Diagnosen des Doktor Céline

Bericht von einer Lesereise durch eine umkämpfte literarische Landschaft. Von Christoph Winder

Online seit: 22. März 2022
Louis-Ferdinand Céline 1932

Die Exkursion durch Céline-Country, die ich vom Sommer 2021 an unternommen habe, hatte ich nicht von langer Hand geplant. Zwei aktuelle Anlässe waren es, die mich veranlassten, mich just diesem Reiseziel zuzuwenden. Im Juni stieß ich in einer Buchhandlung zufällig auf Tod auf Raten, Hinrich Schmidt-Henkels großartige Neuübersetzung von Louis-Ferdinand Célines Roman Mort à crédit (1936), einer Art Prequel zu seinem 1932 erschienenen Romandebüt Reise ans Ende der Nacht, und griff spontan zu. Wenig später, im August, ging die Meldung von einem Sensationsfund durch die französische und internationale Presse:1 5 324 Seiten von unveröffentlichten Manuskripten Célines, die im Jahr 1944, während der Libération und vor seiner Flucht nach Deutschland und Dänemark, unter sehr mysteriösen Umständen verschwunden waren, tauchten 2020 und 2021 unter nicht minder verworrenen Umständen auf und versetzten die Gemeinschaft der Céline-Fans in Aufregung. Beide Anlässe fachten mein Interesse an, mich wieder mit Céline zu beschäftigen und eventuell Versäumtes nachzuholen.

Mit „wieder“ möchte ich hier nicht den falschen Eindruck nähren, ich hätte mich zuvor nennenswert mit Céline auseinandergesetzt. Vor vierzig Jahren hatte ich Voyage au bout de la nuit für eine romanistische Abschlussprüfung an der Uni gelesen (ich gestehe: auf Deutsch), war damals beeindruckt, aber offenbar nicht beeindruckt genug, um mich näher auf Céline einzulassen. Vielleicht hatte ich auch nicht genügend Zeit, ich musste ein üppiges Lesepensum abseits von Céline bewältigen. In einem Zeitraum von vierzig Jahren hat das Vergessen kräftig zugeschlagen, die von Patrick Süskind eindrucksvoll beschriebene „Amnesie in litteris“, welche dann dazu führt, dass man von einem mehr als tausend Seiten starken russischen oder französischen Roman gerade einmal in Erinnerung behält, dass sich am Ende irgendwer mit einer Pistole erschossen hat.

All dies führte dazu, dass ich meine Céline-Exkursion in Wahrheit als Quasi-Novize begann und mich erst wieder um ein Verständnis der Rolle bemühen musste, die Céline in Frankreich und international spielt. Und die scheint immer noch groß zu sein. Die Reise ans Ende der Nacht taucht in allen möglichen Bestenlisten verlässlich unter den hundert, manchmal gar zehn größten Büchern auf, die je geschrieben wurden.2 Zahllose namhafte Schriftstellerkollegen haben ihm Rosen gestreut, große Rosen, Riesenrosen. Charles Bukowski, pars pro toto, gibt dem Leser in seinen Aufzeichnungen eines Dirty Old Man den Ratschlag: „Zuerst lies Céline, den besten Schreiber in 2000 Jahren.“3 Herr Doktor Destouches starb im Jahr 1961 in der Pariser Vorortgemeinde Meudon an einem Aneurysma; als Louis-Ferdinand Céline lebt er weiter, wenn auch auf eine sehr spezifische und widersprüchliche Weise. Alles nichts Neues. Hier ein paar Notizen dazu.

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Céline zu lesen, gar in der Originalfassung, ist eine Herausforderung, so viel wird dem Leser bei der Lektüre von Tod auf Raten, der deutschen Übertragung von Mort à crédit, schnell klar. Herausforderung nicht nur für jene, die Wert auf romantische Liebesgeschichten und ein Happy End legen, die werden sie bei Céline nicht finden. Célines formale Innovationen wirken zwar in einer Zeit, da emsige Weltverbessernde Texte mit Sternchen, Unterstrichen und Doppelpunkten übersäen, weniger ungewohnt als anno dazumal – herausfordernd bleiben sie dennoch. Die Reise an Ende der Nacht ist, die Satzzeichen betreffend, in relativ konventioneller Manier geschrieben. Von 1936 an kultiviert Céline in seinem Romanwerk eine sukzessiv eigenwilliger werdende Interpunktion, charakterisiert in erster Linie durch seine berühmten drei Punkte, mit denen er Sätze (und Satzfetzen) anstatt mit einem einfachen Punkt voneinander trennt oder, wenn man es so lesen will, miteinander verbindet. Dazu kommt ein verschwenderischer Gebrauch des Rufzeichens, das er oft über Seiten hinweg hinter jedem Satz (oder Satzfetzen) ins literarische Spiel bringt. Über die stilistischen Valeurs dieser Eigenwilligkeiten sind Bibliotheken geschrieben worden. Gleich zu Beginn seines Romans Guignol’s Band imaginiert Céline selbst mutmaßliche Reaktionen der Leserschaft auf die orthographischen Freiheiten, die er sich genommen hat: „Aber da, ach du Elend! der Freigeist! Und die drei Pünktchen. Oje, Ihre drei Pünktchen! Wieder überall! ein Skandal! Er verstümmelt uns unsere französische Sprache! Das ist die Niedertracht! Ins Gefängnis! Geben Sie uns die Pinke zurück! Sie Miesling! er verletzt all unsere Sprachregeln! Das Miststück! Das ist himmelschreiend!“4 Ich habe tatsächlich jemanden kennengelernt, der nach dem Kauf von Tod auf Raten zwar nicht „die Pinke“ zurückverlangte, aber aus anhaltender Unlust, sich an Célines orthographische Extravaganzen zu gewöhnen, die Lektüre eingestellt hat.

„Céline ist ein großer Befreier“, sagte Philip Roth, „ich fühle mich von seiner Stimme gerufen.“

Das Vokabular aus der „populären“ Sprache und dem Argot, aus dem Céline ununterbrochen schöpft, scheint die Lektüre seiner Romane selbst für französische Muttersprachler zur anspruchsvollen Aufgabe zu machen. Der Pléiade-Ausgabe von Voyage au bout de la nuit und Mort à Crédit ist ein mehr als fünfzigseitiges Glossar beigefügt, das jede Menge Wörter enthält, die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in Gebrauch gewesen sein mussten, aber, wie dies häufig bei einem „niedrigen“ Sprachregister der Fall ist, nach einer kurzen Umschlagszeit wieder vom Erdboden verschwanden.5 „Zizi“ („Schniedel“, „Zumpferl“) oder „Poulet“ („Bulle“, „Kieberer“) sind heute noch geläufig, aber „chocotter“ („stinken“, „fäuln“) oder „reluiser“ („geil sein“) finden sich in dieser Bedeutung nicht mehr im Wörterbuch („Petit Robert“). Für die erneute Lektüre der Reise ans Ende der Nacht hatte ich mir einen speziellen Zugang erarbeitet: Durchlesen eines Kapitels in der deutschen Übersetzung, danach Lektüre desselben Kapitels im französischen Original bei gleichzeitigem Anhören eines vom Schauspieler Denis Podalydès eingelesenen Audiobooks, das es gratis auf YouTube gibt: eine aufwendige und lohnende Prozedur, aber nur für wirkliche Streber.

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Als ich die Reise ans Ende der Nacht wieder las, kam mir mehrfach die durch ihre Sozialreportagen bekannt gewordene US-Journalistin Barbara Ehrenreich in den Sinn. Ehrenreich war im Jahr 2000 mit Brustkrebs diagnostiziert worden und stellte im Zuge ihrer Therapie fest, dass sich „die Brustkrebsszene nicht nur durch eine betonte Fröhlichkeit und das Fehlen jeden Aufbegehrens auszeichnet, sie scheint die Erkrankung oft sogar zu begrüßen.“ 1975, berichtet Ehrenreich, trat Betty Rollin, Korrespondentin des US-TV-Senders NBC, mit ihrer Krankheit an die Öffentlichkeit und verriet dem Publikum, dass ihr Brustkrebs „mehr als alles andere die Quelle meines Glücks gewesen ist.“ Der Radrennfahrer Lance Armstrong (Hodenkrebs) fand: „Krebs war das Beste, was mir je passiert ist“, und von einer an inoperablem Eierstockkrebs laborierenden Dame war dieses zu hören: „Sie werden es glauben oder nicht, aber ich bin jetzt glücklicher als vor der Diagnose“. Als Ehrenreich selbst im therapeutischen Sesselkreis dazu ermuntert wurde, ihren Krebs als ein „Geschenk“ zu begreifen, ergriff sie ein Groll, den sie einige Zeit später in einer buchlangen Attacke gegen sprachliche Beschönigungskünste verarbeitete.6 Das positive Denken, das die Verantwortung über das Ge- oder Misslingen des Lebens zur Gänze dem Einzelnen überantwortet, erscheint ihr als ein fatales Instrument „zur Rechtfertigung für die brutalen Züge der Marktwirtschaft“. Auch als empathisch nachvollziehbare Machination, die der subjektiven Krankheitsbewältigung dienen soll, mag Ehrenreich das „positive Denken“ nicht gelten lassen, weil es das für den Kranken unzumutbare Risiko birgt, sich zusätzlich zur Belastung durch sein körperliches Leiden auch noch mit Selbstvorwürfen plagen zu müssen, wenn aus der Genesung nichts wird.

Ich zitiere Ehrenreichs Bericht, weil mir die darin geschilderten sprachlichen Verfahrensweisen wie der radikalste Gegenpol zu jenen Verfahrensweisen vorkommen, deren Céline sich befleißigt. Als Nicht-Spezialist kann ich nicht ermessen, wie trostreich der real ordinierende Herr Doktor Destouches in seiner Praxis mit seinen Patienten verkehrte. Fraglos ist es aber so, dass sein Alter Ego Ferdinand Bardamu, der in seinen Romanen zigfach in ärztlicher Mission auftritt, nicht zur sprachlichen Verniedlichung neigt. „Dieser Abbé hatte ganz schön üble Zähne, schlecht und braun waren sie, voller Bogen von grünlichem Zahnstein, kurz, die schönste eitrige Parodontitis.“ Die Konfrontation mit dem Gebiss eines verwahrlosten Pariser Vorstadtgeistlichen veranlasst Bardamu zu Reflexionen über das Sprechen und die körperliche Beschaffenheit des Menschen überhaupt: „Der mechanische Aufwand, den wir für ein Gespräch treiben müssen, ist viel komplizierter und mühsamer als für die Ausscheidung. Dieser Kranz aus vorgestülptem Fleisch, der Mund, wie er da zuckt beim Pfeifen und Atmen, wie er sich anstellt, um allerlei schleimige Töne durch das stinkende, kariöse Gehege zu schaffen, die reinste Strafe! Aber es heißt immer, wir sollen das zum Ideal erheben! Schwierig. Schließlich sind wir nichts als Säcke voll lauwarmer, halb verfaulter Innereien.“7 Céline präsentiert schon den Sprechakt des Gesunden als eine ekelhafte anatomisch-ontologische Veranstaltung. Erst recht käme er nicht auf die Idee, dass Krankheit „das Beste im Leben“ sein könnte, eine „Quelle des Glücks“ oder „ein Geschenk“. Solche Behauptungen fände man bei ihm nur im zynischsten Sinn vorgetragen. Zum Ideal wird hier gar nichts erhoben.

Mit seinen drei rabiat antisemitischen Pamphleten zog Céline einen fetten braunen Strich quer über alles, was in seinen Romanen anarchistisch und pazifistisch gewirkt haben mochte.

„Der Roman ist brutal, sowohl wegen seinem Stil als auch seines Inhalts wegen“, schreibt der Kritiker Lucien Wahl im Oktober 1932 kurz nach dem Erscheinen der Reise ans Ende der Nacht.8 Freilich erscheint die Brutalität der Reise ans Ende der Nacht auch als ein Versuch, sich gegen