Was bleibt, sind die Bilder

Lektürenotizen von Anna Felnhofer zu Witold Gombrowicz, Marina Zwetajewa, Christa Wolf, Annie Ernaux, Tove Ditlevsen, Vladimir Nabokov, Edward Stachura und Christa Wolf.

Online seit: 24. Juli 2024

Witold Gombrowicz: Kosmos
Für gewöhnlich sind es Bilder, die ich aus Büchern mitnehme. Ich trage sie mit, und der Verstand knetet an ihnen, jahrelang, lässt sie wuchern und sich wandeln, so lange, bis sie mit dem Original nicht mehr zusammenzubringen sind. Nicht so bei Gombrowicz’ gehängtem Spatzen. Er hängt, ich prüfe es nach, noch immer so, wie er vor fünfzehn Jahren, als ich Kosmos zum ersten Mal auf Polnisch gelesen habe, dort in der Tatra gehangen war, die Drahtschlinge um den Hals, das Köpfchen geknickt, der Schnabel aufgebrochen – ein Zeichen, Symbol, Metapher, vielleicht Warnung. Ein Vorwand, jedenfalls, den Versuch des Ordnens, Einordnens, der existenziellen Ermächtigung zu wagen. Dieser Versuch beherrscht nicht nur die Protagonisten, er beherrscht den Text. Die Suchbewegungen des Inhalts greifen mit jener der sprachlichen Form ineinander, so elegant, leichtfüßig, so zwingend – und verweisen damit zuletzt auch auf den Vorgang des Erzählens selbst:

„Der Pfeil zum Beispiel … Dieser Pfeil zum Beispiel. Dieser Pfeil damals beim Abendessen war gar nicht wichtiger als Leons Schachspiel, die Zeitung oder der Tee, alles – gleichrangig, alles fügte sich zum gegebenen Augenblick zusammen, eine Art Zusammenklang, das Gesumme eines Schwarms. Heute aber, ex post, weiß ich, dass der Pfeil am wichtigsten war, also hebe ich ihn in der Erzählung hervor, ich hole aus der undifferenzierten Masse der Tatsachen die zukunftsträchtige Konfiguration heraus. Und wie soll man anders als ex post erzählen? Kann also niemals wirklich etwas ausgedrückt, in seinem anonymen Werden gezeigt werden, wird nie jemand in der Lage sein, das Gestammel des entstehenden Augenblicks wiederzugeben, wie kommt es, dass wir, aus dem Chaos geboren, es doch nie zu fassen kriegen, kaum schauen wir hin, schon entsteht Ordnung unter unserem Blick … und Gestalt.“

* * *

Marina Zwetajewa: Mutter und die Musik
Vor Jahren gelesen und aus aktuellem Anlass wieder hineingeblättert, aber keine Spur mehr gefunden, keinen Faden, ja, nicht einmal den Rest eines Fadens, nichts, das mich zu meiner damaligen Ergriffenheit zurückführen könnte. Gewiss, es gibt sie noch, da sind sie, unbestreitbar, die leuchtenden Stellen. Auch jetzt glänzt und prickelt diese Ich-Prosa, auch jetzt fasst mich die sinnlich erfahrbare russische Kindheit an. Aber weniger. Eher flüchtig und nur von außen, sie durchdringt mich nicht mehr. Auch das ist Teil jeder Leseerfahrung: Manchen Texten entwachsen wir. Und denken an sie zurück wie an alte Bekannte, für die es ihre Zeit und ihren Ort gegeben hat und von denen wir uns jetzt gut verabschiedet wissen.

* * *

Antonio Tabucchi: Sostiene Pereira / Erklärt Pereira
Ein Buch von ausnehmender Langsamkeit, im Italienischen ebenso wie im Deutschen (in diesem vielleicht noch mehr aufgrund des schwerfälligeren Idioms). Dünner Himmel, Hitze, ein Gleißen, dazu immer wieder, den Text wie eine Girlande zierend, Limonade und Kräuteromeletten, alles Ingredienzien einer planen, kantenharten Kulisse, vor deren Lissabonner Hintergrund sich nur langsam eine Bewegung offenbart – und später Risse. In der deutschen Übersetzung so manch schwierige, wenn nicht gar fragwürdige Stelle, ebenso wie diese winzige und zugleich besorgniserregende Verschiebung: Aus dem vereinsamten, sinnsuchenden, glücklosen Helden Pereira walkt die deutsche Version ein behagliches Dickerchen.

Wesentlicher aber ist die Frage, sie stellt sich nicht zum ersten Mal: Erklärt, behauptet, berichtet, beichtet oder bekennt Pereira? Das italienische „sostenere“ eröffnet einen Bedeutungshof, der, je nach Lesart, das Werk auf die eine oder andere, alles andere als triviale Weise moralisch verankert. So oder so ist es am Ende ein Versuch, die Taten Einzelner, die vom Fortschreiten der Ereignisse verräumt werden ins kollektive Vergessen, all diese scheinbar nichtigen Akte der Zivilcourage, denjenigen wieder und wieder vorzuhalten, die das Vergessen wünschen, die nur den Blick nach vorn leisten wollen.

* * *

Annie Ernaux: Der junge Mann
Zum ersten Mal ratlos – und verärgert. Ich bin Annie Ernaux, ich gebe es zu, auf den Leim gegangen, oder in die Falle, oder in die Schlinge oder was auch immer es ist, das sie hier so unverschämt knapp und klein gebaut hat. Zugleich kann sich natürlich, das bleibt unbenommen, auch eine Miniatur als Riese erweisen. Auf den besagten vierzig bis fünfzig Seiten aber findet sich kein Inhalt, keine Substanz, nichts, was in früheren Werken das Einzelfallhafte so kunstfertig ins Allgemeingültige erhoben hat, ich suche vergeblich. Es bleibt die Irritation. Und so mache ich mir, was ich, wie ich nach kurzer Recherche erfahre, mit vielen teile, mehr als über das Buch Gedanken über die Beziehung von Preisen und Ehrungen zu den Gepriesenen bzw. Geehrten, über dieses ebenso fruchtbare wie fatale Verhältnis, auf welches es, wie ich ahne, keine leichtfertige Antwort geben kann.

* * *

Tove Ditlevsen: Gesichter
„Es gibt eine Menge Menschen, aber noch viel mehr Gesichter, denn jeder hat mehrere.“ Nicht immer klicken die Worte in diesem Werk ineinander, nicht immer funktionieren die Metaphern, einige Konstrukte klappern, manche sind kokett, gekünstelt, aber die Gesichter, die sitzen. Die Gesichter, das sind die anderen, das ist die Verlogenheit dieser anderen, das ist die Grausamkeit der Gesellschaft im Dänemark der 1960er-Jahre, das ist eine Frau, die keine andere Möglichkeit zur Flucht hat als diese eine – den Sprung, kopfüber, in den Wahn. Und gerade hier, im Grotesken, Surrealen, in dieser wieder neuen Verkörperung in Gestalt der vielköpfigen, vielstimmigen Hydra, gewinnt ihre Zwangslage an Schlagkraft. Sätze wie dieser: „Kinder trugen ihr Gesicht wie etwas, in das man hineinwachsen muss, und das einem erst Jahre später passt.“, erlangen nicht zuletzt im Lichte der autobiografischen Kopenhagener Trilogie einen prophetischen Anstrich. Denn was wir jetzt wissen, muss Tove Ditlevsen geahnt haben – dass sie in ihr Gesicht nie hineinwachsen würde.

* * *

Vladimir Nabokov: Das Bastardzeichen
Es ist wie beim Zuckerllutschen, die himbeerrote Süße tupft ein Wohlbehagen in den Mund, kreisförmig dehnt es sich aus, wandert weiter, Zärtlichkeit ist darin, Kindheit, Heimat. Bis es plötzlich knackt. Etwas bricht, bröselt auseinander und offenbart eine bestialische Bitterkeit. Aus ebenjener Unvereinbarkeit, diesem Wechsel aus Liebkosung und Angriff, ist dieser Text gebaut:

„[…] wenn der Schneeball einer Idee von geröteten Schuljungenhänden weiter und weiter gerollt worden ist, wenn er immer größer und schließlich zu einem Schneemann wurde, dem sie einen zerdrückten Zylinderhut schief auf den Kopf setzten und schnell noch einen Besen unter die Achsel steckten – und plötzlich blinzeln die gespenstischen Augen, der Schnee wird zu Fleisch, der Besen zu einer Waffe, und ein ausgewachsener Tyrann köpft die Knaben.“

Eine Dystopie, ohne Frage, man kennt das, und doch ist sie von einer anderen Textur als beispielsweise diejenigen von Orwell oder Kafka, mit denen Nabokov sich nicht verglichen wissen will und dann doch selbst immer wieder vergleicht. Ein klebriges Netz liegt der Konstruktion zugrunde, eine geordnete Wiederkehr bekannter Formen, eine dröge andauernde Gleichförmigkeit, wie sie auch Diktaturen zu eigen ist. Als einziger Ausweg der Figuren erweist sich schließlich das Absurde: Sich selbst als Fiktion zu begreifen, als die bloße Laune eines Autors, in der selbst der Tod nur eine „Stilfrage“ ist. Gerade in diesem Mangel an Antworten, diesem vollständigen Fehlen eines Trostes, steckt, wie es scheint, etwas zutiefst Wahres.

* * *

Christa Wolf: Kassandra
Auch von diesem Buch bleibt ein Bild. Stein, Staub und eine Stute. Und neben dem Bild ein Gefühl – Staunen. Es fasziniert, dass das so widerspruchslos zusammengeht: die Antike und die Moderne. Man kennt diese uralte Geschichte, kennt ihre Figuren, kennt ihr Ende, meint sich in allem heimisch, und doch ist jeder Raum, der hier eröffnet wird, so ungewöhnlich neu, so frisch und hell und hoch. Was sich in früheren Variationen dieses Topos einigermaßen hölzern gibt, ist hier schrankenlos durchlässig. Wir können ohne Mühe in die Figuren hineinkriechen, können uns in ihnen ausbreiten, sie bewohnen, weil sie, wie wir hier erfahren können, sind wie wir heute. Dasselbe Kostüm. Die bekannten Abläufe. Dasselbe Ergebnis. Da stellt sich ein einzelnes Ich gegen das überzählige Wir. Löst dabei nichts auf oder ein. Behält seine Stimme. Spricht stur weiter und wird so zu der Frau, die sie ist. Es beeindruckt die brutale Konsequenz, mit der Christa Wolf diesen Topos so ungewöhnlich und so ungewöhnlich schön durchexerziert. Der Kitzel, sich daran in Form und Inhalt ein Beispiel zu nehmen.

* * *

Edward Stachura: Fabula rasa
Wie sich diesem Werk nähern, das ich nur durch Kindheitsaugen betrachten kann, weil es in meiner Kindheitssprache geschrieben ist. Es gibt keine deutsche Übersetzung, an der sich meine Eindrücke abkühlen könnten. Und so komme ich auch jetzt nach nochmaligem Durchblättern zwingenderweise zu dem Schluss: Hier seziert jemand bei lebendigem Leib sich selbst. Ping-Pong-artig geht es in teils pointierten, teils pathetischen Dialogen hin und her zwischen einem Ich-Menschen (człowiek-Ja) und dem Niemand-Menschen (człowiek-nikt), und beide unterwerfen sie ihren Erkenntnisversuch einem rabiaten Erschaffen und Zerstören. Es stecken Ausschweifung, Entgrenzung und Ekstase in dieser eigensinnigen Skizze, ebenso wie auch, was man erst durch den biografischen Abgleich begreift, eine akute Psychose. Wenig später wird sie Stachura auf die Bahngleise treiben, und er wird statt, wie intendiert, seines Lebens die rechte Hand verlieren.

Fabula rasa ist vielleicht nicht die bequemste Eintrittspforte in das Œuvre Stachuras, aber sie ist meine Pforte gewesen; und der Durchlass zu weiteren Arbeiten wie Jak mi było na Mazurach oder Cała jaskrawość, die eine ganze polnische Generation geprägt haben. Eine delikate Spannung ergibt sich aus der immer wieder betriebenen Verschiebung des Autors gegen seine Figuren, nicht zuletzt auch nach seinem Unfall auf den Gleisen, als er vor allem eines ist: ein Rechtshänder, der, um zu überleben, linkshändig weiterschreibt. Seine letzte Krise bringt ein ebenso bockiges wie brillantes Tagebuch hervor, dessen Titel Pogodzić się ze światem auf zweierlei Weise verstanden werden kann: als Polemik auf Stachuras früheres Schaffen und als Warnung an seine Leserschaft, sich mit dem Leben, solange möglich, doch noch zu arrangieren. Und so wird eine vielleicht künftige deutsche Übersetzung vor der Herausforderung stehen, diese für Stachura so charakteristische Spannung beizubehalten, angefangen von der Frage, ob Pogodzić się ze światem meint, sich mit der Welt abzufinden oder – sich mit ihr zu versöhnen.

* * *

LEKTÜRENOTIZEN
Vom Rezensionswesen erwarten wir, dass es Neuerscheinungen und Neuauflagen zeitnah für die Leserinnen und Leser sortiert. Wir erwarten, dass die wichtigen Bücher (Spitzentitel!!) ausgewählt und ihrem Rang gemäß eingeordnet werden. Wir erwarten Rückgriff auf die Literaturgeschichte, Vergleich mit Zeitgenossen, Darstellung von Realitätsbezug und Aufschlüsselung intertextueller Verweise. Wir erwarten, dass Fairness und Objektivität walten. Alles zu Recht. Allein – diese Haltung zur Lektüre ist hochgradig ungewöhnlich und spielt im Leseleben außerhalb der Feuilletons keine Rolle. Da herrscht die Willkür der Vorlieben und der Aneignung für höchstpersönliche Zwecke. Da liest niemand ein Buch, nur weil es als Spitzentitel im Frühjahrsprogramm von Hanser erscheint, und niemand liest es mit dem Ziel, zu einem kritisch argumentierbaren Urteil zu kommen und den Urheber seinem Rang gemäß abzuspeichern zwischen Handke und Lewitscharoff o. Ä. Was an Assoziationen, Emotionen und Urteilen bei der Lektüre eines Textes entsteht, nimmt auch keine Rücksicht auf literaturkritische Standards. Das macht diese Eindrücke aber nicht weniger interessant, sie sind nur schwerer öffentlich zu kommunizieren. Wir wollen es mit dem Format „Lektürenotizen“ versuchen. Lektürenotizen sind spontan, persönlich, idiosynkratisch. Sie sagen möglicherweise mehr über den Kopf des Lesers/der Leserin als über das Gelesene – was kein Schaden ist, wenn es sich um einen interessanten Kopf handelt. Das Format steht allen Autorinnen und Autoren offen. (red)

Anna Felnhofer, geboren 1984 in Wien, wo sie als Wissenschaftlerin (klinische Psycho­logie) und Schriftstellerin lebt. Ihr literarisches Debüt Schnittbild erschien 2021 im Luftschacht Verlag. Beim diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb wurde sie für ihren Text „Fische fangen“ mit dem Deutschlandfunkpreis ausgezeichnet.

Quelle: VOLLTEXT 3/2023

Online seit: 24. Juli 2024