Es beginnt rasant: „Das Deutsche Parlament in die Luft sprengen?“, so lautet der erste Satz – wer fragt sich das? Haben wir es mit einem Roman aus der Täterperspektive zu tun? Nein: Schnell wird klar, dass der Protagonist Paul Jost kein Täter ist, er ist auch kein Akteur: Er mag keine Entscheidungen.
Die treibende Kraft des Romans ist die Bedrohung eines möglichen Anschlags. Es gibt Hinweise darauf, dass Islamisten terroristische Anschläge in Deutschland planen, der Krisenstab tagt. Teil dieses Krisenstabs ist auch Paul Jost, der der G10-Komission Argumente für oder gegen bestimmte Abhör- und Überwachungsmaßnahmen liefern muss. Er sieht in dieser Bedrohung die Chance, sich beruflich zu beweisen und endlich Verantwortung übernehmen zu können. Bereits auf den ersten Seiten wird klar, dass seine beruflichen Ambitionen durch die Erwartungen seines Vaters motiviert sind: „Mein Vater hat mich nie ernst genommen“, klagt er, und: „vielleicht werde ich irgendwann mit meinem Vater unter der üppigen Stuckdecke essen und mein Vater wird stolz auf mich sein“.
Auch im Privatleben ist Paul Jost noch nicht am Ziel bzw. ziellos. Frisch geschieden ist er gerade in eine neue Wohnung in Nähe des Berliner Regierungsviertels gezogen, in ein Haus, in dem die einzelnen Bewohner lieber unter sich bleiben (viele Anwälte) und bei dem es keine hippen Cafés um die Ecke gibt (ein guter Grund für eines seiner Online-Dates, ihn nicht weiter zu treffen). Sein bisheriges Leben scheint ihm einfach zu passiert zu sein, er selbst beschreibt seine Lebenssituation mit folgender Metapher: „Ein Krümel fliegt vor ihm auf, streift den Gehweg, taumelt in der Luft. So fühlt er sich für einen Moment, so taumelnd, in der Luft schwebend.“ Paul Jost hat kein eigenes Ziel, er ist bestimmt von äußeren Umständen, von den Aktionen und Erwartungen anderer. Seine Ex-Frau Gesine wird nach einem ersten Date unerwartet schwanger, er bleibt einfach. Er richtet sich nach ihrem Motto: „Man heiratet, kriegt Kinder, bleibt zusammen.“ Bis sie sich nach dem zweiten Kind doch trennen, denn für Gesine ist Paul zu sehr „Möglichkeitsmensch“. Seine Kinder spielen keine große Rolle. Gesine muss ihn daran erinnern, dass er auch als Vater eine Verantwortung besitzt. Seine Tochter muss seine Aufmerksamkeit einfordern, kommt überraschend mit einer Freundin zu Besuch, ruft ihn unangekündigt auf der Arbeit an.
Auch sprachlich wird die Passivität des Protagonisten verdeutlicht, wenn ihm seine Ex-Frau und sein Vater immer wieder „einfallen“, oder er sich im Laufe des Romans 9-mal „zurücklehnt“. Er ist eher der beobachtende Typ, scannt die Menschen nüchtern: „Seine Sekretärin steht in der Tür, huscht ins Büro. Blonde, zurückgesteckte Haare, sehr freundlich (…)“, „die zuständige Sekretärin: schnippischer Tonfall, strenger Blick, elegante Pumps“, „Etwas kleiner als er ist sie. Halblange dunkelblonde Haare. Brille.“
Kurze Sätze, Präsens, abrupte Szenenwechsel und Zeitsprünge – wir begleiten den beobachtenden Paul Jost durch Berlin, durch das Kanzleramt, durch Bars, ins Kino und in Konzerthallen: Diese Erzählweise, gepaart mit der stetigen Bedrohung, die latent präsent zu sein scheint, lässt einen Sog entstehen: die 160 Seiten lassen sich gut und schnell lesen. Die Spannung verpufft aber im letzten Drittel, als die Wohnungen der Verdächtigen gestürmt werden, nachdem eine Überwachung den Verdacht erhärtet hat – Paul Jost wurde in die Entscheidung über die Überwachung allerdings nicht miteinbezogen, er hat kaum einen Anteil an der Verhinderung des Anschlags.
Ute-Christine Krupp, die bisher vor allem Erzählungen und Hörspiele, aber vor 20 Jahren auch schon einen Roman veröffentlicht hat, bewahrt stets eine Distanz zu ihrem Protagonisten, nennt ihn konsequent beim Vor- und Zunamen. Generell bleibt die Figur blass und schwer zugänglich. Dass er sich in Clarissa (ebenfalls eine Frau, die ihm so zufällt, er lernt sie durch einen Freund kennen) verliebt hat, erfahren wir nur dadurch, dass seine Tochter ihm sagt, dass man ihm das ansehe. Beruflich verteidigt er das Grundrecht der Freiheit, wie er es im Studium gelernt hat, privat sehnt er sich einerseits nach Freiheit, andererseits nach gewohnten Abläufen und Sicherheit: Die Tagessschau sieht er sich regelmäßig an und am Familienleben vermisst er vor allem, dass die Nussnougatcreme und das gesunde Vollkornbrot auf dem Frühstückstisch standen, denn seitdem Frau und Kinder ausgezogen sind, gibt es nur noch Toast mit Butter.
Im Roman beschreibt Paul Jost Berlin als eine „Stadt wie ein offener Raum, alles in Bewegung. Ich bin in den neunziger Jahren nach Berlin gezogen, sich für mich mit dieser Stadt die Hoffnung verband, die richtige Lebensform zu finden“. Vielleicht ist das eines der großen Themen dieses Buches. Die Suche nach der richtigen Lebensform für sich selbst, immer eingebettet in die Erwartungen anderer Menschen. Beruf oder Liebe? Sicherheit oder Freiheit? Läuft man Gefahr, wenn man zu viel „zweifelt, hinterfragt, zögert, hadert“ (eine Selbstbeschreibung des Protagonisten), im Grunde inhaltslos zu werden, uninteressant, ohne Tiefe?
Der Roman deutet viele Themen an: das Wechselspiel von Freiheit und Sicherheit, das Verhältnis von Privat- und Berufsleben, die Anonymität der Großstadt und im Online-Dating, die Gefahren zu vieler Möglichkeiten. Doch parallel zum Protagonisten Paul Jost bleibt alles etwas oberflächlich, wird nichts richtig vertieft. Kann man dem Roman vorwerfen, dass er genauso unbestimmt bleibt wie seine Hauptfigur? Dass er sich nicht entscheiden kann oder will, was er ist und welches Thema im wichtig ist? Es ist zu viel und gleichsam zu wenig, zu viele Fragen, zu wenig Tiefe – diese Widersprüchlichkeiten darzustellen, kann eine Intention des Romans sein, ein nachhaltiges Leseerlebnis bietet er aber nicht.
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