazzpianisten Keith Jarrett lesen musste, dass dieser nicht einmal mehr im Traum mit seiner linken Hand Klavier spielen kann. Was für eine unglaubliche Frechheit, dachte ich – und es ist genau diese Art von existenzieller Frechheit, die den Figuren bei Haushofer häufig vonseiten der Träume zustößt. So etwa dem Fräulein Klara in Die Kinder, das durch einen gestaltlos bleibenden bösen Traum aus der Idylle gerissen und von der plötzlichen Gewissheit befallen wird, dass die einmal pro Woche auf Besuch kommenden Kinder ihre Zuneigung immer nur perfekt spielen, also nur ironisch lieb zu ihrer Tagesmutter sind. Dieser einmal erlebte Verlust der Sicherheit, die Vertreibung aus dem Zustand der Unschuld, ist immer unumkehrbar.
Besonders elektrisierend ist für mich die Lektüre der frühen Erzählungen, denn in den ersten Texten einer Meisterin wie Haushofer sieht man vor allem das Ausprobieren von Freiheiten, nicht so sehr von Inhalten. Denn die Inhalte finden sich schon früh bei ihr, harte, romantiklose Eheszenen, die Leidensexistenz ständig übergangener Frauen, und immer wieder Szenen mit Frauen in Krankenzimmern. Eine hochmodern anmutende, geradezu an Meisterinnen wie Joy Williams oder Taeko Kōno erinnernde Geschichte wie Rosutta steht neben zärtlicheren Erzählungen wie Der Hirschkäfer, in der das titelgebende Insekt von einer Frau benutzt wird, um Eintritt in ein Lazarett zu erhalten: Die jungen Soldaten, allesamt noch Kinder, lassen sich damit nämlich wunderbar beschäftigen und ablenken. Das erinnert in seinem Optimismus beinahe an Peter Handkes Novelle Lucie im Wald mit den Dingsda, wo ebenfalls eine anmutige Naturerscheinung, in diesem Fall Pilze, die Menschen besänftigt und sogar von einem bereits gefällten Todesurteil Abstand nehmen lässt. Aber unabhängig von dem Grad an Optimismus ist in allen frühen Texten diese einzigartige Bildschärfe zu bewundern, und das blitzende, floretthelle Zuschlagen einer Pointe an den immer am wenigsten erwarteten Stellen. Selbst in einer Geschichte wie Der Mann und sein Hund, eine auf der Oberfläche recht übertrieben wirkende Groteske, in der ein Mann immerzu nur quält und foltert und totschlägt, um sein eigenes Leben auszuhalten, lässt sich das Fasziniertsein der Autorin mit den tieferen Geheimnissen der Existenz nicht unterdrücken. Am Ende wird man, trotz der ausweglos zynischen Grundgestalt der Geschichte, vollkommen umschlossen von der ungeheuren Untröstlichkeit und Gleichförmigkeit dieses knapp beschriebenen Lebens, fast wie in Konstantinos Kaváfis’ berühmtem Gedicht Die Stadt, in dem es heißt:
Neue Orte wirst du nicht finden, nicht finden andere Meere. / Die Stadt wird dir folgen. In denselben Straßen / Wirst du herumgehen. In denselben / Nachbarschaften wirst du altern / Und in eben diesen Häusern wird / dein Haar weiß werden. / Immer wirst du in dieser Stadt ankommen. / Auf das Woanders – hoffe nicht – / Kein Schiff gibt es für dich, keinen Weg. / So wie du dein Leben hier ruiniert hast, / in dieser kleinen Ecke hier, hast du es auf / der ganzen Erde verdorben.
Was in dem Gedicht die Stadt ist, ist bei Haushofer die sinnlose Gewaltrichtung eines Menschenlebens. Und oft richtet sich diese gewaltsame Tendenz sogar auf das Innere, wie etwa in der gespenstischen Erzählung Die Ratte. Es ist eine von mehreren Geschichten, deren Hauptfigur eine Frau im Krankenhaus ist, die, vermutlich des Leidens müde, etwas Ungeheuerliches, von niemandem Bemerktes wagt. „Besucher, Ärzte, Schwestern und gelegentliche Schmerz-
anfälle, die sie von ihrem Vorhaben abhielten“ abwartend, arbeitet sie daran, rein durch Gedanken ihr Leben, das heißt die Arbeit ihres immer noch schlagenden Herzens („dummes verräterisches Ding“), zu beenden: „Nachts, wenn endlich Ruhe sich über die langen Korridore senkte, gelang es ihr am besten, sich zu konzentrieren und kurze, strenge Befehle in sich hineinzusenden, dorthin, wo ihr zu Unrecht gestärktes Herz ängstlich schlug.“ Fast eine ähnliche Erzählsituation wie in Die Wand, bloß auf einer inneren, molekularen Ebene. Ein altes Problem der Menschheit: Warum kann man durch Gedankenkontrolle so wenig auf Erden steuern? Ja, im besten Fall bewegen sich die Glieder und man kann blinzeln, aber warum hört die Blutzirkulation nicht auf, wenn man es sich nur intensiv genug wünscht? Schon Novalis hielt diesen Makel für etwas, das es zu überwinden gelte: „Unser ganzer Körper ist schlechterdings fähig, vom Geist in beliebige Bewegung gesetzt zu werden. Die Wirkungen der Furcht, des Schreckens, der Traurigkeit, des Zorns, des Neides, der Scham, der Freude, der Phantasie etc. sind Indikationen genug. Überdem aber hat man genugsam Beispiele von Menschen, die eine willkürliche Herrschaft über einzelne, gewöhnlich der Willkür entzogene Teile ihres Körpers erlangt haben. Dann wird jeder sein eigner Arzt sein, und sich ein vollständiges, sichres und genaues Gefühl seines Körpers erwerben können, dann wird der Mensch erst wahrhaft unabhängig von der Natur, vielleicht im Stande sogar sein, verlorne Glieder zu restaurieren, sich bloß durch seinen Willen zu töten und dadurch erst wahre Aufschlüsse über Körper, Seele, Welt, Leben, Tod und Geisterwelt zu erlangen. Es wird vielleicht nur von ihm dann abhängen, einen Stoff zu beseelen. Er wird seine Sinne zwingen, ihm die Gestalt zu produzieren, die er verlangt, und im eigentlichsten Sinn in seiner Welt leben können. Dann wird er vermögend sein, sich von seinem Körper zu trennen, wenn er es für gut findet; er wird sehn, hören und fühlen, was, wie und in welcher Verbindung er will.“
In jener hoffnungsvollen Ausweglosigkeit, die eine von Marlen Haushofers Grundmelodien beim Erzählen gewesen zu sein scheint, ist diese Fantasie vermutlich der größtmögliche Trost. Ihr Thema ist immer wieder die Vertreibung aus einem Paradies, aus einem Zustand der Unschuld. Und selbst in den frühesten Geschichten, in denen sich das Talent der Autorin noch ungestüm selbst ausprobiert, waltet der hässliche, grausame Engel der Unumkehrbarkeit. Oft ist es irgendein entsetzliches Wissen, das ein Mensch sich wie eine Verwundung einfängt, oder eine einmal in Gang gesetzte Entweihung oder ein Hineingeraten in unerklärliche Umstände oder eine niemals mehr tilgbare Schuld. Und wie nun weiterleben?
Ein solcher Moment verlangt eine Autorin, die über eine an den paradoxesten Stellen durchlässige und an ebenso paradoxen Stellen hart gepanzerte Seele verfügt.
Vielleicht ist gerade deshalb meine Lieblingserzählung Das fünfte Jahr, denn sie handelt auf praktisch jeder ihrer perfekt komponierten Seiten von einer fortwährenden Vertreibung aus dem Paradies der frühen Kindheit. Die junge Heldin Marili, die nach dem Tod ihrer Eltern bei den Großeltern auf einem Bauernhof lebt, erlebt ihr fünftes Lebensjahr. Welch eine berauschende Dichte an atmosphärischen Details, welche Reichtümer und Wunder, auf so knapp bemessenem Raum, und neben den Reichtümern und Wundern immerzu auch der Abgrund und das Grauen, das Hineingetauchtwerden in ein unbegreifliches Universum. Und natürlich walten auch hier wieder die Träume, vor allem als Botschaften einer eigentümlich feindseligen Welt, in der es, im Fall von Marili, offenbar in erster Linie darum geht, dass andauernd Kröten gequält werden müssen. Warum träumt Marili so oft von der gequälten Kröte? Wer ist die Kröte? Und warum sind Träume am Ende immer nicht wahr? Wo versteckt sich ihr Inventar, wenn wir aufwachen?
Als die Sonne nach langer Abwesenheit wieder ins enge Tal fällt, wird das im Haus gefeiert. Es gibt Most und süße Rosinen. Dem folgt eine der zartesten Szenen in Haushofers Werk: Der alte gehörlose Knecht Kajetan, der auf dem Hof der Großeltern gehalten wird, äußert einen dem Festtag angemessenen Wunsch: „‚Jetzt soll halt die Frau singen‘, sagte er, und man konnte ihn sehr schlecht verstehen, weil er keinen Zahn mehr im Mund hatte. ‚Aber Kajetan‘, meinte die Großmutter, ‚das ist doch längst vorbei. Ich kann nicht mehr singen, und du kannst mich nicht mehr hören.‘“
Man achte auf dieses absolut präzis verwendete und dadurch so unverstellt stark zu Herzen gehende Wort „halt“ in Kajetans Rede. Am Ende singt die Großmutter doch für ihn: „Kuckuck, Kuckuck, ruft’s aus dem Wald.“ Und der alte Knecht betrachtet ihre sich bewegenden Lippen und nickt bei jedem Wort mit. Ein solcher Moment misslingt den meisten Schreibenden. Sein Gelingen verlangt eine Autorin, die über eine an den paradoxesten Stellen durchlässige und an ebenso paradoxen Stellen hart gepanzerte Seele verfügte. Das genaue Studium dieser ungewöhnlichen Seele ist nun, durch die vorliegende Edition ihrer gesammelten Werke, glücklicherweise so leicht zu unternehmen wie nie zuvor.
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Clemens J. Setz, geboren 1982 in Graz, lebt als Schriftsteller in Wien. Für sein Werk wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Georg-Büchner-Preis (2021) und dem Österreichischen Buchpreis (2023). Zuletzt erschien der Roman Monde vor der Landung (Suhrkamp, 2023).