„Deutsch war die Sprache der Geheimnisse und der Abtreibungen“

Miljenko Jergović zählt seit Langem zu den bedeutendsten Autoren des ehemaligen Jugoslawien. Sein jüngstes Buch, Die unerhörte Geschichte meiner Familie, wurde auch von der deutschsprachigen Kritik hoch gelobt. Barbi Marković hat mit ihm über die Entstehung und Hintergründe des Romans gesprochen.

Online seit: 19. Januar 2018
Miljenko Jergović – Die unerhörte Geschichte meiner Familie
Fotos: Miljenko Jergović – Die unerhörte Geschichte meiner Familie

BARBI MARKOVIĆ Ich lese dein Buch auf dem E-Reader, was denkst du darüber?

MILJENKO JERGOVIĆ Darüber denke ich nur das Schlechteste, muss ich zugeben.

MARKOVIĆ Die digitale Version hat auch keine Bilder am Ende.

JERGOVIĆ Keine Bilder? Nein, das ist etwas, was mich zutiefst abstößt. Es ist super für Wörterbücher und Enzyklopädien. Aber auf so einem Gerät könnte ich nie ein Buch lesen.

MARKOVIĆ Mir ist vorgekommen, dass dieses Buch eine Art Metaroman ist. Immer wieder referenzierst du auf andere Texte, die du als Bücher oder Zeitungsartikel veröffentlicht hast, und es hat eine Struktur, die den Weiterbau erlauben würde …?

JERGOVIĆ Man kann es auch so lesen, aber dieser Roman war eigentlich mein Versuch, einen Familienroman zu schreiben. Weil ich das Genre des Familienromans liebe. Andererseits gehen uns die Familienromane, heutzutage im 21. Jahrhundert, auf die Nerven. In einem klassischen Familienroman (aus dem 19. Jh.) ist alles furchtbar klar, alles ist gerade, logisch und wirkt wie eine vorgeplante Geschichte. Aus meiner Perspektive steht es um eine Familie meistens nicht so. Zum Beispiel liebe ich die Buddenbrooks, aber der Roman bildet mit seiner künstlichen literarischen Form keine echte Familie ab. Das wahre Familienleben und die echte Familiendynamik stehen im Gegensatz zu jeder Ordnung, Aufgeräumtheit. Die Geschichte einer Familie ist die Geschichte einer kompletten Unordnung, eines Chaos, das nicht dafür gemacht wurde, in Ordnung gebracht zu werden. Unsere Gedanken an die Familie sind die Gedanken an eine chaotische Menschengruppe und darüber hinaus eine Ansammlung von chaotischen zwischenmenschlichen Beziehungen. Und ich wollte ein Buch schreiben, das sowohl von der Form als auch vom Inhalt her dieses Gefühl der Unordnung behalten würde. Gleichzeitig sollte der Roman als Buch lesbar bleiben und kein Problem für den Leser darstellen.

MARKOVIĆ Das sogenannte Chaos scheint ziemlich durchorganisiert zu sein. Die vielen Anfänge und Wiederholungen wirken nicht zufällig, und das Ganze ist gleichzeitig lesbar und kompliziert. Wie hast du das gemacht? Hast du eine Wand mit Zetteln wie in Detektivfilmen?

JERGOVIĆ Ich hatte ein Heft. Nachdem ich schon einige Sachen geschrieben hatte, habe ich in diesem Heft tatsächlich die Form des Romans gezeichnet. Danach habe ich begonnen, das Buch nach diesem Plan zu verwirklichen.

MARKOVIĆ Wie sieht diese Zeichnung aus?

JERGOVIĆ Es sieht wie ein asymmetrischer Plan einer mittelalterlichen Stadt aus. Mit Türmen und Wänden. Aber auch wie ein Stern mit sieben ungleichen Armen. Dieser Aufbau diente einerseits dazu, das Chaos der Familie lesbar zu machen. Gleichzeitig bildet der Stern noch etwas ab, was mir beim Schreiben wichtig war: die verschiedenen Genres.

MARKOVIĆ Warum waren die verschiedenen Genres wichtig?

JERGOVIĆ Eine Familie ist nicht nur eine Geschichte. Eine Familie ist ein Dokument. Eine Klage. Ich habe versucht, diese unterschiedlichen Textsorten zu simulieren: Polemik, Roman etc. Im ersten Text des Buches befindet sich zum Beispiel beinahe das ganze Buch. Das habe ich nicht gemacht, um den faulen Lesern die Arbeit zu ersparen. Die Idee war, die Geschichte zu erzählen, die erst als große Geschichte erzählt werden wird. Wie ein optisches Spiel, eine Fata Morgana.

MARKOVIĆ Der Erzähler steckt am Anfang in einem merkwürdigen „Wir“, das teilweise über die Ereignisse berichtet, die vor deiner Geburt stattgefunden haben. Ein „Wir“, das aus Personen zusammengebaut wurde, die nicht gleichzeitig existiert haben. Wer ist „wir“?

JERGOVIĆ „Wir“ ist die Familie. Aber nicht nur das „Wir“ ist merkwürdig. Auch das „Ich“ im Buch erlebt und erzählt bestimmte Dinge, die vor seiner Geburt passiert sind. „Ich“ kommt schon am Anfang des 20. Jahrhunderts vor, als mein deutscher Urgroßvater nach Dubrovnik kam. Ich (als Privatperson) wurde jedoch erst 1966 geboren. Trotzdem war ich gewissermaßen damals schon da. Durch die Familienerzählungen und Überlieferung erlebst du all das, was vor dir passiert ist, was Mutter, Vater, Oma und Opa passiert ist, als etwas, was auch dir passiert ist. Du hast es schon so internalisiert, es hat sich in dein Bewusstsein so tief eingeritzt. Es wurde dir so oft erzählt und du hast es dir selbst so oft erzählt, dass es so wirkt, als hättest auch du damals gelebt.MARKOVIĆ Hat man in deiner Familie immer schon viel über die Familienvergangenheit erzählt? Oder musstest du hinter deren Rücken recherchieren?

JERGOVIĆ Es herrschte eine Kombination aus einer großen Gesprächigkeit und Geheimnistuerei. Die Geheimnisse waren für dieses Buch wichtiger. Wenn meine Mutter und meine Oma mich als Kind alleine zu Hause gelassen haben, habe ich mich als erstes sofort auf ihre Schubladen gestürzt. So habe ich mit neun oder zehn einen zweisprachigen Brief der deutschen Armee gefunden, in dem die Familie informiert wird, dass Mladen Rejc gestorben ist, an dem und dem Tag im Kampf gegen die Partisanen. Jetzt kannst du dir vorstellen, welch Schock das für ein Kind in Jugoslawien war, über seinen Onkel so etwas zu lesen. Zu realisieren, dass sein Onkel der Feind war. Sich zu denken: Wenn mein Onkel der Feind war, dann bin auch ich gewissermaßen der Feind. Wir sind die Feinde. Dabei war ich ein verschlossenes, introvertiertes Kind. Ich habe nicht weiter gefragt. Ich habe nur weiter recherchiert. Und dieses Buch war das Finale der Recherchen, die ich in meiner frühen Kindheit begonnen habe. Neben dem Onkel gab es noch ein paar verbotene Themen, über die man ausschließlich auf Deutsch sprach, damit ich nichts verstünde. Ich bin der Erste in der Familie, der gar kein Deutsch kann. So wurde Deutsch in meiner Familie zur Sprache, die man benutzt, um über Abtreibungen zu sprechen. Deswegen hasste ich Deutsch – als Sprache der Geheimnisse und der Abtreibungen.

MARKOVIĆ Über deinen Urgroßvater erzählt der Roman unter anderem vom Schicksal der Donauschwaben. Im Buch kommen die Deutschen oft als die Fremden und die Migranten vor. Sie versuchen, sich in die Gesellschaft zu integrieren, sie warten in den vorläufigen Unterkünften zwischen zwei Ländern. Hast du dabei an die heutige Situation in Europa/Deutschland gedacht? Wolltest du uns etwas mitteilen?

JERGOVIĆ Das habe ich auf keinen Fall im Sinne gehabt. Ich dachte nicht, dass dieses Buch übersetzt wird. Wenn du ein tausendseitiges Buch schreibst, musst du damit rechnen, dass wenige Menschen es lesen werden, dass du nur schwer einen Verlag finden wirst und dass es nicht übersetzt und dadurch in keiner weiteren Sprache veröffentlicht wird. Dieses Buch behandelt aber tatsächlich große deutsche Themen (da mein Urgroßvater ein Deutscher war). Unter anderem ein Thema, das so faszinierend ist, dass ich darüber noch ein zusätzliches Buch schreiben könnte: Es handelt sich um die Episode mit den Deutschen in Sarajevo. Im Zentrum von Sarajevo befand sich nach dem Zweiten Weltkrieg eine Art Konzentrationslager, in dem die Donauschwaben vier Jahre verbringen mussten, bevor Deutschland sie wieder aufgenommen hat. Das sind „unsere“ Deutschen, die aus Jugoslawien vertrieben wurden, weil sie dem Volk des Feindes angehört haben. Das ist eine schreckliche Geschichte. Gleichzeitig kamen damals Ingenieure aus Ostdeutschland, um die Bahn neu aufzubauen. Als freie Menschen. Diese zwei Klassen von Deutschen lebten parallel zueinander am gleichen Ort zur gleichen Zeit. Das ist ein großes Thema.

MARKOVIĆ Du hast also dieses Projekt mit neun Jahren begonnen und jetzt vor ein paar Jahren abgeschlossen. Welche Gefühle hast du inzwischen diesem Werk gegenüber?

JERGOVIĆ Es ist ein merkwürdiges Gefühl. Ich habe das Buch eigentlich noch nicht fertiggeschrieben. Als müsste ich jetzt noch zehn Bücher schreiben, um alle Stränge abzuschließen. Das ist das Problem mit einer Familiengeschichte. Du kannst sie das ganze Leben lang schreiben, ohne sie jemals abzuschließen. Ich habe in diesem Buch nur eine Kurzversion geliefert. Vieles hat sich beim Schreiben geöffnet. Und vieles ist offengeblieben.

MARKOVIĆ In diesem Buch werden nationale Identitäten (in ihrer ganzen Brüchigkeit) auf vielen Hunderten von Seiten verhandelt. Das ist ein Schwerpunkt, den ich persönlich gerne mal im Leben beiseitelegen würde, da ich meine eigene nationale Identität gar nicht wirklich akzeptiere (soweit mir das möglich ist). Muss man sich ununterbrochen damit beschäftigen?

JERGOVIĆ Da sind wir gar nicht so unterschiedlich. Du bist eigentlich jemand, der im Leben zur Gänze von der nationalen Identität bestimmt ist, der jeden Tag darüber nachdenken muss.

MARKOVIĆ Na ja, jeden Tag …?

JERGOVIĆ Weil du, anstatt schön in Belgrad zu sitzen …

MARKOVIĆ In Armut …

JERGOVIĆ … nach Österreich gegangen bist, wo du gar nicht leben kannst, ohne in jeder Sekunde zu wissen, wie fremd du bist. Nicht weil die anderen das wollen, sondern wegen deiner Muttersprache.

MARKOVIĆ Zum Teil kann ich dir recht geben …

JERGOVIĆ Aber zwischen uns gibt es tatsächlich einen Unterschied. Meine Einstellung vor den 90er-Jahre-Kriegen war im Großen und Ganzen das, wovon du redest. Ich wusste zwar, welche Nationalität ich habe bzw. aus welchen unterschiedlichen Nationalitäten ich zusammengesetzt bin, aber viele andere Sachen waren mir wichtiger.

MARKOVIĆ Dann kam der Krieg …

JERGOVIĆ Und dann kam der Krieg. Und als die Granaten nicht nur auf Sarajevo, sondern auf mein Haus und auf meinen Garten zu fliegen begannen, wurde das ein wichtiges Thema, das Thema, das über Leben und Tod entscheidet. Es waren die Granaten, die manche Serben auf manche Muslime geschossen haben. Ich war aber kein Muslim oder Bosniake, und in meiner Umgebung waren noch ein paar befreundete Serben. Wir hatten sozusagen das muslimische Karma auf uns genommen. Plötzlich wird diese Geschichte wirklich wichtig und interessant, weil es in solchen Situationen auch zu deiner Pflicht wird, in deinem Leben und in deinem Kopf die Vernunft aufrechtzuerhalten und sie auch bei deinen Nächsten und deinen Freunden zu pflegen. Das Problem zu erkennen. Und damit kommen wir wieder zu den Ähnlichkeiten …

MARKOVIĆ Das stimmt. Das Problematische entgeht mir auch nicht. Zum Beispiel erfährt man aus deinem Buch, wie man eine bestimmte Nationalität bekommen kann. Ich meine damit die Szene, in der dein deutscher Großvater dank der Angst seines Sohnes zum Kroaten wurde.

JERGOVIĆ Rudi hat ihn als Kroaten totgemeldet. Aus Angst, weil es im Jahr 1950 in Jugoslawien nicht unbedingt von Vorteil war, ein Deutscher zu sein. Rudi war ein bisschen feig, vielleicht war der Beamte, der das Formular ausgefüllt hat, streng und furchteinflößend, und Rudi hat sich nicht getraut zu sagen, dass sein Vater Deutscher war. So wurde Karlo Stubler, der sein Leben lang als Deutscher gelebt hat (was ihm anders als heutigen Nationalisten nicht nach außen, sondern intim wichtig war), in seiner Todesurkunde zum Kroaten.

MARKOVIĆ Nun ist die Übersetzung erschienen. Im Original heißt das Buch Rod (das Wort ist mehrdeutig und heißt: Verwandtschaft, Gattung, Frucht). Dieses massive Wort „rod“ wurde durch einen lockeren, schweijkschen Titel übersetzt, warum?

JERGOVIĆ Über den Titel habe ich mich mit meiner Übersetzerin und anderen Menschen beraten. Im Deutschen ist es anscheinend unmöglich, alle Bedeutungen des Wortes „rod“ mit einem Wort abzudecken, deshalb habe ich mich entschieden, einen gegensätzlichen Weg zu gehen und der deutschen Übersetzung einen spielerischen Titel zu geben. Dieser Titel entspricht einem der wichtigen Erzähltöne des Romans.

Barbi Marković, geboren 1980 in Belgrad, lebt als Schriftstellerin in Wien. Zuletzt erschienen Ausgehen (Suhrkamp, 2009), Graz, Alexanderplatz (Leykam, 2012) und Superheldinnen (Residenz 2017). Für ihr Werk wurde sie mit dem Literaturpreis Alpha und dem Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis ausgezeichnet.

Miljenko Jergović, geboren 1966 in Sarajevo, lebt als Schriftsteller und Journalist in Zagreb. Seine Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Auf Deutsch erschienen zuletzt die Romane Wolga, Wolga (Schöffling, 2011) und Vater (Schöffling, 2015).

Quelle: VOLLTEXT 3/2017 (12. Oktober 2017)

Online seit: 19. Januar 2018

Miljenko Jergović: Die unerhörte Geschichte meiner Familie. Roman. Schöffling, Frankfurt am Main 2017. 1144 Seiten,
€ 34 (D) / € 35 (A).