Schwäbisches Capriccio

Von Anšlavs Eglītis

Online seit: 29. Juli 2024
Anšlavs Eglītis
Anšlavs Eglītis. Foto: Academic Library of the University of Latvia

Der lettische Schriftsteller Anšlavs Eglītis (1906–1993) floh 1944 vor der heranrückenden Roten Armee nach Deutschland, wo es ihn zuerst nach Berlin und von dort in die süddeutsche Provinz verschlug – eine Erfahrung, die sich auch in seinem Schwäbischen Capriccio niederschlägt.

* * *

Pēteris Drusts döste vornübergebeugt im Zug. Alles Erlebte erschien ihm wie ein sinnloser Albtraum: das brennende Berlin, die Flucht durch die Flammen, das Umherirren in den Trümmern, der Ansturm auf die Züge, die langen Nächte in den überfüllten Waggons, das endlose Warten, mal auf offenem Feld, mal in zerstörten Bahnhöfen, wo in allen Ecken der Wind pfiff und Schnee umherwirbelte. Drusts war bereits die vierte Nacht unterwegs. Von jeder Endstation war er mit dem ersten Zug weiter nach Südwesten gefahren, in Richtung Rhein und Schweizer Grenze.

Der Zug hatte die großen Städte hinter sich gelassen, und nun ging es, soweit es sich anhand der langsamen Fahrt und des schweren Keuchens der Lokomotive beurteilen ließ, durch eine bergige Gegend. Im Waggon herrschte Dunkelheit, nur das Glimmen von Zigaretten war zu sehen. Ganz Deutschland lag in dichter undurchdringlicher Finsternis. Die Bürger waren folgsam und gewissenhaft: Man konnte hunderte Kilometer fahren, und nirgends drang ein einziger Lichtschein durch den Spalt einer nachlässig vorgezogenen Verdunklung hervor. Nur in den Bahnhöfen warfen fahle Birnen gespenstisches Licht auf schmale Bahnsteige, auf denen sich die Menschen drängten wie graue Schatten.

Der Name Pfifferlingen gefiel ihm, warum sollte er also nicht dorthin fahren?

Irgendwo hier sollte er aussteigen, dachte der zu Tode erschöpfte Drusts. Aussteigen, einen Gasthof suchen und endlich eine Nacht in einem Bett verbringen. Aber an welcher Station? Dies war eine wichtige Hauptstrecke, und die Bahnhöfe konnten jederzeit zum Ziel von Luftangriffen werden. Statt wie erhofft in einem Bett auszuschlafen, würde er dann nur wieder in einem Schutzraum herumlungern. Wo ließ sich jetzt in ganz Deutschland bloß ein sicheres und ungestörtes Nachtquartier auftreiben?

Drusts presste die Hände gegen seine Schläfen und drückte die Stirn gegen die Fensterscheibe. Auf dem Nebengleis standen, im Dunkel kaum zu erkennen, eine kleine altertümliche Lokomotive und ein paar ebenso eigenttümliche Reisezugwagen, offenbar der Zug einer kleinen Nebenstrecke zu einer vollkommen unbedeutenden Ortschaft.

Einer plötzlichen Eingebung folgend sprang Drusts auf, stolperte aus dem Waggon hinaus ins Dunkel und tastete sich zu dem kleinen Zug hinüber.

Der große Schnellzug fuhr weiter, während der kleine Zug noch wartete und sich langsam mit dick eingemummelten Gestalten füllte, die gegeneinanderstießen, dann und wann ein Streichholz entzündeten oder eine Taschenlampe aufleuchten ließen. Dabei unterhielten sie sich leise in einem so merkwürdigen Dialekt, dass Drusts, obwohl des Deutschen durchaus mächtig, nur mit Mühe einzelne Wortfetzen aufschnappen konnte.

Drusts trug einen guten, noch in Riga geschneiderten Mantel, bei dem nur der Persianerkragen durch die Brände in Berlin leicht angesengt war.

Als sich der kleine Zug endlich unter Pfeifen und Bimmeln in Bewegung setzte, sprang noch ein verspäteter Reisender auf. Vorsichtig knipste er eine Taschenlampe an und lenkte ihren bläulichen Schein auf den freien Sitz neben Drusts. Dort ließ er sich schwerfällig nieder und