Spiel mit Filmgeschichte(n)

Von Katharina Müller und Claus Philipp. „Picturing Austrian Cinema!“

Online seit: 31. Dezember 2022

Am Anfang war einmal mehr das Spiel mit der Frage, was das heute noch sein könnte: nationales Filmschaffen. Und die These, dass Filme auch durch ihre Betrachter•innen „sprechen“, sehr unterschiedlich und sehr geprägt davon, ob sie zum Beispiel als Österreicher•innen den Erzählungen und Bildern, die man von ihrem nächsten Umfeld herstellt, nahe sind oder ob sie sich dem österreichischen Filmschaffen von außen nähern.

Etwa 150 Autor•innen wurden 2021 eingeladen, jeweils einen Kader aus der österreichischen Filmproduktion seit 1945 auszuwählen und angesichts des jeweiligen kurzfristig angehalte-nen Laufbilds darüber zu „meditieren, was das Spezifische, vielleicht so-gar speziell zu Österreich Zuordenbare an diesem jeweiligen Bild sein soll – egal, ob dieses aus einem Spiel-, Dokumentar-oder Experimentalfilm stammt“. Auf die Wahl der Bilder und Sujets wollten wir als Herausgeber keinen Einfluss nehmen. Die einzige Zusatzregel, die wir noch aufgestellt hatten, war jene, dass jede•r Filme-macher•in mit nur einem Kader, einem Werk in der entstehenden Textsammlung vertreten sein sollte: Was – Achtung, Mehrfachnennungen von Namen und Werken! – letztlich doch immer wieder zu erneuten Selektionen, Vorschlägen, Abänderungen führte. Rund 250 Filmtitel wurden während der Genese dieses Buches ins Spiel gebracht. Insofern sind die Texte der so dankenswert im Spiel Verbliebenen weniger Resultate einer auf historische Gerechtigkeit oder gar Vollständigkeit bedachten Sammelhaltung als eine Zufallskonstruktion, bei der der Zufall aber nicht selten zu interessanten Schnittmengen geführt hat.

Man sitzt nun also vor den hier zusammengetragenen Beiträgen ein wenig wie vor den 100 Objects to represent the World, die einst Peter Greenaway für eine Ausstellung in Wien zusammengetragen hatte. Oder vor der Geschichte der Welt in 100 Objekten, die der britische Museumskurator Neil MacGregor so süffig (und durchaus instruktiv) kompilierte. Von einem tatsächlich auch nur annähernd repräsentativen Überblick kann und will hier wie da aber nicht die Rede sein.

„Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit sondern die von der Jetztzeit erfüllte bildet.“ – Mit diesem Zitat von Walter Benjamin beginnt schon die bis heute zentrale „Geschichte des österreichischen Kinos von 1945 bis zur Gegenwart“, das Material-und Arbeitskompendium Anschluss an Morgen, 1997 von Elisabeth Büttner und Christian Dewald herausgegeben. Unsere nun, 25 Jahre später, vorgelegte Bild-und Textsammlung liefert gewissermaßen spielerisch Belege, wie sich auch der in diesen 25 Jahren weiter transformierte Blick der Jetztzeit, so wie bereits im Inhaltsverzeichnis von Büttner und Dewald formuliert, in die im österreichischen Film beschworene(n) Geschichte(n), Kontinuitäten, Konflikte, Utopien, Körper, Orte, Gesichter, in Bewegung und Zeit einschreibt. Diese weiterschreibt.

2020 starb – man kann nur betroffen sagen: viel zu jung – der österreichisch-britische Filmemacher, Anthropologe und Mentalitätsforscher Frederick Baker, dem wir diese Anthologie aus mehreren Gründen widmen. Eines seiner Lebensthemen war der beständige Versuch, nachzuvollziehen, was österreichische Identität im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert bedeuten könnte. Welchen Ideologien und Selbsterklärungsmustern sie immer wieder in die Falle ging und was das zum Beispiel bedeutete, als rechtsextreme Wiederholungstäter wieder in die österreichische Bundesregierung Einzug hielten: Widerstand in Haiderland. Oder: Wie zum Beispiel im österreichischen Autorenkino, bevorzugt auch im Avantgarde- und Dokumentarfilm, aber auch in prononcierten Handschriften wie bei Michael Haneke oder Ulrich Seidl bis hin zum sogenannten Kabarettfilm der an sich selbst krankende, sich kränkende Charakter einer Nation sich infrage stellte.

Dazu kommt: Frederick Baker verdankt dieses Buch nicht zuletzt seinen Titel und im Kern auch seine Spielregeln. Picturing Austrian Cinema war ein dreimal veranstaltetes Symposium betitelt, das Baker mit Unterstützung des Österreichischen Filminstituts (das auch dieses Buch ermöglicht hat) an der University of Cambridge konzipiert und gemeinsam mit Annie Ring und im Umfeld anderer britischer Geistes-und Kulturwissenschaftler•innen – darunter Andrew J. Webber, John David Rhodes, Loreta Gandolfi, Allyson Fiddler, Emma Wilson, Erica Carter – veranstaltet hat.

Dort, in Cambridge, ging es um ebendiese betörend schlichte und zugleich vertrackte Versuchsanordnung: Aus einem Kader, gewissermaßen aus einer 24tel-Sekunde heraus mehrfach Facetten einer (trans-)nationalen Produktion aufblühen zu lassen, transparent zu machen. Schon damals, 2014, 2016 und 2018 war es interessant zu verfolgen, dass manche Bildbeschreibungen eher autobiografisch orientiert waren, während andere größere ästhetische und inhaltliche Stränge ins Auge fassten. Wie manche beim Einzelbild nicht stehenbleiben mochten, um dann doch ganze Szenen zu kommentieren.

Auch dieses Buch ist voll solcher Regelbrüche, wie sie vermutlich auch Frederick Baker amüsiert hätten: Manche Texte sind (eigentlich) zu kurz, andere zu lang, manche Künstler•innen wollten mit Gegenbildern auf die Bilder antworten, und einer – Jonathan Meese – spielt das Thema überhaupt über die Bande und thematisiert einen britischen Film, den Dritten Mann. Solche „Freispiele“ sind aber eher dazu angetan, die Spielfreude und den Assoziationsfluss zu erhöhen, die Konstruktion von Geschichte komplexer zu gestalten.

Komplex ist diese Geschichte nicht zuletzt schon insofern, als sich die Quellen der Filme, des Gesehenen weiter diversifiziert haben und die jeweiligen Auseinandersetzungen mit den ausgesuchten (Österreich-)Bildern unterschiedlichen medialen Konstellationen, Kulturtechniken, Wahrnehmungsformen und affektiven Situationen entspringen: So mag die eine ihre Kaderauswahl in Erinnerung an eine weit zurückliegende analoge Filmprojektion im Kino (wo das zu Sehende bekanntlich größer ist als man selbst und kollektiv erfahrbar) getroffen, der andere sein Still in einem Tourbus (!) am mobilen Endgerät – oder in anderer Gemeinschaftserfahrung – ausgewählt haben. Und wieder andere unversehens auf einen Streifen im Archiv gestoßen sein.

Mit Ausnahme jener Werke, für die analoger Film als künstlerische Ausdrucksform konstitutiv ist (etwa bei Viktoria Schmid oder Peter Kubelka) und/oder jener Filmen, die – wider die Illusion ubiquitärer, zeitloser Verfügbarkeit online – schlicht nicht ohne weiteres digital vorzufinden sind (wie etwa das aus unbekannter Hand stammende Fragment aus Wellen schlagen gegen die Küste, beobachtet von einer Frau oder Max Linders Opernball), haben wir die Kader aus Digitalisaten extrahiert: als Quelle für die Abbildungen im Buch also mehrheitlich DVDs, Videos und Files herangezogen. Das ist nicht in erster Linie pragmatischen Erwägungen geschuldet, sondern reflektiert die hybride Situation, in der Filmkultur und Filmrezeption gegenwärtig stattfinden: in ständiger Migration zwischen Formaten, Medien und Plattformen. Und so ordnet, die Illusion von Anfängen, Enden und dem Dazwischen aufrechterhaltend, der von den Autor•innen zu ihrem Still eingeholte Timecode die Texte im Buch – und letztlich das, was sich nicht dingfest machen lässt.

© Spector Books, Leipzig 2022

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Aus: Katharina Müller, Claus Philipp (Hg.)
Picturing Austrian Cinema
99 Filme / 100 Kommentare
Spector Books, Leipzig 2022.
212 Seiten, 100 Abbildungen, € 32

Zu bestellen bei Spector Books