Belletristische Judaica

Grenzgänge der Literatur V – Aktuelle Leseerfahrungen mit Mendele Moicher Sforim, Danilo Kiš und Olga Tokarczuk. Von Felix Philipp Ingold

Online seit: 18. Mai 2020
Olga Tokarczuk © Lukasz Giza
Olga Tokarczuk: Geschichtliche Tatsachen mutieren zu virulenten Metaphern.
Foto: Łukasz Giza

„Den Klugen zum Gedächtnis … den Laien zur erbaulichen Lehre“

Olga Tokarczuks Jakobsbücher

Für ihr erzählerisches Gesamtwerk, aber doch wohl im Besondern für ihr jüngstes Opus magnum, Die Jakobsbücher (2014, deutsch: 2019), ist die polnische Autorin Olga Tokarczuk im vergangenen Jahr – erinnert man sich?! – mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet worden. Binnen kürzester Zeit erschienen in der Folge zahlreiche Besprechungen der Jakobsbücher, die auf rund 1200 Druckseiten die Persönlichkeit, die private und politische Umgebung, die ausgedehnten Reisen, die oft skandalösen Auftritte und die absonderlichen Lehren des multikonfessionellen Sektenführers Jakob Frank (Jaakow ben Jehuda Leib, 1726–1791) vergegenwärtigen.

Die ausufernde Untertitelei zu den Jakobsbüchern exponiert nicht nur die räumliche und geistige Reichweite von Tokarczuks Erzählwerk, sie gibt auch Auskunft über die Art und Weise der Niederschrift sowie über die Publikumswirkung, auf die der Text angelegt ist: „Eine große Reise | über sieben Grenzen | durch fünf Sprachen | und drei große Religionen | die kleinen nicht mitgerechnet || Eine Reise, erzählt von den Toten | und von der Autorin ergänzt | mit der Methode der Konjektur | aus mancherlei Büchern geschöpft | und bereichert durch die Imagination | die größte natürliche Gabe des Menschen || Den Klugen zum Gedächtnis | den Landsleuten zur Besinnung / den Laien zur erbaulichen Lehre | den Melancholikern zur Zerstreuung.“

Das damalige Verschwinden Polens von der europäischen Landkarte ist für das Land bis heute ein Menetekel geblieben und beeinflusst weiterhin sein politisches Selbstverständnis zwischen West und Ost.

Diese historisch stilisierte Vorrede macht implizit klar, dass Olga Tokarczuk Die Jakobsbücher aus dem Geist und im Sinn des 18. Jahrhunderts zu entfalten gedenkt und dass die vielfach verschlungene, mit manchen Exkursen und zeitgeschichtlichen Dokumenten angereicherte Erzählung eine Innenansicht der Epoche bieten sowie gleichzeitig zu kritischem (wenigstens zu besinnlichem) Nachdenken über sie anregen soll: Das damalige Verschwinden Polens